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Es sind nicht die Schulen

Studien belegen erneut, dass Bildungseinrichtungen bei der Virusverbreitung keine zentrale Rolle spielen. Dass trotzdem hauptsächlich über die Kinder und Jugendlichen diskutiert wird, dürfte vielen Erwachsenen indes ganz recht sein: Denn dann treffen die Corona-Maßnahmen sie selbst weniger stark.

RKI-CHEF LOTHAR WIELER gab sich überzeugt. "Aus infektionsmedizinischer Sicht wäre natürlich eine Schließung ein guter Weg", sagte er Mitte März, gefragt nach der Corona-Lage an Kitas und Schulen. Die Inzidenzentwicklung bei Kindern und Jugendlichen verlaufe "rasant". Und das tut sie immer noch: Zwischen Mitte Februar und Ende März haben sich die gemeldeten Neuinfektionen bei den Unter-15-Jährigen fast vervierfacht – während sie sich in der restlichen Gesellschaft nur verdoppelt haben (siehe Kasten).

 

Ist das die logische Konsequenz der wieder geöffneten Kitas und Schulen – verbunden mit der zuerst in Großbritannien festgestellten, ansteckenderen Virusmutation B.1.1.7? Martin Kriegel, der Leiter des Hermann-Rietschel-Instituts an der Technischen Universität Berlin, wies zuletzt auf Berechnungen hin, denen zufolge jetzt deutlich mehr "Zuluft" in Klassenzimmern nötig sei. Für B.1.1.7 seien nun 105 Kubikmeter virenfreie Luft pro Person und Stunde Aufenthalt erforderlich, "damit die Verdünnung so klein ist, dass sich maximal eine Person ansteckt". 30 Kubikmeter mehr als beim bisherigen Wildtyp. Mit Mund-Nasen-Schutz und geteilten Klassen könne so Unterricht für etwa zwei Zeitstunden stattfinden, erklärte Kriegel. 

 

Haben die Kultusminister
bei der Öffnung übertrieben?

 

Haben die Kultusminister es also bei der Öffnung der Schulen übertrieben? Haben Sie zu viele Kinder und Jugendliche zu lang in die Klassen gelassen – obwohl fast überall nur Wechselunterricht erlaubt ist mit reduziertem Stundenumfang und vielerorts die gesamte Mittelstufe noch komplett zu Hause hocken muss?

 

Das Problem mit solchen Modellrechnungen ist, dass sie viele Annahmen und Festlegungen voraussetzen, die dann das scheinbar so exakte Ergebnis beeinflussen. Zum Beispiel braucht es für die Berechnung eine Aussage, um wieviel Prozent genau ansteckender die Virusvariante ist und wie das Grundniveau vor der Mutation war. Geht man zum Beispiel davon aus, dass Kinder jeden Alters das Virus genauso weiter verbreiten oder – alternativ – dass Schüler in den oberen Klassen häufiger andere infizieren? 

 

Vorsicht vor allzu schnellen Schlussfolgerungen ist also angebracht. Zumal das RKI in einer Analyse selbst noch vor kurzem betont hatte, Schülerinnen und Schüler seien "eher nicht Motor" bei der Verbreitung des Virus. Zwei neue Studien deuten jetzt in dieselbe Richtung.

 

Schulschließungen bringen laut
Oxford-Studie vergleichsweise wenig

 

So hat die Universität Oxford die Lockdown-Maßnahmen in der zweiten Welle in sieben europäischen Ländern ausgewertet und kommt zu dem Ergebnis: Schulschließungen bringen verhältnismäßig wenig für die Eindämmung des Virus. Am stärksten die Übertragungsrate reduziert habe die Schließung des Einzelhandels, der Restaurants, Clubs und so weiter. Ebenfalls sehr wirksam seien strikte Kontaktbeschränkungen, Maskenpflicht und nächtliche Ausgangssperren gewesen. Ganz hinten in der Liste: die Schließung aller Bildungseinrichtungen. 

 

Und eine Analyse der ans RKI gemeldeten Corona-Fälle in der zweiten Welle ergab, dass Lehrkräfte sich bis 8. Januar 2021 nachweislich nur etwa ein Viertel so oft wie zum Beispiel Pflegekräfte mit dem Virus infizierten. Und unter den in Rheinland-Pfalz getesteten 14.594 Kontaktpersonen sogenannter "Indexfälle" (Menschen mit erwiesener Corona-Infektion) in Schulen konnte nur bei 1,34 Prozent eine Ansteckung festgestellt werden.

