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Was will uns Hanna sagen?

Miteinander reden: Ein Streitgespräch zu Befristungen und Karrierechancen in der Wissenschaft inmitten der Debatte um das Wissenschaftszeitvertragsgesetz. Mit Oliver Günther und Tilman Reitz.

Tilman Reitz: Wir hatten uns schon vor "#IchbinHanna" verabredet, um über die Personalstrukturen an deutschen Universitäten zu diskutieren, Herr Günther, aber ich finde: Durch die tausenden Erfahrungsberichte junger Wissenschaftler*innen in den vergangenen zwei Wochen ist noch einmal deutlicher geworden, wie dramatisch die Lage ist. Deutlich unter 20 Prozent des wissenschaftlichen Personals an deutschen Hochschulen arbeitet in unbefristeten Vollzeitjobs. Die große Mehrheit – im sogenannten "Nachwuchs" über 90 Prozent – hat befristete Stellen, und die Aussichten auf eine Professur sind gering. Selbst der hohe Anteil Promovierender, die sich mit oder neben ihren Arbeitsleistungen auch qualifizieren, macht dieses Bild nicht viel vorteilhafter. Wer in die Wissenschaft einsteigt, steht lange in einem harten Aussiebungs- und Prestigewettbewerb sowie in massiver Abhängigkeit von den Vorgesetzten. Wissenschaftliche Neugier wird dabei oft zweitrangig. 

 

Oliver Günther: Keine Frage, die "#IchbinHanna"-Debatte sollte uns alle noch stärker als bislang anregen, gemeinsam an einem besseren Wissenschaftssystem zu arbeiten. Denn bei den Befristungen im Wissenschaftsbereich sind in der Tat Missstände zu verzeichnen. 


Oliver Günther, Jahrgang 1961, ist Präsident der Universität Potsdam und Vizepräsident für Governance, Lehre und Studium der Hochschulrektorenkonferenz Foto: Ernst Kaczynski.

Tilman Reitz, Jahrgang 1974, lehrt Wissenssoziologie und Gesellschaftstheorie an der Uni Jena und engagiert sich  im Netzwerk für Gute Arbeit in der Wissenschaft. Foto: privat. 



Reitz: Um diese Lage zu ändern, bieten sich drei Ansätze an. Erstens müssen befristete Stellen zur Ausnahme werden; das promovierte Personal sollte grundsätzlich auf Dauerstellen arbeiten. Zweitens dürfen diese Stellen nicht mehr den Professuren zu- und untergeordnet sein, die bisher de jure und de facto allein Wissenschaftsfreiheit genießen. Und drittens müssen die in letzter Zeit übermäßig angewachsenen Projektmittel großenteils wieder in eine universitäre Grundfinanzierung überführt werden, die Forschung und Lehre erlaubt. 

 

Günther: Befristungen sind – und dies ist weltweit so üblich – absolut sachgerecht für Promotionsstellen und für eine gewisse Anzahl an Postdoc-Jahren, außerdem natürlich im Tenure-Track. Weitere Befristungen sollten nicht mehr möglich sein. So schaffen wir für die nachwachsenden Generationen deutlich mehr Planungssicherheit. Allerdings hätte eine solche Limitierung auch Effekte, die nicht jedem gefallen werden. So ist eine Habilitation nur noch für wenige finanzierbar. Auch Drittmittelprojekte kämen nach Ablauf der maximalen Befristungsdauer kaum mehr infrage, weil Drittmittel stets befristet sind.

 

"Die Zahl der Projektbeschäftigten hat sich in den frühen 2000er Jahren nahezu verdoppelt – während alle anderen Personalzahlen etwa stabil geblieben sind."

 

Reitz: Das klingt für mich fast alles gut; ich hätte nur kleine Präzisierungen bzw. Einwände. Zunächst müssten die Promotionsstellen wirklich – wie etwa in Graduiertenprogrammen – hauptsächlich der Promotion dienen. Außerdem können Postdoc-Stellen in der Tat einen Puffer bilden, sollten aber nicht zum Normalfall werden. Und schließlich stellt der Projektbetrieb ein eigenes Großproblem dar. Die Zahl der Projektbeschäftigten hat sich in den frühen 2000er Jahren nahezu verdoppelt – während alle anderen Personalzahlen etwa stabil geblieben sind. Hier muss gegengesteuert werden. Ein von mir miterstelltes Papier des Netzwerks für Gute Arbeit in der Wissenschaft (NGAWiss) rechnet vor, dass die nötigen Reformen bereits mit den vorhandenen Mitteln möglich wären. Wir präsentieren kosten- und deputatsneutrale Modellinstitute mit einem Tenure-Track und einem (im Vergleich vorteilhafteren) Lecturer/Reader-System, die unbefristete Beschäftigung nach der Promotion gewährleisten. Die idealisiert dargestellte Voraussetzung ist, dass die jetzigen Projektmittel vollständig für reguläre Stellen zur Verfügung stehen. Forschungsprojekte würden dann vom fest beschäftigten Personal durchgeführt, das für diese Projekte insgesamt genügend Zeit zur Verfügung hätte und konkret Freistellungen aushandeln könnte.

