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Vertrauensverlust

Die Gesundheitsminister wollen die Impfung der Jugendlichen ohne Empfehlung der Ständigen Impfkommission forcieren. Das war nach den Angriffen der vergangenen Wochen zu erwarten. Was die Entscheidung bedeutet – und warum die Stiko-Debatte von noch wichtigeren Fragen abgelenkt hat.

DIE GESUNDHEITSMINISTER VON BUND UND LÄNDERN haben sich auf eine Impfkampagne für 12- bis 17-Jährige geeinigt. Konkret beschlossen sie gestern unter anderem, dass künftig alle Länder auch in den Impfzentren Impfungen für ältere Kinder und Jugendliche anbieten. Ohne dass eine entsprechende Empfehlung durch die beim Robert-Koch-Institut angesiedelte, aber von ihm unabhängige Ständige Impfkommission (Stiko) vorliegt.

 

Nach den wochenlangen Debatten um die Stiko war die Entscheidung der Gesundheitsminister ein in sich stimmiger nächster Schritt: Die Politik wollte die umfassende Impfung möglichst aller älteren Kinder unbedingt, doch die Stiko wollte ihren Segen dazu (noch) nicht geben. Und so handelte die Politik schließlich auch ohne ihn.

 

Allerdings nicht ohne vorher die Institution Stiko insgesamt nachhaltig zu beschädigen. Unvergessen vor allem der Ausspruch von Bayerns CSU-Ministerpräsident Markus Söder, die Stiko arbeite im Gegensatz zur Europäischen Arzneimittelagentur "ehrenamtlich". Wörtlich sagte Söder im Bayerischen Rundfunk: "Die EMA – die Europäische Zulassungsbehörde – das sind die Profis. Die haben entschieden: Ja, der Impfstoff ist zugelassen."

 

Die implizite Unterstellung – die Stiko bestehe aus Amateuren – war abenteuerlich, wenn man weiß, welche medizinischen Experten sie versammelt. Und dass fast alle hochrangigen Beratungsgremien in Politik und Wirtschaft nach dem Prinzip der Ehrenamtlichkeit funktionieren. Doch es war ein bewusster Angriff auf die Unabhängigkeit der Wissenschaft, den Söder da fuhr. Obwohl er doch sonst immer zu den ersten gehört, der sich bei seiner Corona-Politik auf "die Wissenschaft", was auch immer das ist, beruft. Aber eben nur solange es passt. 

 

Die wochenlangen Angriffe
haben ihr Ziel erreicht

 

Die wochenlangen Angriffe Söders und anderer Politiker und Funktionäre haben jedenfalls ihr Ziel erreicht. Das Image der Stiko ist beschädigt, weswegen auch die Kritik an der Entscheidung der Gesundheitsminister erstaunlich gering ausfiel. Dabei wäre diese Kritik angemessen gewesen – selbst von Seiten derjenigen, die eine Impfung der Kinder und Jugendlichen inhaltlich begrüßen.

 

Warum? Weil unsere Gesellschaft gerade in der Krise Institutionen braucht, die Vertrauen genießen und deren unabhängige Entscheidungen auch dann respektiert werden, wenn man sie im Einzelfall für falsch hält.

 

Nun wird allenthalben betont, die Gesundheitsminister hätten sich gar nicht über die Stiko hinweggesetzt, weil diese ja nicht von einer Impfung aller Kinder abgeraten hätte. Das ist formal richtig – nur hatte die Stiko eben ganz bewusst ausschließlich empfohlen, 12- bis 17-Jährige mit Vorerkrankungen zu impfen, weil bei diesen das mit einer Covid-19-Erkrankung einhergehende Risiko auf jeden Fall größer sei als das (nach Meinung der Stiko noch nicht ausreichend erforschte) Risiko, durch die Impfung selbst gesundheitliche Schädigungen zu erleiden.