 

Das Gesundheitsamt Frankfurt am Main, dessen Leiter René Gottschalk zu den Autoren der Auswertung zählte, wertete die Kontaktpersonen von Indexfällen in Schulen sogar getrennt nach Erwachsenen und Kindern aus. Ergebnis: 2,1 Prozent der Erwachsenen steckten sich an und 1,0 Prozent der Kinder. Ebenfalls interessant: Waren Lehrer infiziert, steckten sie dreimal so viele Menschen an wie die Schüler – "und dies", wie es in der Auswertung heißt, "häufig bedingt durch Kontakte zwischen Lehrern". 

 

Plötzlich stellt sich das Bild ganz anders da: Die Schließung von Kitas und Schulen bringt verhältnismäßig wenig für die Eindämmung der Pandemie – was auch logisch ist, wenn man sich das konkrete Infektionsgeschehen an den Schulen anschaut. Das noch dazu einen weiteren Beleg dafür liefert, dass Kinder offenbar seltener das Virus weitergeben als Erwachsene. Und das sehr eindrucksvoll demonstriert, dass auch an den Schulen die Erwachsenen sich viel häufiger untereinander – vor allem vermutlich im Lehrerzimmer – anstecken.

 

Hat sich an dieser grundsätzlichen Lageeinschätzung etwas geändert durch B1.1.7? Auch danach sieht es nicht aus, wenn man relativ neue Zahlen aus Österreich hinzuzieht.

 

Die flächendeckenden Corona-Schnelltests an den Schulen dort zeigten Mitte Februar, dass 385 der getesteten anwesenden 1,014 Millionen Schüler positiv waren und 169 der getesteten anwesenden 142.296 Lehr- und Verwaltungskräfte. Womit die Rate bei den Erwachsene dreimal so hoch lag. Und: Bei 90 Prozent aller positiv getesteten Schüler handelte es sich um Einzelfälle. Nach bestätigenden PCR-Tests ergab sich eine Inzidenz von 72 bei den Schülern und von 101 bei den Erwachsenen. Die Deutsche Gesellschaft für Pädiatrische Infektiologie (DGPI) und die Deutsche Gesellschaft für Krankenhaushygiene (DGKH) kommentierten, sie sähen "in den Ergebnissen ihre mehrfach veröffentlichten grundlegenden Einschätzungen über die untergeordnete Rolle der Schulen im Pandemiegeschehen bestätigt". >>>


Meldezahlen bei Schulkindern auf Rekordniveau

In der vergangenen Kalenderwoche haben sich laut Robert-Koch-Institut (RKI) mehr Kinder und Jugendliche mit dem Coronavirus infiziert als je zuvor. 12.222 neue Fälle verzeichnen die RKI-Datenbanken für die Altersgruppe der 5- bis 14-Jährigen, ein Plus von 37 Prozent binnen sieben Tagen. 

 

Keine andere Altersgruppe kam auf vergleichbare Steigerungsraten. Positiv ist, dass nach Wochen der überdurchschnittlichen Dynamik die Neuinfektionen bei den 0- bis 4-Jährigen mit 22,6 Prozent leicht unter dem Schnitt der Gesamtbevölkerung (23,9 Prozent) zulegten. 

 

Zwischen Mitte Februar (Kalenderwoche 7) und Ende März (Kalenderwoche 12) stiegen die Neuinfektionen bei den 0- bis 14-Jährigen damit insgesamt um 281 Prozent – während sie in den übrigen Altersgruppen um 103 Prozent wuchsen.

 

Morgen werden die nach Altersgruppen gegliederten Testzahlen der vergangenen Kalenderwoche veröffentlicht. In den 

vergangenen Wochen hatten die PCR-Tests bei den Kindern und Jugendlichen stets sogar noch stärker zugelegt als die Neuinfektionen

 

Mit Blick auf die Infektionszahlen der vergangenen Woche ist davon auszugehen, dass die Tests bei den Kitakindern nicht mehr so stark gestiegen sind – während der neuerlich so starke Sprung bei den 5- bis 14-Jährigen auf einen Testrekord hindeutet.

 

Dieser dürfte in dem millionenfachen Einsatz von Schnelltests begründet sein, die wiederum bei Verdachtsfällen zusätzliche PCR-Tests nach sich ziehen. 

 

Inwieweit die Pandemieentwicklung bei Kindern und Jugendlichen in den vergangenen Wochen tatsächlich überdurchschnittlich verlief, ist insofern fraglich. Die unterdurchschnittlichen und gegen den Trend gesunkenen Positivraten bei den 0- bis 14-Jährigen deuten vor allem auf einen starken Testeffekt und eine im Vergleich zu anderen Altersgruppen geschrumpfte Dunkelziffer hin. 



