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Spahns Retourkutsche

Dass der Gesundheitsminister vor Wechselunterricht im Herbst warnt, lässt tief blicken. Und zeigt: Wenn die vierte Welle kommt, haben Teile der Politik schon jetzt die Ursache ausgemacht.

IST DAS JETZT DIE RETOURKUTSCHE? Neulich noch hatte sich Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) vehement für eine große Impfkampagne für Schülerinnen und Schüler bis zum Ende der Sommerferien eingesetzt, doch die Ständige Impfkommission (Stiko) beugte sich dem politischen Druck nicht und entschied, keine generelle Impfempfehlung für Jugendliche ab 12 auszusprechen.

 

Jetzt sagte Spahn bei einer Online-Tagung der Evangelischen Akademie Tutzing, im Herbst und Winter würden trotz derzeit sehr niedriger Infektionszahlen voraussichtlich nach wie vor Maßnahmen wie Maskenpflicht oder auch Wechselunterricht notwendig sein.

 

Der kaum verhohlene Subtext: Wenn alle Kinder und Jugendlichen bis dahin geimpft wären, so wie Spahn und andere es gefordert hatten, könnte man sich all das natürlich sparen.

 

Einmal abgesehen davon, dass Spahn solche Unkereien, solch ein Spiel mit den Sorgen und Ängsten von Millionen Kindern und ihren Familien zum Zeitpunkt einer gesamtdeutschen Inzidenz von 8 überhaupt für angemessen hält, zeigt seine ganz lässig nebenbei gemachte Bemerkung vor allem eins: Die Politik wird, wenn die vierte Welle kommt, in jedem Fall erneut die Bildungseinrichtungen ins Visier nehmen.

 

Es spielt keine Rolle, wie viele Luftfilter
in die Schulen eingebaut werden

 

Dabei spielt keine Rolle, wie sehr sich Kultusminister, Gesundheitsämter oder Schulträger strecken, ob sie versuchen, bis zum Herbst möglichst viele Schulen mit Luftfiltern ausstatten, ob sie die Fenster und Sanitäranlagen ertüchtigen oder nicht. Dass dies wie im vergangenen Sommer vielerorts an bürokratischen Hürden scheitern dürfte, ist insofern ärgerlich, aber weniger relevant, als manche hoffen: Wenn die Corona-Inzidenzen steigen, wenn die Delta-Variante vor allem unter (dann freiwillig) umgeimpften Erwachsenen grassieren sollte, dann sollen und werden die Kinder und Jugendlichen dafür erneut die größten gesellschaftlichen Einschränkungen erfahren.

 

Obwohl sie selbst nur selten schwerer an Corona erkranken. Und obwohl, wie sich aktuell so überdeutlich zeigt, die Infektionszahlen bei umgeimpften Kindern und trotz vollkommen offener Schulen fast genauso stark in den Keller gehen wie bei den zu einem immer größeren Anteil geimpften Erwachsenen. Womit einmal mehr belegt ist, dass das Infektionsgeschehen bei Kindern dem der Erwachsenen folgt und nicht umgekehrt. 

 

 "Da setzen sich Millionen Menschen in Bewegung, die sich sonst nicht in Bewegungen setzen würden und begegnen sich", sagte Spahn dennoch zur Begründung seines Wechselunterricht-Vorstoßes. Das könne dann zu einer "Drehscheibe in die Haushalte hinein" werden.  

 

Doch diese Argumentation ist so fadenscheinig wie einseitig. Wer beim deutschen EM-Spiel am Wochenende gesehen hat, wie die große Mehrheit der 14.500 Fußballfans im Stadion die dort geltende Maskenpflicht eklatant missachtet hat, dem fällt zum Thema Drehscheibe etwas ganz Anderes ein. Der wundert sich, wie die Politik es mit einem erneuten Zeigefingerheben und sanften Mahnungen in Richtung Deutschem Fußballbund (DFB) belässt.

 

Es ist das bereits
bekannte Spiel

 

Oder eigentlich wundert er sich nicht mehr. Denn es ist das vom Umgang mit den Arbeitgebern und Angestellten bekannte Spiel. Während Kinder und Jugendliche nur in die Schule gehen dürfen, wenn sie sich verpflichtend zweimal die Woche einem Corona-Schnelltest unterziehen, hat die Politik dasselbe nie von Erwachsenen verlangt, bevor sie Büro oder Fabrik betreten dürfen. Lediglich eine Test-Angebotspflicht wurde sehr spät eingeführt, die die Unternehmen zur Bereitstellung regelmäßiger Schnelltests verdonnerte. Doch wurde sie ebenso selten kontrolliert wie die sehr locker definierte Pflicht, den Arbeitnehmern auf Wunsch Homeoffice zu gewähren. Eine Pflicht, die mit der Bundesnotbremse übrigens Ende Juni ausläuft. Und hier ist keine Rhetorik zu vernehmen, dass die Arbeitgeber sich auf eine Verlängerung  einstellen sollten.

 

Wieso auch. Der Vorsitzende der Deutschen Gesellschaft für pädiatrische Infektiologie, Johannes Hübner, kommentierte am Wochenende auf Twitter, so sei es "leider die ganze Zeit: einfache Pseudo-Lösungen (zum Beispiel Schnelltests, FFP2-Masken, Luftfilter, Schulschließungen) statt vernünftiger Lösungen, die aber schwieriger umzusetzen sind oder wo es Lobby-Interessen gibt." Zum Beispiel, wie Hübner anführte, die Schnelltestungen in Betrieben oder die ebenfalls nie umgesetzte Pflicht für Arbeitgeber, alle Angestellten, bei denen das geht, ins Homeoffice schicken zu müssen. Eben weil die Politik sich kaum einmal an die wirklich effektiven Maßnahmen herantraut, bleiben am Ende wieder nur die Kinder und Jugendlichen.

