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Kultusminister fordern Abkehr von der Inzidenz als alleinigen Bewertungsmaßstab

Kontinuierlicher Präsenzunterricht sei das "Gebot der Stunde" und müsse "höchste Priorität" erhalten, bekräftigen die Bildungspolitiker im Vorfeld des Corona-Krisentreffens ihrer Regierungschefs. Auch an Hochschulen müsse der Präsenzbetrieb wieder Regelfall werden.

VIER TAGE vor dem vorgezogenen Corona-Krisentreffen der Regierungschefs von Bund und Ländern haben die Kultusminister für eine Abkehr von der Inzidenz als alleinigen Bewertungsmaßstab auch für den Schulbetrieb plädiert. 

 

Vor allem das Recht auf Bildung mache Schulen "systemrelevant", kontinuierlichem Präsenzunterricht müsse daher im Schuljahr 2021/2022 in der Gesellschaft "höchste Priorität" eingeräumt werden, heißt es im heute Nachmittag veröffentlichten Beschluss der Kultusministerkonferenz (KMK). Zudem müssten Präsenzveranstaltungen auch an den Hochschulen wieder zum Regelfall werden (siehe Kasten).

 

Selbst bei einer im Herbst zu erwartenden erhöhten Infektionsdynamik solle die Situation vor Ort entscheidend für weitere Schritte sein, betonen die Kultusminister. Aufgrund der Impfquote und bestehender Testkonzepte an den Schulen erscheine die gesellschaftliche Infektionshäufigkeit, auch in bestimmten Altersgruppen, nicht mehr allein ausschlaggebend für die Bewertung der Pandemie-Lage.

 

Die Gesundheitsbehörden sollten "angemessen, transparent und einheitlich reagieren", fordert die KMK. Schulschließungen sollten möglichst vermieden werden und möglichst wenige Schülerinnen und Schüler von Quarantänemaßnahmen betroffen sein. 

 

KMK beruft sich auf
"wissenschaftliche Einschätzung"

 

Bei ihrer Einschätzung beruft sich die KMK auf die "Sicht vieler Experten". Welche genau sie damit meint, sagt sie in der Pressemitteilung nicht.

 

Doch tatsächlich waren in der KMK-Präsidiumssitzung vergangene Woche mehrere hochrangige Wissenschaftler zu Gast und haben ihre Erkenntnisse präsentiert. Diese Erkenntnisse scheinen die Kultusminister nun aufzugreifen. In ihrem Beschluss heißt es wörtlich:

 

"Gemäß wissenschaftlicher Einschätzung ist zu betonen, dass 

 

• durch das Impfangebot Schutzmöglichkeiten mittlerweile für einen Großteil der Bevölkerung bestehen,

 

• die Delta-Variante zwar insgesamt ansteckender ist, aber nicht zu schwereren Krankheitsverläufen bei Kindern und Jugendlichen führt. Kinder und Jugendliche sind nach aktuellem Kenntnisstand unabhängig von den Varianten selten schwer betroffen,

 

• die Konsequenzen fehlender Bildungsangebote und -chancen eine hohe Belastung der sozial-emotionalen Entwicklung von vielen Kindern und Jugendlichen sind und die psychischen und körperlichen Einschränkungen im Zuge von Schulschließungen eine sehr ernst zu nehmende und konkrete Gefahr für deren soziale und emotionale Gesundheit darstellen."

 

KMK: Kinder und ihre Familien
haben genug verzichtet

 

Den Bedürfnissen von Kindern, Jugendlichen und ihren Familien müsse jetzt "höchste Priorität" eingeräumt werden, fordern die Kultusminister, "gerade weil sie in der Vergangenheit auf viele Freiheiten und Möglichkeiten der Persönlichkeitsentfaltung haben verzichten müssen."

 

Denn in den beiden vergangenen Schuljahren hätten die Schülerinnen und Schüler mangels Impfmöglichkeiten "durch Wechselunterricht und Schulschließungen und den damit verbundenen Kontaktreduzierungen ihren Beitrag zum Schutz der gesamten Bevölkerung geleistet".