 

Günther: Bei der Ausgestaltung von Promotionsstellen bin ich ganz bei Ihnen, auch bei den Sympathien für Graduiertenkollegs und ähnliche Strukturen. Das NGAWiss-Papier hingegen ist zwar gut gemeint, hilft uns aber nicht wirklich weiter. Ihre Grundannahme, wonach Projektmittel zur Finanzierung von Strukturstellen eingesetzt werden könnten,  ist völlig realitätsfremd, da die Mittelgeber ihre Mittel nicht für die Grundausstattung hergeben würden. Sie ist auch nicht sachgerecht, da die meisten Projektmittel eben für zeitlich befristete "Projekte" zugewiesen werden, in denen man sich weiterqualifizieren kann und Forschung zu bestimmten vorab vereinbarten Themen betreibt. Gut wäre allerdings, wenn mehr Drittmittelgeber es zulassen würden, Dauerpersonal temporär in ein Drittmittelprojekt umzusetzen. Des Weiteren wäre wichtig, die vorhandenen unbefristet besetzbaren Mittelbaustellen transparent auszuweisen. Und schließlich gilt es in der Tat, unnötig kurze Befristungen zu vermeiden. Die reguläre Befristungsdauer sollte bei Promotionsstellen 3+2 Jahre sein, bei Postdocstellen 2+1. Wenn es sich um Drittmittelstellen handelt und die Drittmittel das nicht hergeben, dann eben die Laufzeit der Drittmittel – aber nicht weniger.  

 

Reitz: Diese Minimalstandards sind zum Glück zunehmend etabliert. Bei den Projekten scheint mir dagegen – realitätsfremd oder nicht – starker Reformbedarf zu bestehen. Hochschulpolitisch könnten wir selbstverständlich entscheiden, einen Großteil der heutigen Projektfinanzierung (etwa des DFG-Etats) wieder in Grundfinanzierung zu überführen. Das würde nicht nur die Beschäftigungslage entspannen, sondern auch viel Zeit für Forschung und Lehre freisetzen. Dass ausgerechnet der Projektbetrieb mit seinen vorab vereinbarten Zielen der Wissenschaftsfreiheit dient, scheint mir jedenfalls nicht haltbar zu sein. Ist irgendwem ernsthaft damit gedient, dass man dauernd Anträge schreiben, auf die nächste Bewilligung warten und Projektfassaden polieren muss, wenn man für ein paar Jahre qualifizierte Leute beschäftigen will? Wenn die momentan projektgebundenen Mittel eingesetzt würden, um allen Senior Researchers ein gutes Forschungs-Grundbudget zu geben, ließe sich viel unnötige Antragsarbeit und Pseudo-Kooperation vermeiden. Über den Umgang mit Haushaltsstellen können die Universitäten (im Rahmen ihrer Budgets) sogar selbst entscheiden. Auch dort scheint mir mehr möglich, als Sie schildern. Der naheliegende Ansatz wäre, schrittweise den Anteil der unbefristeten Stellen zu erhöhen. Leider sehe ich kein großes Engagement der Universitätsleitungen, einen solchen Wandel einzuleiten.

 

"Grundfinanzierung und Projektfinanzierung sind,
anders als Sie unterstellen, keine
kommunizierenden Röhren."

