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Schaut bitte genau hin!

Die Corona-Zahlen steigen langsamer. Das liegt vor allem an den Ländern, in denen wieder Schule ist. Wann erreicht diese statistisch eindeutige Schlussfolgerung endlich die Talkshows, Meinungsspalten und sozialen Medien dieser Republik?

WAR DAS NUR EIN AUSREISSER nach unten, oder kommt die vierte Welle ins Abflauen? Heute Morgen meldete das Robert-Koch-Institut (RKI) zum ersten Mal seit fast zwei Monaten im Wochenvergleich leicht fallende Infektionszahlen. Nachdem das Inzidenz-Wachstum in den vergangenen Tagen schon merklich und zuletzt erstaunlich schnell zurückgegangen war. Was passiert da gerade? Und wie nachhaltig ist die Entschleunigung? 

 

Mit Sicherheit kann das keiner sagen, aber die Corona-Zahlen der vergangenen Tage und Wochen liefern Anhaltspunkte. Sie zeigen einmal mehr, welch überragende Bedeutung die Urlaubszeit dabei gespielt hat, die Infektionen hochzutreiben. Und wie dämpfend umgekehrt die Rückkehr zum Alltag und zum Schulunterricht wirken. 

 

Die Zahlen sind so eindeutig, dass es immer unverständlicher wird, warum sich das Narrativ von der Durchseuchung der Kinder ausgerechnet durch den Schulunterricht immer noch hält. Belegen doch die RKI-Statistiken das Gegenteil: Schule scheint derzeit der beste Weg zu sein, um das Infektions-Wachstum bei Kindern zu drücken. Weil dort im Gegensatz zur Gesellschaft – bei allen Mängeln – offenbar eben doch mit die strengsten Sicherheitsvorkehrungen herrschen. Doch nun erstmal zu den Zahlen und zu ein paar erstaunlichen, erfreulichen und besorgniserregenden Beobachtungen.

 

1. Die Inzidenzen steigen in den Ferienländern erneut am stärksten

 

Bayern und Baden-Württemberg, die beiden Bundesländer, die wie immer als letzte in die Ferien gestartet sind, holen erwartungsgemäß den Rest der Corona-Dynamik nach, den fast alle übrigen Bundesländer zuvor schon in ihre Urlaubszeit durchlaufen haben. Konkret: In den vergangenen sieben Tagen stieg die vom RKI gemeldete Inzidenz in Bayern um 55, in Baden-Württemberg sogar um 62 Prozent. Bundesweit waren es im selben Zeitraum nur 29 Prozent. Mit 7-Tages-Inzidenzen von aktuell 70 bzw. 78 haben die beiden Süd-Länder inzwischen ziemlich genau den Bundesdurchschnitt (74,8) erreicht, den sie sich, während bei ihnen noch Schule war, von unten anschauen konnten. Absehbar werden sie in den nächsten zwei Wochen deutlich darüber hinausschießen. Krass ist in Bayern und Baden-Württemberg auch das gemeldete Fall-Wachstum bei den Kindern und Jugendlichen. Bei den 0- bis 4-Jährigen: +93 Prozent allein in der am Sonntag zu Ende gegangenen Kalenderwoche 34. Bei den 5- bis 14-Jährigen: +98 Prozent.

 

2. Da, wo wieder Schule ist, stagnieren die Inzidenzen – oder sinken sogar 

Als erste sind Berlin, Brandenburg, Schleswig-Holstein, Hamburg und Mecklenburg-Vorpommern schon vor einem (knappen) Monat aus den Sommerferien zurückgekehrt. Die ersten zehn Tage danach stiegen die Inzidenzen dann noch rapide, seitdem stagnieren sie oder gehen sogar zurück. Nimmt man alle fünf Länder zusammen, so ergab sich in der am Sonntag zu Ende gegangenen Kalenderwoche 34 ein Mini-Inzidenzminus von 0,9 Prozent zur Vorwoche. Im Vergleich zu +29 Prozent bundesweit und +55 bzw. +62 Prozent in Bayern und Baden-Württemberg. In den vergangenen sieben Tagen ging die Inzidenz in Schleswig-Holstein von 48 auf 47 zurück. In Berlin stieg sie von 69 auf 72 (+3), in Mecklenburg-Vorpommern von 29 auf 32 (+3), in Brandenburg von 24 auf 27 (+3) und in Hamburg von 71 auf 80 (+9). Zum Vergleich: +17 Inzidenzpunkte bundesweit.

