· 

Gespaltene Corona-Republik

Das Muster wird immer klarer: Die Ferien haben die Infektionen getrieben, die Schulen beruhigen die Dynamik wieder. Und während dort, wo Unterricht ist, die Zahl der infizierten Kinder teilweise sogar sinkt, klettern die Inzidenzen bei den Alten immer stärker. Eine Analyse aller wichtigen aktuellen Meldezahlen.

Die vierte Welle und ihr Verlauf bislang. Foto: Screenshot aus dem RKI-Dashboard. 

WIE VIELE SCHULKINDER MÜSSEN künftig in Quarantäne, wenn es in ihrer Klasse einen Corona-Fall gibt, und wie lange? Darüber debattiert Deutschland heute, nachdem die Gesundheitsminister der Länder sich auf neue Regeln für Schülerinnen und Schüler geeinigt haben (siehe Kasten). Die einen warnen vor einer "Durchseuchung" der Kinder und Jugendlichen, die anderen finden die neuen Vorschriften immer noch viel zu weitgehend. 

 

Währenddessen planen immer mehr Bundesländer weitere Lockerungen für Geimpfte und Genesene. Ein Eckpunkte-Papier des Berliner Senats etwa sieht laut dem Tagesspiegel vor, dass bei Versammlungen in Innenräumen die Maskenpflicht wegfallen könnte, in Bars und Restaurants könnten die Abstände zwischen den Tischen verringert werden.  

 

Wie aber ist die bundesweite Corona-Lage tatsächlich, und wie passt sie zu den aktuellen Entscheidungen und Debatten? Die gute Nachricht zuerst: Die bundesweite Corona-Wachstumskurve flacht weiter ab. In den vergangenen sieben Tagen erhöhte sich die Inzidenz von 74,8 auf 83,8, was einem Plus von 12 Prozent entspricht, nach 29 Prozent in der Vorwoche.

 

Eine detaillierte Analyse der Meldezahlen des Robert-Koch-Instituts (RKI) führt indes zu Ergebnissen, die zum Nachdenken anregen sollten. Die drei wichtigsten: Schule und Alltag dämpfen weiter die Corona-Dynamik; der Einfluss der Impfungen ist spürbar, reicht aber noch nicht. Und: Die Corona-Infektionen der Ältesten wachsen am schnellsten.

 

Schule ist sicherer als keine Schule

 

Die Corona-Debatten drehen sich bei Kindern und Jugendlichen meist um die Frage, wie Schulen endlich "sicher" gemacht werden können. Einmal abgesehen davon, dass in einer Pandemie der Infektionsschutz niemals perfekt sein kann, behaupten die Kultusminister stets, die Hygienekonzepte an den Schulen seien ausgereifter als in fast allen anderen Bereichen der Gesellschaft. 

 

Die RKI-Meldezahlen scheinen den Bildungspolitikern Recht zu geben. Sie sind so eindeutig, dass es so erfreulich wie erstaunlich ist: Diejenigen Bundesländer, in denen schon wieder länger Schule ist, haben nicht nur seit Wochen überwiegend das niedrigere Inzidenz-Wachstum. Auch die Zahl der registrierten Neuinfektionen bei Kindern und Jugendlichen stagniert dort oder geht sogar zurück. 

 

Für meine Analyse diese Woche habe ich die Meldezahlen folgender Bundesländer zusammengefasst: Schleswig-Holstein, Hamburg, Berlin, Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern und Nordrhein-Westfalen. Das sind alle Bundesländer, in denen seit mindestens drei Wochen wieder Schule ist. Vergleicht man nun die vom RKI berichteten Infektionen der am Sonntag zu Ende gegangenen Kalenderwoche mit der Kalenderwoche davor, so ergibt sich ein absoluter Rückgang über alle Altersgruppen hinweg von 6,4 Prozent – im Vergleich zu einem bundesweiten Anstieg um 9,7 Prozent im selben Zeitraum. Diese Zahlen werden sich durch Nachmeldungen jeweils noch etwas erhöhen, aber an den grundsätzlichen Relationen wird das nichts mehr ändern.

 

Noch ermutigender: Auch die Zahl der gemeldeten Neuinfektionen von Kleinkindern bis 4 sank um 6,0 Prozent, die bei den 5- bis 14-Jährigen um 4,9 Prozent. Auch dazu die Bundeswerte im Vergleich: +13,7 Prozent (0- bis 4-Jährige) und +20,6 Prozent (5- bis 14-Jährige).