 

Günther: Das ist eine weitere Idee, die vollkommen an der Wirklichkeit vorbeigeht. Grundfinanzierung und Projektfinanzierung sind, anders als Sie unterstellen, keine kommunizierenden Röhren. Das fängt schon damit an, dass die Grundfinanzierung zu 100 Prozent Landessache ist und Projektfinanzierung wohl zu über 90 Prozent von Bund oder EU kommt – plus zu einem geringen Umfang von der Industrie. Die DFG ist ein international sichtbares Erfolgsmodell, da wird nichts gestrichen, ich hielte dies auch für grundfalsch. Und was den Ihres Erachtens naheliegenden Ansatz angeht "schrittweise den Anteil der unbefristeten Stellen zu erhöhen", so haben wir ja an der Universität Potsdam gerade in einem aufwändigen Prozess ermittelt, welcher Anteil an Dauerstellen tatsächlich sachgemäß wäre. Unsere Analyse fand auch vor dem Hintergrund statt, dass eine zusätzliche Dauerstelle praktisch immer auch eine Qualifikationsstelle weniger impliziert. Wir haben im Detail erhoben, welche Daueraufgaben anfallen, wie viele "Mittelbau"-Stellen hierfür benötigt werden und welche Lehrdeputate mit den Stellen zu verknüpfen sind. Daraus ergaben sich Prozentsätze für die unbefristet besetzbaren Stellen zwischen etwa zehn Prozent in  der Juristischen Fakultät und knapp 40 Prozent in der  Philosophischen Fakultät. Universitätsweit ergab sich daraus ein Anteil unbefristeter Stellen in Höhe von gut 30 Prozent.



Reitz: Dass die Grundfinanzierung Ländersache ist, muss nicht so bleiben.  Mit den Hochschulpakten und nun dem Zukunftsvertrag (über die Jahre insgesamt 100 Milliarden Euro) ist der Bund massiv in die Hochschulfinanzierung eingestiegen. Die Kampagne "Frist ist Frust" fordert, diese Mittel vollständig für neue wissenschaftliche Dauerstellen zu verwenden, und auch der Zukunftsvertrag selbst verlangt Dauerstellenkonzepte. Ihre Analyse ist daher begrüßenswert. Sie legt allerdings die Frage nahe, wer hier auf der Suche nach sachgerechten Lösungen war: Universitätsleitung und Dekanate oder das wissenschaftliche Personal; die Professorenschaft oder auch andere Statusgruppen? In jedem Fall leuchten nicht alle Zahlen und Stellenzuschnitte unmittelbar ein. In den Geistes- und Sozialwissenschaften weiß ich aus Erfahrung, dass Forschung und Lehre Daueraufgaben sind. Das Potsdamer Konzept sieht für Dauerstellen dagegen Obergrenzen von 17,7 Prozent an der Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät, 37,1 Prozent an der Philosophischen und 27 Prozent an der Humanwissenschaftlichen Fakultät vor. Dabei handelt es sich typischerweise um Funktionsstellen (von der Instituts-Geschäftsführung bis zur Fachdidaktik), oft mit einem extrem hohen Lehrdeputat von bis zu 18 Semesterwochenstunden (SWS). Sachgerecht schiene mir und den Kolleginnen von "Frist ist Frust" etwas völlig anderes: wissenschaftliche Dauerstellen, die mit höchsten acht SWS die Möglichkeit bieten, dauerhaft Forschung und Lehre zu verbinden.

 

"Wenn man Ihre unrealistische Grundannahme
wegnimmt, bleibt von Ihren Vorschlägen

nicht mehr so viel übrig."

 

Günther: Der Begriff "Obergrenze" besagt lediglich, dass die fraglichen Stellen temporär – zum Beispiel während eines laufenden Besetzungsverfahrens – auch befristet besetzt werden können. Das ist aber eine Ausnahme. De facto liegen die Prozentsätze auch historisch bedingt noch über den hier ermittelten Werten. Alle Stellen mit maximal acht SWS Lehrdeputat zu belegen entspräche nicht den Bedarfen der Hochschule und passt nicht zur verfügbaren Finanzierung. Vielmehr variiert das Lehrdeputat kontextabhängig zwischen vier SWS (etwa wenn komplexe Geräte zu betreuen sind) und 24 SWS (vor allem für Einzelunterricht, zum Beispiel in Sport und Musik).  Aber ich möchte noch einmal auf Ihr Papier zurückkommen. Wenn man Ihre unrealistische Grundannahme – Projektmittel könnten zur Finanzierung von Strukturstellen eingesetzt werden – wegnimmt, bleibt von Ihren Vorschlägen nicht mehr so viel übrig. Dann stößt man nämlich auf die sehr einfache Arithmetik, wie viele Doktorandenstellen pro wissenschaftlicher Dauerstelle inklusive Professur verfügbar sind und welche "Weiterbeschäftigungschancen" sich daraus ergeben. Derzeit ist die magische Zahl ja ungefähr 12 Prozent. Wir haben in Deutschland etwa 25.000 Promotionen pro Jahr – bei etwa 25.000 Universitätsprofessuren. Das heißt: Jede Professur promoviert im Durchschnitt eine Person pro Jahr. Eine grobe Schätzung ergibt, dass jedes Jahr deutschlandweit wohl etwa 3.000 unbefristete Stellen für Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler zu besetzen sind. 3.000 geteilt durch 25.000 sind 12 Prozent. Die von Ihnen berechneten höheren Weiterbeschäftigungswahrscheinlichkeiten ergeben sich schlichtweg daraus, dass Sie die Anzahl der Doktorandenstellen pro Professur drastisch reduzieren. Nun kann man durchaus argumentieren, dass in Deutschland zu viele promovieren. Aber man muss sich bewusst sein, dass mit Ihren Vorschlägen wesentlich weniger junge Menschen als heute überhaupt die Möglichkeit zur Promotion hätten. 