 

Wer glaubt, dass all dies nichts mit dem Ende der Urlaubszeit und dem wieder gestarteten Schulunterricht zu tun hat, der werfe einen Blick auf die Inzidenzen der Kinder und Jugendlichen in den fünf genannten Bundesländern: In der Altersgruppe der 5- bis 14-Jährigen gab es im Wochenvergleich einen Rückgang um gut 9 Prozent. Ebenso bei den 15- bis 19-Jährigen. Allein bei den 0- bis 4-Jährigen stieg die RKI-Inzidenz in den fünf Ländern zusammengenommen um 19 Prozent. Zum Vergleich: Sie erinnern sich an das Fallwachstum in Bayern und Baden-Württemberg.

 

3. NRW hat die Ferienabschlussbilanz hinter sich, auch dort entspannt sich die Situation

Eben noch war Nordrhein-Westfalen DAS Sorgenland Nummer 1 mit einem enormen Wachstum bei den gemeldeten Neuinfektionen um 80 Prozent von Kalenderwoche 32 zu 33, also direkt zu Beginn des neuen Schuljahrs. Schon vor einer Woche war zu erwarten, dass NRW die Entwicklung der anderen fünf Wieder-Schule-Länder nachzeichnen würde, doch natürlich ist es beruhigend zu sehen, dass es tatsächlich so gekommen ist: Das Corona-Wachstum im größten Bundesland ist geradezu eingebrochen. Von besagten 80 Prozent auf 17 Prozent in der am Sonntag zu Ende gegangenen Kalenderwoche. Das ist immer noch viel zu viel, aber der Rückgang ist gewaltig und erklärt zugleich ein gutes Stückweit das Abflachen der deutschen Corona-Kurve insgesamt. 

 

Mit 125 liegt die vom RKI berechnete 7-Tages-Inzidenz immer noch weit über dem deutschen Durchschnitt, doch besteht Hoffnung, dass Dynamik weiter nachlässt. Warum? Weil ein gutes Stück von ihr verursacht war durch die Wiederaufnahme der Pflichttests in den Schulen. Die haben auch in NRW für ein Ehrlichmachen der Ferienbilanz in den ersten Schulwochen gesorgt, und dieser Effekt ist jetzt durch. Während die Hygienemaßnahmen und Tests in den Schulen weiter wirken. So gut, dass das 7-Tage-Fall-Wachstum bei den 5- bis 14-Jährigen binnen Wochenfrist von 197 auf nur noch 21 Prozent gefallen ist. Bei den 15- bis 19-Jährigen von 112 auf sogar nur noch 4 Prozent. Ein Riesenerfolg der Hygienekonzepte in den Schulen. 

 

4. Die Lage auf den Intensivstationen wird ernster, bleibt aber eine andere als in der zweite Welle

Die zweite Welle begann deutlich später als als die jetzige vierte: so richtig erst im Oktober, dann aber mit Kraft. Das zeigt der Vergleich der vom RKI angegebenen bundesweiten 7-Tages-Inzidenzen von damals und heute.

 

10./17./24./31. August 2021: 24/37/58/75. 

05./12./19./24. Oktober 2020: 17/28/45/81. 

 

Interessant ist, wenn man die Patientenzahl auf den Intensivstationen dem gegenüberstellt: 

 

10./17./24./31. August 2021:  442/574/805/1.096.

05./12./19./24. Oktober 2020: 447/590/851/1.362.

 

Drei Beobachtungen. Erstens: 2020 lag die Zahl der Intensiv-Patienten im Oktober schon bei niedrigeren Inzidenzen auf vergleichbarem oder sogar etwas höherem Niveau als in diesem Jahr. Zweitens: Die Dynamik wurde vergangenen Herbst dramatisch stärker, während sie aktuell nachlässt. Drittens: Die Inzidenzen sagen in ihrer Tendenz auch heute noch etwas aus, nur hat sich die Rechengröße zwischen Inzidenzen und Intensiv-Belegung geändert. Anders formuliert: Es kommen weniger schwere Fälle auf dieselbe Inzidenz. Wieviel weniger, das ist komplex zu berechnen und ändert sich noch dazu ständig durch den wechselnden Anteil der Altersgruppen an den Neuinfektionen und die steigenden Impfquoten. Fest steht: Schon jetzt ist Dynamik auf den Intensivstationen eine spürbar geringere als vergangenen Sommer, und die Diskrepanz wird erstmal noch größer werden, weil die Inzidenzen zuletzt deutlich langsamer zunahmen als 2020. Letztes Jahr schaltete Corona Ende Oktober sogar erst so richtig den Turbo an. 

 

Die Krankenhaus-Einweisungen beziehe ich übrigens bis auf Weiteres nicht in meine Analyse ein. Dafür müsste das RKI, wie ich vergangene Woche gezeigt habe, ihnen erst einmal eine andere Grundlage geben. 