 

Das Ferienende treibt die Inzidenzen, nicht der Unterricht

 

Wie diese große Diskrepanz zustande kommt? Weil die Bundesländer, in denen die Ferien gerade zu Ende sind, die Inzidenzen treiben. Um dies zu verdeutlichen, habe ich alle Bundesländer zusammengefasst, die zwischen dem 27. August und dem 1. September ihren ersten Schultag hatten – also kurz vor oder innerhalb der vergangenen Kalenderwoche. Es handelt sich um Bremen, Hessen, Niedersachsen, Rheinland-Pfalz, Sachsen-Anhalt und das Saarland. Das Ergebnis: Über alle Altersgruppen hinweg stand in der vergangenen Kalenderwoche ein Plus bei den gemeldeten Neuinfektionen von 37,2 Prozent. Und wie sieht es bei den Kindern und Jugendlichen aus? 0 bis 4: +54,8 Prozent. 5 bis 14: +93,2 Prozent. Binnen sieben Tagen.

 

Dramatische Zahlen, die mittlerweile aber vertraut sein sollten. So war es bislang in jedem Bundesland, das aus den Ferien kam. Der Grund: In den Schulen gibt es wieder Pflichttests, und das in den Ferien verborgen gebliebene Infektionsgeschehen wird offensichtlich. Ich nenne dies die Abschlussbilanz der Ferien. Sie treibt etwa zwei Wochen die Zahlen hoch, dann ist der Effekt durch. Und dann? Gehen die Zahlen so weiter wie in den anderen Wieder-Schule-Länder. Genauso lief es zuletzt auch in NRW, das seit 17. August wieder Schule hat. Erst große Aufregung, weil die Zahlen bei den Kindern und Jugendlichen so stiegen und das Bundesland bei den Inzidenzen deutschlandweit an die Spitze sprang.

 

Vorbei. Jetzt sind mit Bremen (heutige gesamtgesellschaftliche 7-Tages-Inzidenz: 115,4) und Hessen (115,1) zwei Bundesländer an Nordrhein-Westfalen vorbeigezogen, in denen gerade die Schule wieder angefangen hat. Nochmal: Das hat nichts mit dem Infektionsgeschehen in den Schulen zu tun. Sondern die Pflichttests in den Schulen machen sichtbar, was Ferien und Urlaub an Corona-Dynamik gebracht haben. 

 

Ein paar Auffälligkeiten

 

Jetzt sind nur noch in vier Bundesländern Ferien: in Bayern, Baden-Württemberg, Sachsen und Thüringen. Dort wachsen die Neuinfektionen zusammengefasst nicht ganz so schnell, aber stetig. In der vergangenen Kalenderwoche um 14,2 Prozent – im Vergleich zu den -6,4 Prozent in den Ländern, wo schon länger wieder Schule ist. Wer dem die absolut noch niedrigeren Inzidenzen etwa in Sachsen (29,3) oder Thüringen (32,8) entgegenhält: Abwarten, da kommt die Ferien-Abschlussbilanz ja erst noch. 

 

So klar die beschriebenen Entwicklungslinien insgesamt sind, so gibt es doch einige Auffälligkeiten. Erstens: Nach Wochen verhältnismäßig stabiler Zahlen verzeichneten Berlin (+21,8 Prozent) und Brandenburg (+35,3 Prozent) in den vergangenen sieben Tagen deutliche Zuwächse, obwohl dort wieder Schule ist. In der Gesamtschau aller Bundesländer, die schon länger wieder Unterricht haben, verschwindet diese Entwicklung. Auch liegen die beiden Länder damit weit von den Wachstums-Spitzenreitern wie Hessen (+53,9 Prozent), Sachsen-Anhalt (+60,1 Prozent) oder Sachsen (+51,8 Prozent) entfernt. Aber es muss doch erwähnt werden. 

 

Bemerkenswert ist zweitens, dass die Ost-Länder zwar einerseits durch absolut noch verhältnismäßig niedrige Corona-Zahlen auffallen, aber andererseits mit die höchsten Wachstumsraten haben – zumindest teilweise unabhängig davon, ob dort schon wieder Schule ist oder nicht. Wer sagt, das sei doch klar, weil bei niedrigeren absolute Inzidenzen höhere prozentuale Wachstumsraten statistisch wahrscheinlicher seien, der hätte nur Recht, wenn die Corona-Verbreitung linear verlaufen würde. 

 

Kinder haben weiter selten schwere Krankheitsverläufe

 

Die entscheidende Frage in diesem Spätsommer ist allerdings, wozu die Neuinfektionen tatsächlich führen. Bund und Länder wollen sich mit Verweis auf die Impfungen nicht mehr vorrangig an den Inzidenzen orientieren, sondern an den Krankenhauseinweisungen und der Belegung der Intensivstationen.