 

Reitz: Danke für diesen Hinweis! Offensichtlich hängen die Weiterbeschäftigungschancen Promovierter davon ab, wie viele Promotionen man vorsieht. Wir haben diese Größe im Papier bewusst als Variable behandelt – auch mit Blick darauf, dass ordentlich bezahlte und befristete Promotionsstellen mehr kosten. Wenn Promotionsstellen schwerpunktmäßig für eine wissenschaftliche Laufbahn qualifizieren sollen und nicht zum Beispiel für politische oder wirtschaftliche Führungsfunktionen, muss man weniger davon anbieten oder das Wissenschaftssystem deutlich ausbauen. Aber die Pointe unserer Alternativen ist eine andere: Wer nach der Promotion einen wissenschaftlichen Job antritt, kann ihn auch behalten! Das werden weniger junge Menschen sein als die jetzt periodisch Angeheuerten und Gefeuerten, aber im Vergleich zum Department-Modell der Jungen Akademie hätte unser Lecturer-/Reader-Modell deutlich mehr wissenschaftliches Personal, weil nicht alles auf die Professur ausgerichtet ist. Und ganz gleich, welche Art Department man will: Wichtig wäre es eben auch, Promovierte wie Promovierende nicht mehr einfach als "Ausstattung" einer Professur zu behandeln. Selbst Fächer, in denen man gewöhnlich kollektiv forscht, könnten ihre Teams auf dieser Grundlage demokratischer reorganisieren.

 

"Allein nach grundlegenden Reformen fangen wir an, wissenschaftliche Kompetenzen und Interessen als wertvolles Angebot zu behandeln – und nicht als überschüssige Nachfrage nach Jobs."

 

Günther: Da bin ich ganz bei Ihnen, und das geht übrigens im Lehrstuhlsystem  genauso gut wie im Departmentsystem. Wichtig ist Transparenz über die Personalstruktur, wie wir sie in Potsdam zum Beispiel über unsere "Dauerstellenkonzepte" herstellen, und über ein entsprechendes Erwartungsmanagement: Da die Nachfrage nach unbefristeten Wissenschaftlerstellen im Regelfall das Angebot weit übersteigt, müssen wir Hochschulen unseren Doktoranden und Postdocs schon während ihrer wissenschaftlichen Weiterqualifikation berufliche Entwicklungswege auch außerhalb der Wissenschaft aufzeigen. 

 

Reitz: In vielen Zielen sind wir uns einig; Sie haben es in einer Entwurfsfassung unseres Austauschs so formuliert: "Langfristige Planungssicherheit und Forschungsfreiheit, ohne ständig um das nächste Drittmittelprojekt kämpfen zu müssen". Ich glaube allerdings im Gegensatz zu Ihnen, dass allein grundlegende Reformen dorthin führen werden. Nur dann fangen wir an, die reich vorhandenen wissenschaftlichen Kompetenzen und Interessen als wertvolles Angebot zu behandeln – und nicht als überschüssige Nachfrage nach Jobs.


Aktuelle Stunde im Bundestag

Auf Antrag der Linken diskutiert heute ab 16.20 Uhr auch der Bundestag in einer Aktuellen Stunde über "#IchbinHanna", Befristungen in der Wissenschaft und Folgen für das umstrittene Wissenschaftszeitvertragsgesetz. Die Zahl der Tweets, in denen sich Forscherinnen und Forscher mit den Arbeitsverhältnissen in der Wissenschaft auseinandersetzen, hat inzwischen die 44.000 überschritten.

