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Die Welle aus dem Norden

Die RKI-Zahlen sind zurzeit besonders unzuverlässig. Trotzdem zeigt ihre Analyse: Omikron kommt jetzt mit Macht. Was bedeutet das für die nächsten Wochen? Und welche Altersgruppen könnten besonders betroffen sein?

DIE OMIKRON-WELLE rollt, und das trotz Meldeverzugs nicht mehr nur im Verborgenen. Um die Dimensionen dessen zu erkennen, was auf die Bundesrepublik zukommt, muss man nicht mehr nur in die Nachbarstaaten schauen. Es reicht der Blick in die nördlichen Bundesländer. Dort haben sich die offiziell gemeldeten (und damit erheblich unterschätzten!) Corona-Inzidenzen innerhalb der vergangenen sieben Tage teilweise verdoppelt. Dass Deutschland trotzdem heute Morgen als Ganzes mit 239,9 nur gut 24 Inzidenzpunkte (11,3 Prozent) höher lag als vor einer Woche, hat mit mehreren parallel stattfindenden Entwicklungen zu tun. Die jedoch alle demnächst auslaufen werden. Bis auf die eine: das Anschwellen der Omikron-Welle. Was bedeutet das? Eine Analyse der aktuellen Daten und ein – vorsichtiger – Ausblick.

 

 

Schleswig-Holstein: +95,4 Prozent,
Sachsen: -23,9 Prozent

 

Die Corona-Dynamik in den Bundesländer scheint gerade extrem auseinanderzulaufen. Tatsächlich lassen sich drei parallele Trends beobachten.

 

Nummer 1: Im Osten geht es weiter abwärts, was mit den insgesamt strengeren Corona-Maßnahmen in den ehemaligen Hochinzidenz-Gebieten zusammenhängen dürfte, vor allem aber mit dem späteren Ankommen von Omikron. Konkret: Für Brandenburg meldete das Robert-Koch-Institut heute Morgen eine 7-Tages-Inzidenz von 361,0 – ein Rückgang um 9,1 Prozent gegenüber der Vorwoche (384,9). Sachsen: 287,5 nach 397,6 (-27,7 Prozent), Sachsen-Anhalt: 286,5 nach 376,8 (-23,9 Prozent), Thüringen: 403,4 nach 494,6 (-18,4 Prozent). Mecklenburg-Vorpommern: 284,3 nach 300,4, ebenfalls noch ein Minus, allerdings nur von 5,4 Prozent im Vergleich zur Vorwoche. Womit sich im Nordosten bereits der zweite Trend bemerkbar macht, der die Zahlen auch dort bereits in den nächsten Tagen ins Plus drehen lassen dürfte.

 

Nummer 2: Omikron packt den Norden. Erstmals hatte ich angesichts der damaligen Infektionsdaten vor drei Wochen gefragt: "Kommt die nächste (Omikron-) Welle aus dem Norden?" Inzwischen lautet die Antwort eindeutig: ja. Schon Anfang Dezember hatte sich die Corona-Entwicklung zunächst in Hamburg, Bremen und Schleswig-Holstein von der bundesweiten abgekoppelt, inzwischen läuft sie der im Rest Deutschlands regelrecht davon. Für Bremen gibt das RKI die Inzidenz heute Morgen mit 516,4 an – bundesweit der Spitzenwert und ein Plus von 95,2 Prozent (!) gegenüber der Meldeinzidenz der Vorwoche (264,5). Schleswig-Holstein, traditionell eines der Bundesländer mit den niedrigsten Corona-Zahlen, springt innerhalb von sieben Tagen ebenfalls um 95,4 Prozent von 151,4 auf 295,9. Hamburg: 390,2 nach 272,4 (+43,2 Prozent), Niedersachsen: 183,0 nach 126,6 (+44,5 Prozent). Wer glaubt, dass dies hauptsächlich Nachmeldungen nach Weihnachten sind, redet sich die Lage schön. Warum? Weil die offiziellen Corona-Zahlen im Osten trotz der Nachmeldungen bislang weiter gefallen sind.

 

Nummer 3: Die übrigen Bundesländer hängen dazwischen. Der vom RKI gemeldete Corona-Trend für den Westen und Süden Deutschlands zeigt ebenfalls nach oben, aber mit deutlich geringeren Zuwächsen in den vergangenen sieben Tagen. Baden-Württemberg: 238,7 (+12,4 Prozent); Bayern: 199,9 (+6,0 Prozent); Rheinland-Pfalz: 170,0 (+18,0); Saarland: 218,1 (+17,1 Prozent); Nordrhein-Westfalen: 216,9 (+20,9 Prozent). Dynamischer verläuft die Entwicklung bereits in Hessen (+32,5 Prozent auf 222,6). Berlin weist als einziges im Osten gelegenes Bundesland bereits eine Steigerung auf (+9,0 Prozent auf 286,8). Wobei man bei all diesen Zahlen erneut bedenken muss, dass die RKI-Statistiken derzeit noch weniger verlässlich sind als normalerweise, das wirkliche Plus in allen genannten Bundesländern also deutlich höher liegen dürfte. Wieviel höher? Dazu komme ich jetzt.