 

Das Problem ist, dass der Krankenhaus-Indikator aktuell wenig taugt, wie ich neulich beschrieben habe. Trotzdem habe ich mir seine Entwicklung angeschaut. Ich verzichte auf einen Woche-zu-Woche-Vergleich, da dieser nichts aussagen würde. Etwas aussagekräftiger ist allerdings eine Analyse, wie sich die gemeldeten Krankenhauseinweisungen auf die unterschiedlichen Altersgruppen verteilen. Das Ergebnis: Zwischen Kalenderwoche 32 und 34 (das sind die jüngsten Daten) gibt es kaum Veränderungen. So stellte zum Beispiel die Altersgruppe der 5- bis 14-Jährigen in Kalenderwoche 32 2,4 Prozent der Einweisungen und in Kalenderwoche 34 2,9 Prozent.

 

Weiter extrem wenig im Vergleich zu den 20,2 Prozent (KW 32) bzw. 19,5 Prozent (KW 34), die auf die weitgehend geimpften 60- bis 79-Jährigen entfallen. Und auch die Über-80-Jährigen kamen in Kalenderwoche 34 auf 12,8 Prozent. 

 

Die Impfungen wirken sich aus – aber...

 

Apropos die Ältesten – hier verläuft die Entwicklung durchaus ambivalent. Zuerst das Positive: Anders als in der Herbstwelle des Jahres 2020 gibt es bei ihnen derzeit weit weniger registrierte Infektionen. Das zeigt der Vergleich zur Kalenderwoche 43 (ab 19. Oktober 2020), die mit 74.857 etwa vergleichbar viele neue Corona-Fälle hatte wie die vergangenen Kalenderwoche (72.597). Damals gab es aber 9.654 Neuinfektionen zwischen 60 und 79, während es vergangene Woche nur 3.992 waren. Bei den Über-80-Jährigen wurden damals 3.877 Neuinfektionen gemeldet, zuletzt waren es 1.431. 

 

Jetzt das weniger Positive: Die Neuinfektionen bei den Älteren nehmen aktuell wieder stärker zu als in der Gesellschaft insgesamt: +20,1 Prozent bei den 60- bis 79-Jährigen und sogar +37,9 Prozent bei den Über-80-Jährigen. Obwohl es sich um die Altersgruppen mit den höchsten Impfquoten handelt. Der Einfluss der Impfungen auf das Infektionsgeschehen ist also spürbar – aber er reicht noch nicht aus.

 

Das zeigt auch die Entwicklung auf den den Intensivstationen. Mehr und mehr Corona-Patienten werden eingewiesen, auch wenn dank der Impfungen das Tempo, mit dem sich die Stationen füllen, in der vierten Welle bislang nie das Tempo bei den gemeldeten Neuinfektionen erreicht hat. Gestern wurden 1.323 Intensiv-Patienten registriert – noch knapp 24 Prozent mehr als in der Vorwoche, doch fällt die Plusrate derzeit Tag für Tag, womit sie der nachlassenden Wachstumskurve bei den Neuinfektionen folgt (die vor einer Woche auch noch bei 29 Prozent lag). Doch so sehr die Impfungen die Entwicklung dämpfen: Das reicht noch nicht – weil ein starker Anstieg bei den Inzidenzen dann eben auch wieder zu einem (wenn auch nicht ganz so) starken Anstieg bei den schweren Fällen führen würde. Und letzteres anderes, als von vielen befürchtet, nicht vorrangig bei den Jüngeren.

 

Was mit den Älteren passiert

 

Denn was in der öffentlichen Debatte komplett übersehen wurde bislang: Seit Beginn der vierten Welle Anfang Juli haben nicht allein die mehrheitlich ungeimpften Altersgruppen (und unter ihnen vor allem die Kinder und Jugendlichen) das stärkste Fallwachstum gehabt. Ja, es war enorm: zum Beispiel +1.830 Prozent bei den 0- bis 4-Jährigen und sogar +2.639 Prozent bei den 5- bis 14-Jährigen – wie oben beschrieben größtenteils durch die Ferien begünstigt, nicht durch die Schule. Während die Gesamtgesellschaft ein Corona-Fallwachstum von 1.571 Prozent verzeichnete. Doch es gab eine Altersgruppe, die  fast genauso stark zulegte wie die Jüngsten: Die Über-80-Jährigen: +1.944 Prozent. 