 

Zuletzt hatte sich auch Bundesbildungsministerin Anja Karliczek (CDU) im Tagesspiegel zu der Debatte geäußert: Ihr Ministerium sei der falsche Adressat für die Kritik. Vielmehr sei es die Aufgabe von Ländern, Hochschulen und außeruniversitären Forschungseinrichtungen, aus Mitteln des Zukunftsvertrags Studium und Lehre stärken, der Exzellenzstrategie und dem Pakt für Forschung und Innovation wie vereinbart Dauerstellen zu realisieren.

 

Peter Andre-Alt, Präsident der Hochschulrektorenkonferenz, plädierte derweil im ZEIT-Newsletter WISSEN3 für einen "verantwortungsvollen Umgang" mit Befristungsregeln und verwies ansonsten an die Politik: "Nur eine planbare, dauerhaft 

auskömmliche Grundfinanzierung versetzt die Hochschulen in die Lage, verlässliche Qualifizierungs- und Karrierewege anzubieten und förderliche Arbeitsbedingungen zu sichern." 

 

Die Äußerungen aus Politik und Hochschulen führten zu weiteren Diskussionen und Repliken in den sozialen Medien. Jan Cloppenburg, ehemaliges Vorstandsmitglied im Studierendenverband fzs, sprach auf Twitter von einem "Verantwortungs-Pingpong von BMBF und HRK. " Immerhin aber weisen beide jeweils auf die Möglichkeiten der anderen Seite auf. Es können nämlich SOWOHL Bund / Länder ALS AUCH Hochschulleitungen / HRK etwas ändern."

 

Die SPD-Bundestagsfraktion beschloss ein Positionspapier "Hochschule und Wissenschaft", in dem sie ein neues "Gesetz für gute Arbeit" als "einen besonderen Schwerpunkt" nennt.

 

Im Interview hier im Blog hatte sich vergangene Woche "#IchbinHanna"-Mitinitatorin Amrei Bahr berichtet, wie es zu der Initiative kam. 



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Kommentare: 10
  • #1

    Th. Klein (Donnerstag, 24 Juni 2021 10:18)

    Obwohl oder gerade weil ich selbst mal zum Wiss. Nachwuchs gehört habe, hochschulpolitisch aktiv war und nun auch hauptamtlich mit diesem Feld beschäftigt bin, übt diese Debatte keinen Reiz mehr auf mich aus. Die Argumente sind ausgetauscht. Neue Titel und Konzepte von Junger Akademie und NGAWiss ändern nichts daran.

    Deshalb nur kurz zur politischen Dimension und nicht zu den Problemen, Argumenten und Forderungen: Die "Reformen" stellen oft gleich das ganze System in Frage, s.o. inkl. DFG, politische Zuständigkeiten etc. So kann dies für den wiss. Nachwuchs nicht zum Erfolg werden. Die Adressaten sind ja viel zu unterschiedlich und die Papiere selten zielgerichtet. Man sollte sich eine einzige Maßnahme aussuchen, die einen der größten Druckpunkte bedient und dessen Umsetzung halbwegs realistisch ist. Wenn man sich dann an die richtigen politischen Adressen wendet, könnte das Momentum da sein, um diese Forderung durchzubringen, und wenn die Politik dem aktuellen Druck nur einfach entgegenkommen will, weil man nicht völlig uneinsichtig gelten möchte. Aber zu dieser Reduzierung ist man nicht bereit.

  • #2

    De jure nicht (Donnerstag, 24 Juni 2021 10:23)

    Reitz: "Zweitens dürfen diese Stellen nicht mehr den Professuren zu- und untergeordnet sein, die bisher de jure und de facto allein Wissenschaftsfreiheit genießen."

    Nur de facto. De jure gilt die Wissenschaftsfreiheit für alle, die "wissenschaftlich tätig" sind, also z.B. auch für Studierende bei der Bearbeitung von Abschlussarbeiten in einem vom Betreuer gesetzten thematischen Rahmen. De facto aber tatsächlich nur für die Professor*innen, weil sie über so weitgehende Druckmittel verfügen: Man kann in einer Promotion oder Habilitation nicht frei forschen, wenn man befürchten muss, den Arbeitsplatz zu verlieren, weil man zu anderen Ergebnissen als vom Betreuer/von der Professorin gewünscht kommt.