 

5. Was ist mit den Älteren?

Das alles soll jedoch keine vollständige Entwarnung sein. Denn erstens kommt die kalte Jahreszeit erst noch, auch wird die in den Ferien gesammelte Infektionsdynamik kurzfristig gerade nach Bayern und Baden-Württemberg weiter hineindrücken. Am Ende hängt jedoch alles davon ab, wieviele Ältere sich in den nächsten Woche und Monaten mit dem Coronavirus infizieren und wie viele von ihnen umgeimpft sind.

 

Hier erinnert die Debatte ans vergangene Jahr: Während man über die Kinder und Schulen stritt, stiegen zunächst völlig unbeobachtet von der breiten Öffentlichkeit die Corona-Fälle bei den Älteren. Aktuell ist es schon wieder so: In der vergangenen Kalenderwoche 34 hat sich die Zahl der gemeldeten Neuinfektionen bei den 60- bis 79-Jährigen um 40 Prozent erhöht, bei den Über-80-Jährigen sogar um 49 Prozent. Absolut zwar noch auf niedrigem Niveau, aber schon (fast) doppelt so schnell wie im Bundesschnitt. Und zuletzt auch deutlich schneller als bei den komplett oder überwiegend ungeimpften 5- bis 14-Jährigen (+32 Prozent). 

 

Reden wir bald mal wieder mehr darüber? Zum Glück ist die Situation dank der Impfungen nicht mit dem vergangenen Jahr vergleichbar. In der Woche vom 19. bis 25. Oktober waren die bundesweiten Infektionszahlen halbwegs auf dem Niveau der vergangenen Woche (74.730 versus 63.051), doch meldete das RKI damals 9653 neuinfizierte 60- bis 79-Jährige und 3877 neue Corona-Fälle bei den Über-80-Jährigen. Zum Vergleich die vergangene Woche: 3.152 und 978. Doch sind die "nur" 978 neuinfinzierten Über-80-Jährigen immer noch 12-mal so viele wie vor acht Wochen. 

 

6. Und wie geht es weiter?

Hoffentlich mit einer differenzierteren Debatte, die die Pandemie-Realität des Spätsommers 2021 evidenzbasiert wahrnimmt. Erstens: Das Urlaubende und der Start ins neue Schuljahr dämpfen das Corona-Wachstum. Man kann nur sagen: Gut, dass die Kinder und Jugendlichen wieder zur Schule gehen. Und: Das ständige und zunehmend platte Schlechtreden der Hygiene-Standards in den Schulen muss dringend aufhören, es entspricht nicht der gegenwärtigen Realität. Zweitens: Der nächste Inzidenz-Schub steht kurz bevor. Rheinland-Pfalz, das Saarland und Hessen sind gerade ins neue Schuljahr gestartet, in den nächsten Tagen folgen nacheinander Niedersachsen, Bremen, Sachsen-Anhalt, Sachsen und Thüringen. Was auch dort die Rückkehr der Corona-Pflichttests bedeutet und damit das nun schon bekannte Ehrlichmachen nach der Urlaubszeit. Wie wäre es, wenn wir uns die Hysterie diesmal sparen? Anstatt die immer gleiche, aber nicht evidenzbasierte Schulen=Durchseuchung-Diskussion zu führen, sollten wir den Wert offener Schulen begreifen – zum Lernen und für die Teilhabe der Kinder und Jugendlichen, aber offenbar auch für ihre Gesundheit. Drittens hätten wir dann nämlich Zeit gewonnen, uns die Situation bei den Erwachsenen und vor allem bei den älteren Menschen genauer anzuschauen. Viele von diesen scheinen zu denken, für sie sei die Pandemie vorbei. Womöglich irren einige sich da. 

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Kommentare: 2
  • #1

    Gernot Lauser (Dienstag, 31 August 2021 17:17)

    Wieder mal eine recht gut durchdachte und sehr nüchterne Analyse! Warum kommen solche Einschätzungen nicht vom RKI oder von anderen Spezialisten? Ich sehe nicht ein, daß "Profis" sich hier die Butter vom Brot nehmen lassen. Haben denn alle Angst davor, von den offiziellen und/oder den (un)sozialen Medien verfrühstückt zu werden?

  • #2

    Rainer (Dienstag, 31 August 2021 21:11)

    Klar scheint mir zu sein, dass die Reiserückkehrer die Inzidenz nach oben getrieben haben. Das sieht man ganz gut an Schleswig-Holstein.

    "Fest steht: Schon jetzt ist Dynamik auf den Intensivstationen eine spürbar geringere als vergangenen Sommer,...." Dem stimme ich nicht zu oder verstehe es nicht.

    Die eine oder andere Graphik wäre bei den vielen Zahlen ganz hilfreich. Danke.