 

Absolut gesehen mag die Zahl ihrer Neuinfektionen vergangene Woche noch verhältnismäßig niedrig gewesen sein: 1.431. Doch in der am 4. Juli zu Ende gegangenen Kalenderwoche waren es gerade mal 70. Und schon die 1.431 Fälle führen zu vier- bis fünfmal so vielen Krankenhauseinweisungen wie bei den 5- bis 14-Jährigen, die aktuell mit 15.037 Neuinfektionen in der Statistik stehen. Hinzu kommt: Während bei den Kindern und Jugendlichen die Wachstumskurve abflacht, stieg sie bei den Älteren in den vergangenen Wochen erst an. Genau wie der Anteil der Über-80-Jährigen an allen Krankenhauseinweisungen innerhalb von zwei Wochen von 10,6 auf 12,8 Prozent kletterte.

 

Entscheiden Sie vor dem Hintergrund dieser Zahlen bitte selbst, ob Sie es für gerechtfertigt halten, einen Großteil der öffentlichen Debatte der Sicherheit in den Schulen zu widmen – und der (angesichts der dort erreichen Hygienestandards) offenbar recht abwegigen Gefahr einer kompletten "Durchseuchung" der Kinder und Jugendlichen innerhalb weniger Monate. Oder ob es nicht wichtiger wäre, sich Schutzkonzepte für die Alten zu überlegen. Von denen sehr viele geimpft sind – und die trotzdem noch die vunerabelste Altersgruppe sind. Und wenn man neue Regeln für 2G diskutiert, hätte ich auch gern einmal belastbare Zahlen: Wie viele geimpfte Ältere erkranken eigentlich trotzdem schwer an Covid-19 – und wie verhält sich das zum Anteil schwer erkrankter nicht geimpfter Kinder? Denn dann müsste man vermutlich sagen: Was man 2G-Erwachsenen erlauben will, müsste für Kinder schon lange gelten. 



Gesundheitsminister beschließen neue Quarantäne-Regeln

Die Gesundheitsminister der Länder haben sich bei zwei Enthaltungen auf mildere Quarantäne-Regeln in Schulen geeinigt. Leitplanke für die Gesundheitsämter solle künftig sein, dass nur noch "möglichst wenige Personen" zu Hause bleiben müssen, wenn in einer Klasse ein Corona-Fall festgestellt worden ist, sagte der Vorsitzende der Gesundheitsministerkonferenz, Bayerns Gesundheitsminister Klaus Holetschek (CSU). Kinder, die als enge Kontaktpersonen in Quarantäne müssen und keine Symptome zeigen, sollen nach fünf Tagen mit einem negativen Test in die Schule zurückkehren dürfen. Alle übrigen, die nicht als enge Kontaktpersonen eingestuft wurden, sollen "für eine gewisse Zeit" intensiver getestet werden. Geimpfte und Genesene sollen grundsätzlich nicht in Quarantäne müssen. 

 

Während die Gesundheitsminister von einer ausgewogenen Lösung zwischen guten Infektionsschutz und möglichst viel Präsenzunterricht sprachen, kritisierte der Bundesverband der Kinder- und Jugendärzte die neuen Regeln als zu weitgehend. Es sei deutlich sinnvoller, nur das infizierte Kind in Quarantäne

zu schicken und mit den direkten Sitznachbarn täglich einen PCR-Test zu machen. Bundesbildungsministerin Anja Karliczek (CDU) begrüßte die Einigung dagegen. Sie werde die Akzeptanz der Regeln erhöhen, sagte sie der dpa. Die Zahl der Betroffenen und die Dauer seien maßvoll eingeschränkt worden.

 

Die Gesundheitsämter haben in Bezug auf die Festlegung der Kontaktpersonen weiter das letzte Wort. Inwieweit sie die neue Regel, die der bundesweiten Vereinheitlichung dienen soll, halten, bleibt abzuwarten – würde sie doch in einigen Bundesländern einen Rückschritt bedeuten. So hatte zum Beispiel Baden-Württemberg angekündigt, dass selbst enge Kontaktpersonen nicht mehr automatisch in Quarantäne müssen, wenn nächste Woche wieder die Schule beginnt. In Berlin gibt es Streit zwischen der Gesundheitssenatorin und den Amtsärzten. Letztere wollen ebenfalls keine Kontaktpersonen mehr in Quarantäne schicken und werfen der Senatorin vor, mit anderslautenden Anordnungen ihre ärztliche Unabhängigkeit zu missachten. 


></body></html>

Kommentar schreiben

Kommentare: 0