 

So bitter das ist: Wer glaubt, die Schulen könnten sich mit den schärfsten Hygieneregeln außerhalb des Gesundheitsbereichs und mit allerlei technischen Anlagen gegen künftige Schließungen wappnen, der irrt. Nichts hilft gegen Politiker, die auch in der vierten Welle glauben, ihre Handlungsfähigkeit unter Beweis stellen zu müssen.


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Kommentare: 4
  • #1

    Pete (Montag, 21 Juni 2021 12:02)

    Guter Beitrag! In der einzigen echten Längsschnitt-Untersuchung zum Pandemieverlauf (die allerdings weniger die Pandemie selbst, als die Einstellung zur Pandemie in den Blick nimmt) sieht man deutlich, dass die Zustimmung zu "vorsorglichen Schul- und Kita-Schließungen" fast durchgängig höher war, als zur "Einschränkung von Freiheitsrechten" (s. https://projekte.uni-erfurt.de/cosmo2020/web/explorer/ ). Als Vater zweier Grundschulkinder macht mich das zwar nachdenklich bis fassungslos, zeigt aber, dass es bei der Auswahl der Maßnahmen zur Pandemie-Bekämpfung weniger um Evidenz, als vielmehr um die Akzeptanz von Maßnahmen geht. Interessant finde ich nun, dass der mediale Diskurs diese politische Dimension in den Blick nimmt, sondern sich eher abarbeitet, was für oder gegen einzelne Maßnahmen spricht. Das Ziel, die oben beschriebenen Einstellungen durch Aufklärung eben darüber zu beeinflussen. finde ich sehr ehrenwert. Trotzdem besteht die Gefahr, dass zutiefst politische Entscheidungen dadurch nicht mehr als solche erkennbar sind. Ihre Kommentare sind da ein schöne Ausnahme!

  • #2

    Lehrerkind (Montag, 21 Juni 2021 12:23)

    "So bitter das ist: Wer glaubt, die Schulen könnten sich mit den schärfsten Hygieneregeln außerhalb des Gesundheitsbereichs und mit allerlei technischen Anlagen gegen künftige Schließungen wappnen, der irrt. Nichts hilft gegen Politiker, die auch in der vierten Welle glauben, ihre Handlungsfähigkeit unter Beweis stellen zu müssen. "

    Dem ersten Satz kann ich so nicht zustimmen. Leider sieht es mit der Umsetzung der Hygieneregeln an den einzelnen Schulen vor Ort, nicht zuletzt aufgrund der im Artikel angesprochenen administrativen Hürden, auch ein gutes Jahr nach Ausbruch der Pandemie immer noch zappenduster aus. Die fehlende und/oder mangelhafte Umsetzung führt ja gerade dazu, dass eine Offenhaltung der Schulen nicht durch nachprüf- und nachweisbare Umsetzung verargumentiert werden kann. Da die Kultusminister*innen WISSEN, dass die Umsetzung mangelhaft bis nichtexistent ist, haben Sie auch keinerlei Handhabe, sie als Argument für eine Offenhaltung der Schulen dem Bund gegenüber glaubhaft ins Feld zu führen.

    Handlungsfähigkeit zeigt sich nicht durch politische Schnellschüsse und die Verkündigung schlecht durchdachter Beschlüsse. Sie zeigt sich in der konsequenten Umsetzung und gegebenenfalls durchdachten Anpassung von Beschlüssen auf der Grundlage des Realisierbaren. Und gerade davon bewegt die Politik sich mit Siebenmeilenstiefeln weg.

  • #3

    Django (Montag, 21 Juni 2021 14:20)

    Wenn man Meldungen wie diese hier: https://www.tagesschau.de/inland/corona-schulen-oeffnungen-103.html liest, hat man den Eindruck, dass auch die "Leitmedien" keine Abwägung zwischen den Großen und den Kleinen versuchen. Im März '21 - Schule und Kita waren schon lange stark beeinträchtigt - wurde vorsichtig angemahnt, dass Berufstätige doch bitte nich gemeinsam ihre Mittagspause begehen sollen. Man fragt sich, wieso diese Bitte eigentlich ausgesprochen werden musste, während sonnenklar war, dass der Bildungsweg der Kleinen in eine Schotterpiste verwandelt wurde.

  • #4

    IMOK (Donnerstag, 24 Juni 2021 14:12)

    Aus dem CODAG Bericht Nr. 16 der LMU (https://www.covid19.statistik.uni-muenchen.de/pdfs/codag_bericht_16.pdf):

    "nach der schrittweisen Öffnung der Schulen für den Präsenzunterricht seit Mitte Februar (KW8) ist die Anzahl der Fälle, die aus Infektionen an der Schule resultieren, sehr gering geblieben. Anders verhält es sich bei Infektionen, die nachweislich am Arbeitsplatz stattgefunden haben: Hier nimmt die Anzahl der gemeldeten Fälle seit Jahresbeginn zu."

    Den kennt Herr Spahn vielleicht nicht...?