 

 

Wie aussagekräftig sind die RKI-Zahlen

im Moment wirklich?

 

Ich möchte an dieser Stelle nicht mein bereits so häufig geäußertes Lamento wiederholen, wie es sein kann, dass wir auch nach zwei Jahren Pandemie in Deutschland datenmäßig noch derart im Dunkeln tappen. Seit der neue Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) dies öffentlich thematisiert hat, ist die Debatte darüber immerhin im Mainstream angekommen. Fast schon abenteuerlich dabei ist, wie sehr sich manche, auch Journalistenkollegen, überrascht die Augen reiben ob dieser Nachricht. Aber was heißt das für die Interpretation der aktuellen Daten? Hier sind drei Aspekte zu unterscheiden.

 

Erstens: Die grundsätzliche Dunkelziffer der offiziellen RKI-Zahlen. Eine der wenigen repräsentativen Erhebungen des Robert-Koch-Instituts hat im vergangenen Jahr ergeben, dass zu dem Zeitpunkt etwa 1,8mal so viele Erwachsene eine Infektion durchgemacht hatten wie bekannt. Das dürfte allerdings eher die Unterkante sein. Vergleicht man die deutschen Zahlen mit den dänischen, so kommen hierzulande auf einen Inzidenzpunkt bis zu viermal so viele verstorbene Corona-Infizierte, was (bei gewissen demographischen Unterschieden) einen Eindruck der möglichen grundsätzlichen Unterschätzung gibt. 

 

Zweitens: Der Ferieneffekt. So, wie die Pflichttests in den Schulen vor einem knappen Jahr die Dunkelziffer bei den Kindern und Jugendlichen einseitig stärker ausleuchteten, so steigt diese an, sobald die Schulen zu sind. In der vergangenen Kalenderwoche 52 sank der Anteil der 5- bis 14-Jährigen an allen gemeldeten Neuinfektionen bundesweit auf 13,3 Prozent – nach 20,7 Prozent zwei Wochen zuvor. Das ist ein enormer Effekt, der allein für sich die gesamtgesellschaftlichen Inzidenzen um 16 bis 18 Punkte niedriger ausfallen lässt, als sie sonst im Moment wären. 

 

Drittens: Weniger Tests und der Meldeverzug. Nur sie sind die direkte Folge der Feiertage. Wie stark sie die Zahlen drücken, ist schwer zu sagen. Es gibt aber Anhaltspunkte: der Vergleich zum Vorjahr. Weil damals kurz vor Weihnachten ein stetiger Inzidenz-Abwärtstrend einsetzte, der durch die Feiertage zwischenzeitlich stark überzeichnet war, danach aber weiterlief, lässt sich der Weihnachtseffekt 2020/21 abschätzen. So lag die offizielle Corona-Inzidenz am 4. Januar 2021 bei 139 und damit 47 Inzidenzpunkte (25,3 Prozent) niedriger, als es der stetig fortgeschriebene Abwärtstrend dieser Wochen hätte vermuten lassen. Geht man von einem ähnlichen Effekt für dieses Jahr aus, so würde allein er die heutige RKI-Meldeinzidenz um etwa 80 Punkte drücken.

 

 

Wie geht es weiter

in den nächsten Wochen?

 

Eins ist klar: Die nächsten zwei, drei Wochen wird die vom RKI berichtete Coronadynamik extrem stark ausfallen. Schon weil Effekt 2 (Ferien) und 3 (weniger Tests und Meldeverzug) schrittweise nachlassen, dürfte die Inzidenz um etwa 100 Punkte hochgehen. Und nimmt man die Dynamik der Nord-Länder (die ebenfalls durch die beiden Effekte noch nach unten verzerrt ist) als Ausgangspunkt für Gesamtdeutschland, könnte die offizielle Inzidenz in zwei, drei Wochen bei 700, möglicherweise aber noch deutlich darüber liegen – wobei dann immer noch die grundsätzliche Dunkelziffer erhalten bleibt. 

 

Welche Altersgruppen werden sich besonders häufig infizieren? Auch hier hilft der Blick in den Norden, nach Hamburg, Bremen, Niedersachsen und Schleswig-Holstein. Zusammengenommen stieg dort der Anteil der 15- bis 59-Jährigen an allen gemeldeten Corona-Neuinfektionen innerhalb von zwei Wochen von 63,0 auf 75,4 Prozent an.

 

Was auch, aber nicht nur an dem Schulferieneffekt lag. Interessanterweise ging im Norden nämlich der Anteil der offiziell neuinfizierten Kinder und Jugendlichen überdurchschnittlich zurück  (von 25,5 auf 14,3 Prozent), also stärker als im Rest Deutschland (von 24,7 auf 16,4 Prozent). Es gibt insofern Anzeichen, dass Kinder und Jugendliche keinesfalls vergleichsweise stärker von Omikron betroffen werden als zuvor von den Delta- oder Alphavarianten.