 

Die entscheidende Stellschraube für die Eindämmung der Pandemie und den Schutz von Menschen, die sich nicht impfen lassen können, sei eine möglichst hohe Impfquote unter Erwachsenen. "Erwachsene tragen durch ihre Impfung maßgeblich dazu bei, das Infektionsgeschehen auch bei Kindern und Jugendlichen zu reduzieren." Die Kultusminister wiesen auch auf die Impf-Möglichkeit für alle 12- bis 17-Jährige nach umfassender ärztlicher Beratung hin, deren Ausweitung die Gesundheitsminister von Bund und Ländern ohne Empfehlung der Ständigen Impfkommission beschlossen hatte. 

 

Vollständiger Präsenzunterricht am "Lern- und Lebensort Schule mit allen damit verbundenen Möglichkeiten" (gemeint sind offenbar vor allem auch gemischte Kohorten) sei die Grundlage zur individuellen Persönlichkeitsentwicklung und zugleich eine zentrale Voraussetzung, um das Aktionsprogramm "Aufholen nach Corona" mitsamt seiner landesseitigen Konterparts wirksam umsetzen zu können. 

 

Schulen als "sichere" Orte

in der Pandemie?

 

Etwas zwiespältig ist es, wenn die Kultusminister in ihrem Beschluss bekräftigen, im Vergleich zum vergangenen Schuljahr stelle sich der Start ins Schuljahr 2021/22 anders dar. Die Konzepte zum Infektionsschutz an den Schulen seien deutlich ausgebaut worden. "Schulen sind auch in Zeiten der Pandemie sichere Orte. Daher soll und kann Schule im Präsenzunterricht stattfinden", besagt der gemeinsame Beschluss. KMK-Präsidentin Britta Ernst (SPD), im Hauptberuf Bildungsministerin von Brandenburg, ergänzt: "Die Voraussetzungen für den Präsenzunterricht sind gut und gänzlich andere als vor einem Jahr."

 

Bedeutet dies im Umkehrschluss, dass die Kultusminister einräumen, dass die Schulen im vergangenen Schuljahr keine sicheren Orte gewesen seien? Was erst einmal eine triviale Aussage wäre inmitten einer Pandemie und doch von Ministern immer wieder anders behauptet worden war. Auch in der aktuellen Beschlussfassung wäre es wohl passender und sollte besser heißen: Schulen sind auch in Zeiten der Pandemie vergleichsweise sichere Orte – sicherer zum Beispiel als der Aufenthalt in Urlaubsregionen, wie die sprunghaft angestiegenen Inzidenzen gerade unter jungen, größtenteils noch ungeimpften Menschen in der Ferienzeit belegt.

 

Auch den allerersten Satz ihres Beschlusses hätten sich die Minister besser gespart. "Die Kultusministerkonferenz stellt fest, dass der Start in das neue Schuljahr 2021/22 durch die Länder umfassend vorbereitet wurde." "Umfassend"? Ist so ein Satz bei irgendwo einmal in Bezug auf Pandemie-Sicherheitsmaßnahmen angezeigt? Suggeriert er nicht, neben dem Eigenlob, etwas, das gar nicht geht – und sorgt deshalb automatisch und berechtigt für Widerspruch?

 

Die Kultusminister betonten jedenfalls an anderer Stelle, dass die im Februar beschlossene sogenannte S3-Leitlinie mit ihren „"Maßnahmen zur Prävention und Kontrolle der SARS-CoV-2-Übertragung in Schulen" weiter einen wichtigen Beitrag zum Gesundheits- und Infektionsschutz sowie zur Sicherstellung von Präsenzunterricht leiste. Deren Umsetzung in Form aktueller Hygienepläne und der von den einzelnen Kultusministerien veröffentlichen Hygienerichtlinien hatte der gerade veröffentlichten Zwischenbericht des "CORONA-SCHULEN"-Forschungsprojekts allerdings als zwischen den Ländern "sehr divers" bezeichnet. 

 

Je nach Infektionsgeschehen sollten die Corona-Tests in den Schulen weitergehen, zur Minderung der Aerosolkonzentration in den Unterrichtsräumen werde in regelmäßigen Abständen während des Unterrichts und in den Pausen quergelüftet. Das sei ausreichend wirkungsvoll für den Infektionsschutz, betonen die Kultusminister: "Qualitätsgeprüfte, mobile Luftfilter können ergänzend eine zusätzliche Wirkung entfalten." Dieser rhetorischen Zurückhaltung zum Trotz haben fast alle Länder inzwischen trotzdem eigene Luftfilter-Förderprogramme beschlossen. 