 

Die Stiko hat selbst einen Beitrag
zu ihrer Beschädigung geleistet

 

Zur Wahrheit gehört allerdings auch, dass die Stiko zuletzt selbst einen nennenswerten Beitrag zu ihrer fortgesetzten Beschädigung geleistet hat. Man konnte es gut an der wachsenden Ungeduld vieler Kinder- und Jugendärzte ablesen, die die Weigerung der Stiko-Experten, eine Empfehlung abzugeben, zunächst noch engagiert verteidigt hatten – auch und gerade gegen die Politik. Vor ein paar Tagen allerdings sagte dann Thomas Fischbach, der Präsident des Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte, er ärgere sich "über die intransparente Art, wie da im Moment gearbeitet wird." Die Stiko sage, dass sie die Datenlage nicht für ausreichend halte, ergänzte Fischbach gegenüber der Funke-Mediengruppe. Doch die Stiko sage nicht, "warum man das so einschätzt, und auch nicht, wann es denn ausreichend wäre." Es müsse inzwischen Daten geben, in anderen Ländern würden Millionen Kinder über zwölf Jahre geimpft. 

 

Die Stiko selbst hat zwar in der Tat immer betont, dass ihre Einschätzung vorübergehend sei und sich jederzeit ändern könne. Doch wann genau ist dieses "jederzeit" eigentlich? 

 

Hinzu kommt etwas, worauf heute zuletzt Sebastian Dullien, der wissenschaftliche Direktor des Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung der Hans-Böckler-Stiftung, in der WELT hinwies: Ähnliche Gremien in mehreren anderen Ländern haben längst anders als die Stiko entschieden und –mit Abstufungen – die Impfung von Jugendlichen haben empfohlen. Während in Deutschland so getan werde, als sei die Entscheidung und der Entscheidungsprozess der Stiko der einzig wissenschaftliche richtige Weg und Kritik daran deshalb Kritik an der Wissenschaft, sagt Dullien: "Trotz Wochen der Kritik haben sich die Stiko-Mitglieder nicht die Mühe gemacht, der Öffentlichkeit im Detail zu erklären, wie es sein kann, dass Fachkollegen in den Nachbarländern zu einem gegensätzlichen Ergebnis kommen."

 

Freilich nicht alle Fachkollegen in allen Nachbarländern. Zum Beispiel wollten die Schwestergremien in Dänemark oder Großbritannien bislang ebenfalls keine grundsätzliche Empfehlung aussprechen.

 

Hoffen wir einfach einmal im Interesse der Kinder und Jugendlichen, dass die anderen internationalen Impfkommissionen, auf die Dullien anspielt, und übrigens auch die Sächsische Impfkommission, richtig lagen und die Stiko und andere Gremien übervorsichtig gehandelt haben.

 

Weil das nämlich bedeuten würde, dass die Risiken der Impfung tatsächlich so gering sind, dass diese bei vollkommen gesunden 12- bis 17-Jährigen in der individuellen (wohlgemerkt nicht in der gesamtgesellschaftlichen Abwägung!) einen ausreichend großen zusätzlichen Nutzen bietet. Und hoffen wir zudem, dass die Reputationsverluste, die die Politiker in Deutschland bewusst einer wichtigen wissenschaftlichen Institution beigebracht haben, diese nicht dauerhaft in ihrer Wirkmächtigkeit einschränken.

 

Das Problem der Reiserückkehrer wurde
derweil sträflich vernachlässigt

 

Fest steht jedenfalls eines: Während Deutschland wochenlang fast wie besessen über Stiko und Kinderimpfungen gestritten hat, sind einige – zweifellos drängendere – Pandemie-Gefahren sträflich vernachlässigt worden. Zum Beispiel das Risiko, das von Urlaubern und Reiserückkehrern ausgeht. Seit Wochen sind die Inzidenzen in den Bundesländern, die als erstes in die Sommerferien gegangen sind, deutlich stärker gestiegen als im Rest der Republik. Diese Urlauber waren es, die die vierte Welle angetrieben haben. Gar nicht viel anders, als es im vergangenen Sommer mit der zweiten Welle war. 

 

Nur dass es auch diesmal kaum jemand wahrgenommen hat. So brauchte die Bundesregierung bis Anfang August, um neue Regelungen für Reiserückkehrer in Kraft zu setzen. Da waren in Berlin, Brandenburg, Hamburg, Schleswig-Holstein und Mecklenburg-Vorpommern allerdings die meisten Urlauber längst schon wieder zu Hause.  



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