>>> Wie aber passt das alles nun zu den so stark explodierenden Corona-Zahlen unter Kindern und Jugendlichen, die das RKI meldet? Die Antwort: gar nicht. Der Grund: Es gibt die behauptete Corona-"Sonderkonjunktur" bei Kita- und Schulkindern vermutlich gar nicht. Die Meldezahlen haben sich nur deshalb so stark überdurchschnittlich entwickelt, weil parallel die Testzahlen sogar noch stärker gestiegen sind

 

Die "Test"-Konjunktur ist positiv zu sehen, und sie hat zwei Gründe. Erstens: Mit Beginn der Kita- und Schulschließungen waren die Zahlen der wöchentlich auf eine Coronainfektionen getesteten Kinder und Jugendlichen ins Bodenlose abgestürzt – auf teilweise unter ein Drittel. Mit dem Ergebnis, dass die Dunkelziffer mutmaßlich gewaltig wurde. Als die Bildungseinrichtungen dann ab Februar teilweise wieder öffneten, gingen auch die Testzahlen endlich wieder hoch. Zweitens: Die Testzahlen gingen umso stärker hoch, weil die Politik parallel vermehrte Schnelltests an Kitas und Schulen zum Instrument erklärte, um diese sicherer zu machen. 

 

Kitakinder inzwischen mehr getestet werden als
alle anderen noch nicht geimpften Altersgruppen

 

Zuletzt lagen die wöchentlichen PCR-Testzahlen bei Kitakindern hoch wie nie, nur Über-80-Jährige wurden noch häufiger getestet. Auch die Tests bei Schulkindern stiegen enorm und dürften in der vergangenen Woche (die neue Statistik kommt morgen) aufgrund der millionenfachen Schnelltests, denen im Verdachtsfall PCR-Tests folgen, noch einmal einen Sprung nach oben gemacht haben. Die Folge: Aus den Altersgruppen mit der seit Weihnachten wahrscheinlich mit Abstand größten Dunkelziffer sind die am besten ausgeleuchtetsten geworden. 

 

Das relativiert die Dynamik der Fallentwicklung – aber natürlich nicht das absolute Fallniveau. Und hier zeigte sich: Obwohl die Kitakinder inzwischen mehr getestet werden als alle anderen noch nicht geimpften Altersgruppen, liegt ihre Inzidenz immer noch leicht niedriger als der Schnitt der Bevölkerung – und der Abstand wächst.

 

Die 5- bis 14-Jährigen bewegen sich im Gegensatz dazu inzwischen deutlich über der Inzidenz aller Altersgruppen – aber, siehe oben, sie werden auch mit enormen Anstrengungen durchgetestet gerade. Was dazu führte, dass ihre Positivrate zuletzt nicht nur merklich unter der Positivrate der Gesamtbevölkerung lag, sondern noch dazu gegen den Trend sank. 

 

All das sind freilich Erläuterungen, die man auch von RKI-Chef Wieler hören sollte, wenn er das nächste Mal auf die stark steigenden Infektionszahlen bei Kindern und Jugendlichen hinweist. Immerhin sagte er bei der Pressekonferenz Mitte März, nachdem er Kita- und Schulschließungen für infektionsmedizinisch sinnvoll erklärt hatte: "Wir haben immer gesagt, dass man Schulen öffnen sollte – ja, aber mit klugen, klaren Konzepten."

 

RKI-Chef Wieler muss die Infektionszahlen
ausreichend einordnen

 

Hängen blieb in der öffentlichen Wahrnehmung aber vor allem der erste Teil von Wielers Aussage. Wodurch die positive Absicht hinter den Schnelltests – mehr Sicherheit an den Schulen zu schaffen – sich in ihr Gegenteil verkehrte: weil in Reaktion auf die steigenden Zahlen und trotz aller vorhandenen Hygienekonzepte wieder über deren komplette Schließung diskutiert wurde. Und das hat der Chef des Robert-Koch-Instituts so lange mitzuverantworten – wie er die Inzidenz-Entwicklung bei den Unter-15-Jährigen eben nicht ausreichend einordnet. 

 

Auch der von manchen Lehrer- und Elternverbänden immer noch erhobene Vorwurf, dass es keinen ausreichenden Infektionsschutz an Schulen gebe, erscheint abwegig vor dem Hintergrund fast überall halb leerer Klassenräume und ganzen Klassenstufen, die seit Weihnachten kein einziges Mal in den Unterricht durften. Denen wie in Berlin teilweise sogar mit Verweis auf die vermeintlich "rasante" Pandemieentwicklung an den Schulen die bereits zugesagte tageweise Rückkehr wieder weggenommen wurde. Die im Februar veröffentlichte S3-Richtlinie zum möglichst sicheren Betrieb der Schulen wird von den meisten Ländern, Regionen und Schulträgern längst so gut wie möglich befolgt. Ergänzt um die mehr und mehr vorhandenen Schnelltests. Nur ergibt diese Feststellung keine gute Schlagzeile. 

