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Ganz oder gar nicht

Die Expertenkommission Forschung und Innovation fordert von der neuen Bundesregierung die Einrichtung eines Digitalministeriums – und sagt, wie es aussehen müsste.

Illustration: Gerd Altmann / Pixabay.

NEULICH BESCHRIEB UWE CANTNER, der Vorsitzende der Expertenkommission Forschung und Innovation (EFI), die Misere deutschen Regierungshandelns mit für einen Regierungsberater erstaunlich drastischen Worten. "Die ganze Welt ändert sich, nur die Ministerialbürokratie hat noch dieselbe Struktur wie zu Zeiten des preußischen Nationalstaates", sagte Cantner, "die Linienabhängigkeit, das Durchreichen von Entscheidungen von ganz unten nach ganz oben, intra- und interministerielle Abstimmungsmängel, dazu die nicht vorhandene Fehlerkultur." Seine Schlussfolgerung: "Sämtliche Bundesministerien müssen komplett umstrukturiert werden nach modernsten Managementmethoden."

 

Nur sagt sich das so leicht. Die Realität sieht so aus: Deutschland wirkt zunehmend reformunfähig. Seit Jahren gleitet die Bundesrepublik in eine immer tiefer werdende Modernisierungskrise ab, sie umfasst mittlerweile weite Teile der Verwaltung, Wirtschaft und des Bildungssystems, mindestens. Nur hatte das bis zur Coronakrise außer den Warnern, unter anderem bei der EFI, kaum einer gemerkt oder wahrhaben wollen. 

 

Jetzt lässt sich die Lage nicht mehr schönreden, und die Wissenschaftsweisen um den Jenaer VWL-Professor Cantner haben sich offenbar vorgenommen, diese Gelegenheit nicht ungenutzt verstreichen zu lassen. Im Bund stehen die Koalitionsverhandlungen an, es geht an die Neuverteilung von Ministerien und Zuständigkeiten. Wann, wenn nicht in den nächsten Wochen könnte die neue Koalition, wie auch immer sie aussehen mag, einen Anfang machen, um die ministerialen Entscheidungsstrukturen schneller, effektiver und, um ein EFI-Lieblingswort zu verwenden, "agiler" zu machen?

 

Ein "Ministerium
neuer Prägung"

 

Genau das ist die Logik eines sogenannten "Policy Briefs" als Appell an die Politik, das die EFI heute veröffentlicht und das mir vorab vorlag. Darin heißt es zur gegenwärtig lebhaften Debatte um die mögliche Einrichtung eines Digitalministeriums: Das sei sinnvoll – "jedoch nur, wenn das Ressort eine neue Prägung bekommt und mit Strukturen und Prozessen ausgestattet wird, die agiles Politikhandeln ermöglichen."

 

Es bedürfe eines "Ministeriums neuer Prägung, das in der Lage sein muss, proaktiv tätig zu werden, schnell auf Veränderungen zu reagieren und relevante Akteure zügig einzubinden." Ein solches Ministerium könne für die Reform von Wirtschaft, Wissenschaft, Verwaltung und Gesellschaft "wichtige Signalwirkung erzeugen", mit anderen Worten: zu einer Blaupause werden.

 

Mit den bisherigen Strukturen sei es in Deutschland "trotz aller Bemühungen nicht gelungen, die im internationalen Digitalisierungswettlauf notwendige Dynamik zu entfalten", kritisiert die Expertenkommission. 

 

Wenn sich nichts tut, fällt Deutschland
weiter zurück, warnen die Experten

 

Das Land laufe in vielen Bereichen einem Modernisierungsrückstand hinterher: bei der Servicerobotik, der künstlichen Intelligenz, bei digitalen Geschäftsmodellen und Cybersicherheit, beim E-Government, bei der Digitalisierung der Hochschulen oder auch beim Ausbau der digitalen Infrastruktur. "Deutschland nimmt inzwischen in vielen Rankings eine schlechtere Position als der EU-Durchschnitt ein und riskiert, im internationalen Innovationswettbewerb weiter zurückzufallen."

 

Und wie könnte nach Auffassung der EFI ein "Digitalministerium neuer Prägung" dies ändern?

 

Als wichtigste Voraussetzung dafür nennen die Experten, dass alle übrigen Bundesministerien akzeptieren, dass das neue Ministerium die Kompetenz hätte, "die großen Linien der digitalen Transformation und ihrer Chancen im Blick zu haben, Strategien zu entwickeln, diese koordinierend interministeriell voranzutreiben und deren Umsetzung zu verfolgen."

 

Dafür müssten die Zuständigkeiten eines Digitalministeriums und seine Schnittstellen zu anderen Ministerien und Behörden klar definiert sein – unter Vermeidung von Doppelstrukturen und sich überlappenden Zuständigkeiten. Die bestehenden Ministerien müssten also abgeben, zurückstecken, sich einordnen, ja, bei Digitalfragen sich unterordnen, damit das neue Ministerium funktioniert.

 

Als zentrale Aufgaben eines Digitalministeriums erwähnt die EFI neben der Fortschreibung und Entwicklung digitalpolitischer Strategien (Datenstrategie, KI) unter anderem die Verantwortung für den Aufbau leistungsfähiger digitaler Infrastrukturen und die Gewährleistung der Cybersicherheit. Außerdem soll es die Digitalisierung der Verwaltung vorantreiben, sich dabei mit Gesellschaft und Wirtschaft vernetzen und den regulatorischen Rahmen für die Digitalisierung von Gesellschaft und Wirtschaft "federführend" bearbeiten. Für all das sei ein "effektives Schnittstellenmanagement" zu anderen Ministerien, den Ländern und der EU unerlässlich. 

