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Bitte wappnen

Die gemeldeten Neuinfektionen bei Kindern und Jugendlichen dürften in Kürze neue Höchststände erreichen. Was das bedeutet – und was nicht.

Quellen: RKI. Gemeldete Neuinfektionen SurvStat@RKI 2.0 (Datenbankabfrage) und Laborbasierte Surveillance von SARS-CoV-2, Wochenbericht vom 13. April 2021. Zahlen aus den Grafiken extrahiert.

DIE STATISTIKEN SAHEN nach Entspannung aus. Auf den ersten Blick zumindest. In der vergangenen Kalenderwoche lag die Zahl der registrierten Corona-Neuinfektionen bei Kindern und Jugendlichen so niedrig wie seit drei Wochen nicht mehr. Der Anteil an allen neuen Meldefällen ging sogar auf den niedrigsten Stand seit über einem Monat zurück. Konkret: Zwischen dem 5. und 12. April betrafen 13.799 von insgesamt 117.738 Neuinfektionen Kinder zwischen 0 und 14, das waren 11,7 Prozent. Zwischen 24. Februar und 1. März wurden 7.429 neuinfizierte Kinder und Jugendliche gezählt – deutlich weniger zwar, doch weil die Zahl aller neuen Corona-Fälle zu dem Zeitpunkt bei nur 58.511 lag, ergab sich ein Anteil von sogar 12,7 Prozent.

 

Der zweite Blick ist allerdings weniger positiv. Denn der überdurchschnittliche Rückgang der Meldezahlen (-21 Prozent) unter Kinder und Jugendlichen seit ihrem Peak in Kalenderwoche 12 lässt sich ausschließlich über den Rückgang an durchgeführten Corona-Tests (-48 Prozent) erklären. Und dann bleibt noch ziemlich viel Infektionsdynamik übrig. Die sich einerseits daran zeigt, dass die Meldezahlen deutlich weniger sanken als die Corona-Tests, und andererseits an den Positivquoten, die besonders bei den 5- bis 14-Jährigen einen Sprung gemacht haben und sich nun an der Spitze aller Altersgruppen befinden. 

 

All diese Entwicklungen – der Absturz bei den Tests, infolge dessen der Rückgang bei den gemeldeten Neuinfektionen und schließlich das starke Plus bei den Positivquoten – war angesichts der Ferien, die leider immer mit deutlich weniger Tests einhergehen, vorhersehbar gewesen.

 

Was die Zahlen
noch aussagen

 

1. Die These, dass die Ferien zu einer Beruhigung des Infektionsgeschehens unter Kindern und Jugendlichen geführt hätten, ist damit aufgrund der vorliegenden Statistiken in keiner Weise haltbar. Es ist ein kompletter Schein-Rückgang bei einer in Wirklichkeit vermutlich sogar weiter wachsenden Infektionsdynamik.

 

2. Kinder und Jugendliche waren seit Ende Februar vermutlich etwa so stark von Neuinfektionen betroffen wie der Schnitt der Gesamtbevölkerung, aber nicht stärker. Dies zeigt sich daran, dass im Vergleich zur 9. Kalenderwoche die Corona-Fälle bei den 5- bis 14-Jährigen sogar leicht unterdurchschnittlich zulegten (siehe Tabelle oben), während die Corona-Tests seitdem auch relativ zur Gesamtbevölkerung etwas mehr geworden sind. 

 

3. Seit Mitte Februar nahmen die Meldefälle bei Kindern und Jugendlichen mit +206 Prozent zwar erheblich schneller zu als in der Gesamtbevölkerung (+124 Prozent), allerdings legten auch die Tests im selben Zeitraum um 86 Prozent zu, während es gesamtgesellschaftlich nur 4,5 Prozent waren. Da die Positivraten bei den 0- bis 4- Jährigen deutlich, bei den 5- bis 14-Jährigen etwas langsamer stiegen als im Schnitt aller Altersgruppen, ist die tatsächliche Dynamik seit Mitte Februar vermutlich auch nicht überdurchschnittlich gewesen.

 

4. Und jetzt wird es spannend: Schon bevor die Kitas und Schulen Mitte Februar wieder teilweise öffneten, kletterten die Positivquoten unter Kindern und Jugendlichen erstmals langfristig auf oder sogar über den Schnitt der Bevölkerung. Als die Bildungseinrichtungen den ganzen Herbst über voll geöffnet worden waren, waren Kinder und Jugendliche im Gegensatz dazu trotzdem deutlich seltener positiv getestet worden als Erwachsene. Dies änderte sich erst, nachdem die Schulen zu waren, und zwar im Laufe des Dezembers und Januar. Was sich zunächst auch mit dem starken Rückgang der Testhäufigkeiten erklären ließ, aber auch so blieb, als die Testzahlen seit Mitte Februar wieder stiegen.