 

So bleibt der Fokus auf den Kitas und Schulen, obgleich es viele Hinweise gibt, dass diese eben nicht die ihnen zugeschriebene Rolle im Infektionsgeschehen spielen – zumindest nicht so maximal halb offen, wie die meisten Schulen überhaupt noch sind.

 

Vielen wird die derart schiefe Debatte aber ganz recht sein. Etwa dem Präsidenten des Bundesverbands der Deutschen Industrie (BDI), Siegfried Russwurm, der die vom Berliner Senat zuletzt geplante Homeoffice-Pflicht für mindestens 50 Prozent der Belegschaft im Tagesspiegel als "realitätsfern" bezeichnete. "Berliner Amtsstuben", sagte er, "wissen besser, was richtig ist als die Betriebsparteien vor Ort: Diese These kann nur vertreten, wem der Beitrag der Industrie zur Krisenbewältigung völlig egal ist."

 

Beschämend, wie wenig von der
angeblichen Priorität übrigblieb

 

Egal scheint vielen Erwachsenen eher der Kampf gegen das Virus zu sein, wie ein Rundgang durch Berlins Innenstadt zeigt: Polizisten, die im Pulk, aber ohne Maske Verkehrskontrollen organisieren; Bauarbeiter, die sich (passend zu den jüngsten Infektionsmeldungen von der Tesla-Baustelle in Grünheide) zur Mittagspause ohne Abstand und Mundschutz in den Bauwagen hocken. Und erstaunlich volle Büros hinter den Glasscheiben der Bürohäuser.

 

Die angenehm ablenkende Berichterstattung über die Kinder und Jugendlichen hilft ihnen offenbar, die Verteidigung ihrer eigenen wieder "erkämpften Freiheiten" (Berlins Regierender Bürgermeister Müller) fortzusetzen und sich – zumeist erfolgreich – gegen neuerliche Maßnahmen zu wehren: Seien es Einschränkungen für die Wirtschaft, das Verbot von Touristenflügen ins Ausland oder die laut Oxford-Studie so erfolgreiche Einführung von Ausgangssperren. In Berlin, Bayern und anderswo will man folglich auch bei einer 7-Tages-Inzidenz über 100 den Einzelhandel per Terminshopping offenhalten – unter Vorlage eines aktuellen negativen Corona-Tests. 

 

Der wiederum in Bayern aber nicht reicht, um auch den teilweisen Präsenzunterricht weiterlaufen zu lassen. Dazu teilte das Kultusministerium nämlich mit: Ab einer Inzidenz von über 100 finde nach Ostern "grundsätzlich Distanzunterricht" statt – mit Ausnahmen für Abschluss- und Übergangsklassen. Und Baden-Württembergs Landesregierung denkt laut darüber nach, die Osterferien um eine Woche zu verlängern – was stark an die scheibchenweise kommunizierten und dann monatelangen Schulschließungen nach Weihnachten erinnert. 

 

All das ist schon ärgerlich (und wissenschaftsfern!) genug, wenn man sich die zitierte Studienlage und den unbestrittenen Beitrag Erwachsener zur Ausbreitung des Virus vor Augen hält. Beschämend ist es, wenn man die angebliche Priorität der Rechte von Kindern und Jugendlichen in der Pandemie hinzunimmt. Nur will das, so scheint es, allmählich kaum noch jemand hören. 


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Kommentare: 3
  • #1

    Allia Hammami (Dienstag, 30 März 2021 16:52)

    Wiederum eine sehr differenzierte Betrachtung! Danke, dass Sie Ihre Arbeit im Sinne der Kinder und Jugendlichen dieses Landes so engagiert wahrnehmen!

  • #2

    Niklas Rehbein (Dienstag, 30 März 2021 17:53)

    Gut, daß hier mal sachlich, aber prononciert gegen die Wertungen von Herrn Wiehler vom RKI Stellung bezogen wird ! Die Folgen für die Bildung der Schüler werden sich noch zu einem sehr traurigen Problem ausweiten.

  • #3

    Martin Ruthenberg (Donnerstag, 01 April 2021 06:05)

    Danke für die differenzierte, sachliche StellungNahme, die ich angesichts der allgemeinen BerichtErstattung auch mutig finde.