 

Andere Strukturen, andere Prozesse,
anderes Personal

 

Was all das bedeutet für den inneren Aufbau des Ministeriums? Hier werden die Vorschläge der Expertenkommission erst so richtig spannend. Denn klar ist: Mit den herkömmlichen Strukturen und Prozessen des ministerialen Handelns wird es nicht klappen. 

 

Weshalb die EFI-Antwort lautet: "Der Aufbau des Ministeriums sollte auf ein projektorientiertes Arbeiten ausgerichtet sein – etwa durch flache Hierarchien und eine projektbezogene Matrixorganisation." Also all das, was deutsche Ministerien derzeit nicht ausmacht.

 

Weil man mit den bestehenden Anreiz- und Vergütungssystemen kaum das dafür nötige Personal mit einer hohen digitalen Kompetenz bekommen werde, müssten auch diese umgestellt werden – und schon die Personalauswahl müsse nach anderen Regeln laufen. 

 

Und die Expertenkommission geht noch weiter: Um Routinen aufzubrechen und "neue Sichtweisen" zu gewinnen, fordern sie, brauche es in einem Digitalministerium "attraktive Möglichkeiten für einen Quereinstieg sowie für befristete Beschäftigungen". Auch der Wechsel von Mitarbeitern zwischen dem Digitalministerium und den anderen Bundesministerien müsse möglichst unkompliziert laufen. Schließlich müsse auch das Vergaberecht so angepasst werden, dass ein Digitalministerium durch neue Formen der Förderung die digitale Transformation vorantreiben könne. 

 

Ein Chief Information Officer
für jedes Bundesministerium

 

Und auch wenn die EFI von den Strukturen und dem Personal für das neue Ministerium spricht: In weiten Teilen liest sich das Papier als Kritik an den bestehenden Ministerien und deren Personal – wohl auch nicht ganz unbeabsichtigt, wenn die Expertenkommission doch betont, dass das neue Ministerium "Signalwirkung" haben solle. 

 

Weitere Stichworte in dem Papier: die Etablierung einer "positiven Fehlerkultur" im Ministerium, neue Formen der Evaluation, mehr Partizipation und neue Austauschformate mit der Bevölkerung. Und damit die Schnittstellen zu den übrigen Ministerien funktionierten, brauche es "interministerielle Taskforces" und in jedem Ministerium einen Chief Information Officer und einen Chief Data Officer.

 

Allein: Ist das alles realistisch? Würde nicht schon ein traditionell aufgebautes Digitalministerium genug politisches Kapital erfordern, weil man seine Zuständigkeiten den bestehenden Ministerien zunächst mühsam abringen müsste? Und dann soll dieses Ministerium auch noch Trendsetter sein, Vorbote für den Umbau ministerialer Strukturen insgesamt – indem, wie die EFI es formuliert, "die Einrichtung eines Digitalministeriums mit politischem Kulturwandel" verbunden wird?

 

"Angesichts der großen

Herausforderungen absolut notwendig"

 

"Ich sehe ja, dass das ein schwieriger Prozess ist, das Bohren ganz dicker Bretter", hatte EFI-Chef Cantner schon neulich im Interview gesagt. Das "Policy Paper" konzidiert nun: "Die Einrichtung eines Digitalministeriums neuer Prägung erfordert Handlungskraft und den Mut zu Veränderungen." Doch sei beides "angesichts der großen gesellschaftlichen Herausforderungen, vor denen Deutschland steht, jetzt absolut notwendig".

 

Notwendig, oder nicht: Uwe Cantners Vorgänger als EFI-Vorsitzender, der Max-Planck-Innovationsforscher Dietmar Harhoff, scheint längst nicht mehr zu glauben, dass die deutsche Ministerialbürokratie in der knappen Zeit, die Deutschland für die notwendige Modernisierung bleibt, ihrerseits zur Modernisierung in der Lage ist. Weshalb er "schlanke Agenturen" fordert, um die Forschungsförderung neu aufzustellen und so außerhalb der ministerialen Strukturen agiler zu machen. Für Harhoff ist die in der vergangenen Legislaturperiode gestartete "Bundesagentur für Sprunginnovationen" die Blaupause für den Neuanfang – wenn die Ministerialbürokratie sie denn lässt.

 

Fest steht: Für ihren Appell hätte sich die EFI keinen passenderen Zeitpunkt aussuchen können. Denn für die künftigen Koalitionäre gilt: Die Anforderungen an die Gründung eines Digitalministeriums, das am Ende auch etwas bringen soll, sind hiermit formuliert. Es sei denn, die Politik wäre nur auf den Showeffekt aus. 



Die EFI

Die Expertenkommission Forschung und Innovation (EFI) wurde 2006 per Kabinettsbeschluss eingerichtet und legt der Bundesregierung jedes Jahr ein Gutachten zur "Forschung, Innovation und technologischer 

Leistungsfähigkeit Deutschlands" vor. Die Kommissionsmitglieder sind Uwe Cantner, Irene Bertschek, Holger Bonin, Till Requate, Carolin Häussler und Katharina Hölzle. 



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Kommentare: 1
  • #1

    Sibota (Mittwoch, 06 Oktober 2021)

    Ich finde es gut, dass der Staat in Deutschland nicht wie eine Firma aufgebaut ist. Der Blick auf die Trump-Administration zeigt, daß das nicht funktioniert. Die Beständigkeit staatlicher Verwaltungsstrukuren mag dem einen schwerfällig vorkommen. Der andere nimmt sie als Verlässlichkeit wahr. Damit sind wir in Deutschland sehr gut gefahren.