 

5. Die einzig logische Schlussfolgerung: Die entscheidende Veränderung hin zu einem ebenso starken Infektionsgeschehen wie bei den Erwachsenen fand bereits zu Zeiten geschlossener Kitas und Schulen statt. Und zwar zu einem Zeitpunkt, als die zuerst in Großbritannien festgestellte Mutation B.1.1.7 laut RKI noch nicht die dominante war, also als Erklärung nicht taugt. 

 

Was folgt aus

all dem?

 

Vor allem, dass Kinder und Jugendliche aktuell eine ebenso wichtige Rolle im Infektionsgeschehen spielen wie Erwachsene – was das gesamte letzte Jahr, vor allem aber auch zu Zeiten vollkommen offener Kitas und Schulen, offenbar nicht der Fall war. Was es auch heißt: Die Annahme, komplett oder teilweise geschlossene Schulen und Kitas senkten die Corona-Dynamik bei Kindern und Jugendlichen im Vergleich zu der bei Erwachsenen überdurchschnittlich, lässt sich durch die vorliegenden Zahlen nicht bestätigen.

 

Viel wahrscheinlicher und besser durch die vorliegenden Zahlen gedeckt ist, dass die Neuinfektionen bei Kindern unabhängig von offenen oder geschlossenen Kitas und Schulen denen in der Gesamtbevölkerung folgen – weil nämlich, wie das RKI festgestellt hat, Bildungseinrichtungen "eher kein Motor" der Pandemie seien. Natürlich, und diese Einschränkung ist wichtig, ist das eine Feststellung aus einer Zeit, als die britische Mutation noch nicht die vorherrschende war. 

 

Wir sollten uns also wappnen: Nachdem die Testzahlen bei den Kindern und Jugendlichen über Ostern überdurchschnittlich fielen, werden sie nun wieder überdurchschnittlich abheben – und mit ihnen die Meldezahlen. Was dank der extrem seltenen schweren Krankheitsverläufe bei den 0- bis 14-Jährigen zum Glück nicht gleichzusetzen ist mit demnächst großen Mengen ins Krankenhaus eingewiesener Kinder und Jugendlicher (auch wenn ihre Zahl auf dem sehr niedrigen Level relativ weiter wachsen dürfte).

 

Sicher ist: Die Politik wird die Infektionen bei Kindern und Jugendlichen nicht herunterbringen, indem sie vor allem diese über die Maßen in ihren sozialen Kontakten wie auch in ihrem Recht auf Bildung einschränkt. Erst recht wird sie dadurch nicht das Infektionsgeschehen in der Gesellschaft insgesamt stoppen können. Was die vom Bundeskabinett beschlossene Corona-Notbremse so wirkungsschwach und auch einseitig macht.

 

Umgekehrt wäre es richtig – epidemiologisch und sozialpolitisch: Das Gros der Erwachsenen muss sich stark einschränken, weil dann auch das Infektionsgeschehen bei den Kindern zurückgeht. Im Idealfall hieße das: Offene Bildungseinrichtungen bei harten Schließungsmaßnahmen für Büros und Fabriken und nächtliche Ausgangssperren für alle. Zumindest aber heißt es: Wenn schon die Bildungseinrichtungen weiter geschlossen bleiben sollen, und das sind sie zu einem guten Stück immer noch oder schon wieder, dann müssen die genannten Maßnahmen endlich auch für die Erwachsenen kommen.

 

Sonst wird es mit dem sozial- und bildungspolitischen Trauerspiel, das wir gegenwärtig erleben, noch viele Wochen weitergehen. 



Was ist richtig?

Auch beim Thema Schulen gehen die Meinungen über die geplante Bundesnotbremse weit auseinander. Dem RKI-Chef sind die Regelungen zu lasch, vielen Kinderärzte und Psychologen halten automatische Schulschließungen dagegen für nicht notwendig und schädlich. 

 

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Kommentare: 1
  • #1

    Ilka Agricola (Donnerstag, 15 April 2021 15:34)

    Vielen Dank fuer diese treffende Analyse. Die Klassen 7-11, die seit Pandemie-Beginn am wenigsten in die Schule gegangen sind (kein Angebot von Wechselunterricht, keinerlei Praesenz weil keine Abschlussklasse, auch keine Rueckkehr in die Schule mit Tests) ist in ihrer Persoenlichkeitsentwicklung nachhaltig und massiv gestoert - und gleichzeitig bleibt der gewuenschte Effekt, der solch drastische Massnahmen rechtfertigen koennte, aus. Es geht nicht mehr um ein bisschen ausgefallenen Schulstoff, es geht um Jugendliche, die mittlerweile alle Symptome von Langzeitarbeitslosen zeigen.