  • #3

    Simon Pschorr (Donnerstag, 24 Juni 2021 21:54)

    @De jure nicht:
    Da muss ich leider (teilweise) enttäuschen. Nach ganz h.M. kommt nur derjenigen Person Wissenschaftsfreiheit gem. Art. 5 Abs. 3 S. 1 GG zu, die selbständig tätig wird. Wiss. Mitarbeiter*innen dürfen gem. § 53 Abs. 1 HRG nur ausnahmsweise selbständig forschen und lehren - nämlich dann, wenn ihnen gem. § 53 Abs. 1 S. 3 HRG Forschung/Lehre ausnahmsweise zur selbständigen Wahrnehmung übertragen ist. Soweit Forschung Gegenstand des Arbeitsverhältnisses ist (Qualifikationsbeschäftigung gem. § 53 Abs. 2 HRG), besteht auch insoweit grds. eine Weisungsbindung (Geis/Pschorr § 53 Rn. 15 f.). M.A.n. ist eine Weisungsbindung allerdings für den Inhalt der eigenen Forschung i.S.d. § 53 Abs. 2 HRG abzulehnen (Geis/Pschorr § 53 Rn. 26). (Nur) insoweit kommt wissenschaftlichen Mitarbeiter*innen eingedenk eigenständiger Forschung die Wissenschaftsfreiheit gem. Art. 5 Abs. 3 S. 1 GG zu (Geis/Pschorr § 53 Rn. 31). Anders gesagt: Wissenschaftliche Mitarbeiter*innen können grds. nicht selbstständig lehren, deswegen kommt ihnen soweit der Schutz der Wissenschaftsfreiheit nicht zu. Andernfalls dürften wissenschaftliche Mitarbeiter*innen eigenständig Vorlesungen ankündigen. Dies will die h.M. unbedingt verhindern. Auch eigene Forschung darf nur im Rahmen der Qualifikationsbeschäftigung (und dort nur für die eigene Forschung zu Qualifikationszwecken) sein. Für lehrstuhlbezogene Forschung (Abgrenzung im Einzelfall regelmäßig unmöglich) ist der Schutzbereich des Art. 5 Abs. 3 S. 1 GG nicht eröffnet.

    Ich hoffe, ich konnte zur Erhellung beitragen.
    Gruß
    Simon Pschorr

  • #4

    Michael Liebendörfer (Donnerstag, 24 Juni 2021 22:44)

    "Nur dann fangen wir an, die reich vorhandenen wissenschaftlichen Kompetenzen und Interessen als wertvolles Angebot zu behandeln"

    Ich nehme mit: viele fühlen sich persönlich als wertlos behandelt, wenn sie nach exzellenter Promotion und tollen Publikationen raus aus der Uni sollen. Vielleicht sollte man die Lösung nicht nur im Wissenschaftssystem suchen, sondern in der Psychologie. Solchen Enttäuschungen könnte man doch sicher etwas besser vorbeugen.

  • #5

    David J. Green (Freitag, 25 Juni 2021 10:02)

    @Th. Klein: Der Grund, warum ich eine Reform für so wichtig halte, ist weniger die 13,5 Jahre, die ich selber im postdoktoralen Prekariat verbrachte, und vielmehr die Verantwortung, die ich als Hochschullehrer und Vorgesetzter für die jungen Leute empfinde. Denn (auch @Michael Liebendörfer) unser System suggeriert einerseits viel zu vielen jungen Menschen viel zu lange, dass sie wertvolle Nachwuchskräfte sind, übernimmt aber dann gar keine Verantwortung für sie, wenn sie doch keine der wenigen Professuren bekommen.

    Und bei dieser Thematik zeigt die Erfahrung, dass es nicht reicht, lokal an der Behebung von einem Druckpunkt zu arbeiten. Denn als solche Ausbesserungsversuche lassen sich sowohl das ursprüngliche WissZeitVG (2007) als auch dessen Verschärfung (2016) deuten: da aber nichts an der Grundproblematik der erdrückend starken, falschen Anreize im System geändert wurde, verfehlten auch diese die beabsichtigte Wirkung. Die Unis blieben im lang bestehenden Gefangenendilemma stecken – wer reformiert, bekommt weniger Drittmittel und ist für Koryphäen als Arbeitgeber weniger attraktiv –, und das einzige, was das Qualifizierungsgebot (2016) wirklich änderte, war die Seitenanzahl eines Antrags auf befristeter Einstellung.

    @Simon Pschorr: Leider sind manche der Abkürzungen mir unbekannt. Mein Verständnis war allerdings, dass einerseits die Wissenschaftsfreiheit für alle in der Wissenschaft Tätigen gilt, andererseits sieht das Bundesverfassungsgericht die Hochschullehrenden als besondere Träger der Wissenschaftsfreiheit, da selbstständig tätig. Ich bin mir aber sicher, dass mein Jenaer Kollege Herr Reitz sich die Lecturer/Reader so vorstellt, dass auch sie selbstständig tätig sind.