 

"Erwiesenermaßen" seien die Schulen dann am besten geschützt, "wenn sich so viele der bisher noch nicht geimpften 20 Millionen Erwachsenen impfen lassen", sagte Hessens Kultusminister Alexander Lorz (CDU). "Wir sind unseren Kindern, die lange genug zu Gunsten der Erwachsenen zurückstecken mussten, diese Unterstützung mehr als schuldig!" Hamburgs Bildungssenator Ties Rabe sagte in Richtung der Regierungschefs:"Wir fordern... sehr klar, in Zukunft Schulschließungen nur als ultima ratio in Erwägung zu ziehen.“



Kultusminister fordern vom Bund Planungssicherheit für die Hochschulen

Deutschland brauche im Wintersemester 2021/22 ein "Studium vor Ort", konstatieren die Kultusminister in ihrem Beschluss. 

 

Ein weiteres Digitalsemester sei angesichts der Impfmöglichkeiten für die Erwachsenen nicht mehr erforderlich, weshalb der Präsenzbetrieb "unter Berücksichtigung der jeweiligen Bedingungen und Gegebenheiten vor Ort" wieder zum Regelfall werden müsse. 

 

Die deutschen Hochschulen hätten seit März 2020 mit höchstem Einsatz und größter Anpassungsfähigkeit auf die Herausforderungen der Pandemie reagiert und die Grundlagen für "zukunftsweisende digitale Lehre und eine Forschung unter völlig veränderten Bedingungen" gelegt. Von diesem digitalen Entwicklungsschub werde die Hochschullehre auch künftig massiv profitieren. 

 

Doch müsse man jetzt zurück zum Präsenzstudium, denn das Studieren, Lehren und Forschen lebe vom direkten Kontakt und Austausch, hinzu kämen die psycho-sozialen Auswirkungen der Schließungen nicht nur für die Studierenden. Erneute einschränkende Maßnahmen nur noch als letzter Schritt "im Rahmen eines Gesamtkonzepts der Pandemiebekämpfung" in Erwägung gezogen werden. 

 

Möglichst viele Studierende müssten überzeugt werden, vom Impfangebot Gebrauch zu machen. Der Zugang zu Präsenzveranstaltungen könne vom Nachweis einer Impfung, einer Genesung oder eines negativen Tests (3-G-Prinzip) abhängig gemacht werden, "wenn es der Infektionsschutz vor Ort erfordert". Um genügend Raumkapazitäten für die Präsenzlehre zu erreichen, seien analog zum  Schulbetrieb

Ausnahmen vom Mindestabstand von 1,5 Metern nötig. Einen ersten Schritt könne die Sitzordnung im "Schachbrett"-Muster darstellen. Je nach fortschreitender Impfkampagne und der Situation vor Ort könnten dann weitergehende Ausnahmen bis zur vollständigen Aufhebung des Mindestabstands erfolgen – flankiert vom Tragen medizinischer Masken und geeigneten Lüftungskonzepten. 

 

In Richtung Bundesregierung mahnten die Kultusminister, für das Studium vor Ort benötigten die Hochschulen Planungssicherheit. "Der noch im Vierten Gesetz zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite vorgesehene Mechanismus, Präsenzveranstaltungen bei Überschreiten bestimmter Inzidenzwerte zu untersagen, mindert diese Planungssicherheit erheblich." Gerade für Studienanfänger, Abschlussjahrgänge und  bei Lehrveranstaltungen mit hohem diskursivem oder praktischem Anteil müsse  ein Studium in Präsenz möglich sein. 

 

Die schleswig-holsteinische Kultus- und Wissenschaftsministerin Karin Prien (CDU) sagte: "Nach drei Digitalsemestern müssen wir unsere Studierenden in die Hochschulen zurückholen und so viel Studiennormalität wie möglich gewährleisten." Das Studium sei für die meisten Studierenden eine prägende Lebensphase, die mit neuen Freundschaften und persönlicher Weiterentwicklung einhergehe. "Dazu gehört zwangsläufig das Lernen, Diskutieren und Forschen in Präsenz."

Gleichzeitig müssten der digitale Innovationsschub und die Erkenntnisse aus den vergangenen Semestern genützt werden, um das Zusammenspiel von virtuellen und Präsenzformaten weiterzuentwickeln und nachhaltige Arbeitsweisen zu befördern.




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