 

Bundesweit wie auch im Norden sank glücklicherweise der Anteil der über 80-Jährigen an allen gemeldeten Neuinfektionen weiter, auf ganz Deutschland bezogen innerhalb der vergangenen zwei Wochen von 3,16 auf 2,54 Prozent. Auch bei den 60- bis 79-Jährigen ging der Anteil runter von 10,4 auf 9,6 Prozent. Absolut werden die Infektionszahlen auch unter Senioren absehbar wieder stark steigen – umso wichtiger, dass sie geimpft und geboostert sind. Wäre es nicht höchste Zeit, die Ältesten ins Zentrum aller Booster-Kampagnen zu stellen – gerade weil viele von ihnen nicht ins Impfzentrum oder zum Hausarzt kommen können?

 

 

Und was bedeutet das für die Krankenhäuser
und Intensivstationen?

 

Die gute Nachricht vorweg: Der Corona-Abschwung der vergangenen Wochen hält bei den stationären Aufnahmen und auf den Intensivstationen noch an. Das DIVI-Intensivregister verzeichnete gestern 3.803 Corona-Infizierte, die intensivmedizinisch versorgt werden müssen. Das entspricht einem Rückgang um 23 Prozent gegenüber dem Peak von 4.937, der vor gut drei Wochen erreicht wurde. Damit ist die Lage in den Krankenhäusern, den Impfungen sei dank, derzeit weit von Extremen des vergangenen Winters entfernt: Am 3. Januar 2021 standen 5.762 Intensivpatienten mit Corona-Infektion im DIVI-Register. Mit etwas Glück fallen die Intensivzahlen diesen Winter noch auf unter 3.500, bevor sie wieder zu klettern anfangen. 

 

Weniger gut: Der Rückgang der Intensivpatienten begann im Vergleich zum Abebben früherer Wellen dieses Mal sehr spät und blieb verhalten: In der vergangenen Woche war das Minus erneut nur einstellig (-9,5 Prozent). Obwohl die gemeldeten Corona-Inzidenzen schon vor Weihnachten mit wöchentlich 20 Prozent und mehr absackten. Woraus folgt, dass ein Teil der positiven Entwicklung tatsächlich mit der zwischenzeitlichen Überlastung von Testkapazitäten und einem Anwachsen der Dunkelziffer erklärbar war – aber zum Glück eben nur zum Teil.

 

Das alles ist aber nur die Ausgangssituation für die Omikron-Welle. Das Risiko, bei einer Infektion ins Krankenhaus zu müssen, liegt laut umfangreicher Analysen der UK Health Security Agency im Vergleich zu Delta bei nur etwa einem Drittel – was extrem ermutigend ist. Auch wird immer deutlicher, dass Kinder und Jugendliche nicht verhältnismäßig stärker betroffen sind, dass also auch ihr bereits geringes individuelles Risiko eines schweren Verlaufs noch einmal deutlich geringer wird. 

 

Und ab dem Punkt ist alles offen. Wie stark wird Omikron durch die deutsche Bevölkerung rauschen, und wie lange wird die Welle anhalten? Als Dämpfer für Omikron könnte sich erweisen, dass hier die bereits geltenden Schutzmaßnahmen strenger sind als anderswo.

 

In Großbritannien und Dänemark bewegen sich die Infektionszahlen derweil auf Rekordniveau, aber immerhin seitwärts. Gegenüber früheren Peaks bei den gemeldeten Neuinfektionen zeigen die beiden Länder allerdings eine Verdreifachung (Großbritannien) bzw. eine Versechsfachung (Dänemark). Mit anderen Worten: Passen die britischen Risiko-Analysen auch zur deutschen Demographie und verdreifachten sich die Inzidenzen in der Bundesrepublik, bliebe in den Krankenhäusern der (schwierige) Status Quo erhalten. Gehen die offiziellen Inzidenzen noch weiter hoch, auf 1000 und mehr, werden die Krankenhäuser und Intensivstationen voller. Es sei denn, es gelingt, die Booster-Kampagne besonders für die Älteren noch einmal zu beschleunigen.

 

Aber spätestens hier bin ich bei ziemlich vielen Wenns und Abers und Annahmen angekommen. Und das ist das Problem. Wir wissen immer noch viel zu wenig über Omikron, über seine Verbreitung und Wirkung. Und dass Deutschland seine Corona-Statistik nicht in den Griff bekommt, macht die Sache nicht besser. Wie wäre es, wenn die Regierungschefs von Bund und Ländern am 7. Januar auch darüber mal ausführlich reden würden?



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Kommentare: 1
  • #1

    Hermine Deutlich (Dienstag, 04 Januar 2022 11:07)

    Danke für diese nüchterne und sachliche Einschätzung.
    Es ist wirklich erstaunlich, daß ein Land wie Dänemark im Gegensatz zu Deutschland eine auch über die Feiertage kontinuierliche Erfassung der Daten hinbekommt. Vieles liegt dort an einer viel konsequenteren Digitalisierung.