  • #6

    De jure nicht (Freitag, 25 Juni 2021 12:04)

    @Simon Pschorr: Vielen Dank für Ihre Ausführungen, die aber gar nicht so sehr im Widerspruch zu meiner Aussage stehen, wie es vielleicht im ersten Moment scheint. Deswegen habe ich ja z.B. davon geschrieben, dass die Wissenschaftsfreiheit für Studierenden innerhalb der "thematischen Rahmensetzung" gilt & dass man als Doktorand befürchten muss, die Unterstützung des Betreuers/der Betreuerin zu verlieren, wenn man zu "Ergebnissen", die im Widerspruch zur Lieblingshypothese des Betreuers/der Betreuerin stehen.

    Wenn man die Wissenschaftsfreiheit in ihre Bestandteile zerlegt (Themenwahl, Fragestellung, Methode, Ergebnisse, Publikation der Ergebnisse), dann wird deutlich, dass Ihre Ausführungen für 1, 2, 3 und 5 zutreffend sind, nicht aber für 4 (zumindest nicht de jure). Ich finde sie leider gerade nicht, aber es gibt Urteile zur Bewertung von studentischen Abschlussarbeiten, in denen sind die Gerichte zu dem Schluss gekommen, dass eine Arbeit gut oder sehr gut zu bewerten ist, auch wenn der Gutachter/die Gutachterin mit den Ergebnissen nicht einverstanden ist, so lange die Methode "sauber" angewendet wurde. Das wurde explizit mit "Wissenschaftsfreiheit" begründet und gilt über die Wissenschaft hinaus für alle, die "wissenschaftlich tätig" sind, also z.B. auch für Arbeitskräfte in Clinical Research Organizations in der Arzneimittelanwendungsforschung. In der Praxis bringt das einem Nachwuchsforschenden natürlich nur wenig, aber diese Freiheit steht auch ihnen zu. Und darüber hinaus auch (de jure) die Freiheit bei der Themenwahl etc. wenn die Arbeit zwar durch eine TZ-Tätigkeit an der Uni finanziert wird, aber außerhalb der Arbeitszeit angefertigt wird.

  • #7

    Tilman Reitz (Freitag, 25 Juni 2021 15:25)

    Eine Anmerkung noch von mir zu den sehr interessanten Beiträgen zur Wissenschaftsfreiheit: Ich finde den Hinweis wichtig, dass in der Gestaltung eigener wissenschaftlicher Arbeiten (de jure) durchaus allen diese Freiheit zukommt. Nicht frei sind Mitarbeitende dagegen, wie Simon Pschorr sachkundig ausführt, sofern sie in Lehre und Forschung weisungsgebunden sind. Es wäre spannend, wie sich das bei Streitigkeiten über die Ausrichtung von Qualifikationsarbeiten auswirkt. Und ich möchte noch auf einen weiteren Aspekt hinweisen: Meiner Kenntnis nach wird auch die garantierte Mehrheit der Professorenschaft in allen Gremienentscheidungen zu Forschung und Lehre mit der Wissenschaftsfreiheit begründet - die in dieser Hinsicht offensichtlich nur den Professor*innen zuerkannt wird. Die Debatte dazu müsste m.E. neu aufgenommen werden - und genau, lieber Herr Kollege Green, mit neu angelegten, nicht mehr weisungsgebundenen Stellen jenseits der Professur würde sich das Problem erledigen.

  • #8

    De jure nicht (Freitag, 25 Juni 2021 16:38)

    "Meiner Kenntnis nach wird auch die garantierte Mehrheit der Professorenschaft in allen Gremienentscheidungen zu Forschung und Lehre mit der Wissenschaftsfreiheit begründet - die in dieser Hinsicht offensichtlich nur den Professor*innen zuerkannt wird. Die Debatte dazu müsste m.E. neu aufgenommen werden [.]".

    Word!

    Ich habe selbst an einer Gruppenuniversität studiert und mir ist erst durch die Tätigkeit an einer deutschen Hochschule bewusst geworden, wie positiv sich das ausgewirkt hat. Österreich hat eine ähnliche Formulierung zur Wissenschaftsfreiheit in der Verfassung wie sie im Art. 5(3) GG steht, aber das Verfassungsgericht hat dort in 1975 im Zuge der Demokratisierung der Hochschulen die paritätische Besetzung der Gremien als vereinbar mit der Wissenschaftsfreiheit betrachtet. Das Ergebnis war ein sehr hoher Stellenwert der Lehre und nur wenige Doktoranden, die vor allem im "normalen" Hochschulbetrieb mit überschaubarem zeitlichen Aufwand beschäftigt waren. Es gab keine Armeen von Drittmittelbeschäftigten und als ein Professor mal zu vielen Doktoranden gegenüber eine Betreuungszusage abgegeben hatte, intervenierte die Selbstverwaltung. An der Uni, an der ich promoviert wurde, wird man damit Rektor - weil man ja so schön viele Drittmittel reingeholt hat.

  • #9

    Simon Pschorr (Sonntag, 27 Juni 2021 15:17)

    @David Green: GG heißt Grundgesetz. Art. 5 Abs. 3 S. 1 GG ist die Wissenschaftsfreiheit. HRG ist die Abkürzung für Hochschulrahmengesetz, das mittlerweile weitgehend durch (identische) Landesgesetze abgelöstes Bundesgesetz zum Hochschulbetrieb.

    @David Green und de jure:
    Wir sind uns weitgehend einig - klar ist, dass nur dort, wo es ein Weisungsrecht geben kann, keine selbstständige Forschung/Lehre vorliegt. Außerhalb des Arbeitsverhältnisses (Studierende und Forschung in der Freizeit) kann jedermann selbstverständlich von der Wissenschaftsfreiheit profitieren.

    Problematisch wird es im Rahmen des Arbeitsverhältnisses. Neben den faktischen Einflussmöglichkeiten durch Androhung des Endes des Arbeitsverhältnisses und Notengebung ist es im Rahmen des Arbeitsverhältnisses möglich, auf Lehre und Forschung unmittelbar Einfluss zu nehmen. Professor*innen können Anweisungen erteilen und deshalb wissenschaftliche Inhalte ihrer WiMis beeinflussen. Dies kann so weit gehen, dass Lehrinhalte und Forschungsergebnisse inhaltlich vorgegeben werden können (nochmal wiederholt: Nur Forschung und Lehre im Rahmen des Arbeitsverhältnisses; dies gilt z.B. nicht für Lehre als Lehrauftrag, da diese gem. § 55 HRG selbständig erteilt wird).

    In der Realität ist das die absolute Ausnahme. Allerdings kommen solche Möglichkeiten immer dann zum Tragen, wenn Kooperationsverhältnisse gestört sind - dann werden Weisungsrechte plötzlich zu einem untolerierbaren Gängelband. Gibt es Konflikte mit dem *der Vorgesetzten, besteht die Gefahr, dass benannte Einflussmöglichkeiten missbraucht werden.

    Gruß
    Simon Pschorr

  • #10

    De jure nicht (Montag, 28 Juni 2021 11:16)

    @Simon Pschorr: Das Tragische ist, dass der Zusatz zum TV-L für die Wissenschaft schon eine Sonderregelung vorsieht und da dann leider auch die Einflussmöglichkeiten "von außen" aufhören: Die Wissenschaftsfreiheit für alle, die "wissenschaftlich tätig" sind, steht im Grundgesetz, in den Landesgesetzen und im Tarifvertrag - und ist wegen der besonderen Abhängigkeitsverhältnisse in der Wissenschaft in der Praxis trotzdem ständig gefährdet, weil die Abhängigkeit in Kombination mit der Selbstverwaltung der Hochschullehrerschaft auch die notwendige gerichtliche Klärung unterbindet. Zitat aus einem Urteil des LAG SH zu einem Mobbing-Fall am UKSH (Az. 3 SaGa 7 öD/19):

    "Der Vertragsarbeitgeber ist jedoch rechtlich verantwortlich für die Einhaltung der Vorgaben des Arbeitsvertrages und die korrekte Ausübung des Direktionsrechts unter Beachtung billigen Ermessens und kann sich nicht seiner durch gesetzliche Spielregeln und Grenzen festgelegten Verantwortung unter Hinweis auf andere Beschäftigtengruppen entledigen."

    Damit wären die Dienstvorgesetzten des wissenschaftlichen Personals (in der Regel die Rektorate, manchmal auch die Ministerien) in der Verantwortung, den Missbrauch der Weisungsbefugnisse auf der Ebene der einzelnen Arbeitsverträge zu verhindern und ggf. zu sanktionieren. Ist aber - bei mit Hochschullehrermehrheit gewählten Rektor*innen und Ministerien, die vor der Hochschullehrerschaft zittern - eher unwahrscheinlich. Letztlich bleibt da nur ein Systemwechsel.