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Wer redet da eigentlich?

Ein Offener Brief von über 100 Schülervertretern macht Furore. Sie fordern stärkere Hygienemaßnahmen in den Schulen und kritisieren, dass die Politik ihnen nicht zuhöre. So öffentlichkeitswirksam die Aktion ist, inhaltlich sind die verbreiteten Narrative zum Teil wenig überzeugend – und kommen einem bekannt vor.

DIE MEDIENKAMPAGNE war jedenfalls schon mal erfolgreich. Über 100 Schulsprecherinnen und Landesschulsprecher haben gestern Mittag über die Sozialen Medien einen Offenen Brief an die Politik veröffentlicht, der heute je nach Zeitung als "Schüleraufstand" (Tagesspiegel) oder als "Alarmschlagen" (Süddeutsche Zeitung) tituliert wurde. Sich selbst präsentierte die Initiative unter dem Hashtag "#WirWerdenLaut", parallel startete sie eine Petition, die heute um 16 Uhr bereits über 40.000 Unterzeichner gefunden hatte, Tendenz weiter stark steigend. 

 

"Es muss endlich mit uns gesprochen werden", twitterte Brief-Mitverfasser Anjo Genow, 17, Schulsprecher und Mitglied im Landesschülerausschuss Berlin. Weiterverbreitet unter anderem vom TV-Moderator Jan Böhmermann an dessen 2,4 Millionen starke Twitter-Followerschaft. Ähnlich lautet die erste Forderung im Offenen Brief: "Einen ehrlichen und offenen Diskurs mit statt über uns."

 

Sowohl Bundesbildungsministerin Bettina Stark-Watzinger (FDP) als auch die diesjährige Präsidentin der Kultusministerkonferenz, Karin Prien (CDU), neben Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) die Adressatinnen des Briefes, beeilten sich denn auch, schnell zu reagieren und, ebenfalls auf Twitter, demonstrativ Gesprächsbereitschaft zuzusagen.

 

Stärkere Corona-Schutzmaßnahmen

in den Schulen?

 

Worüber? Im Kern fordern die Schüler stärkere Corona-Schutzmaßnahmen in Schulen, darunter Luftfilter in allen Räumen, eine Reduktion der Lerngruppengrößen ( was auf Wechselunterricht hinausliefe), kostenlose FFP2-Masken – und eine bundesweite Aussetzung der Präsenzpflicht. Auch PCR-Pooltestungen und "hochwertige" Schnelltests stehen auf der Liste, außerdem die Forderung nach Information über die Infektionslage an den Schulen "in Echtzeit" und "angemessene Quarantäne-Maßnahmen zur Vorbeugung von weiteren Infektionen".  Was als direkter Protest gegen die etwa in Berlin eingeführte Praxis zu verstehen ist, in der Schule durchgeführte Schnelltests nicht mehr durch PCR-Tests zu bestätigen und die Kontaktverfolgung durch die Gesundheitsämter zu beenden. 

 

Neben weiteren Corona-Schutzmaßnahmen verlangt der Brief eine Reduktion des Prüfungsstoffs in den Abschlussjahrgängen, eine Aufstockung des pädagogischen und schulpsychologischen Personals und eine Pandemie-Aufarbeitung für die Zukunft.

 

So sinnvoll gerade die Forderungen zu Stoffreduktion oder nach mehr psychosozialen Betreuung (und das dann bitte langfristig!) ist: Der auf die Hygienemaßnahmen bezogene Teil des Schüler-Forderungskatalogs erinnert auffällig stark an ähnliche Plädoyers führender Vertreter der vor genau einem Jahr veröffentlichten"No-Covid"-Strategie – von denen sich tatsächlich mehrere als "unterstützende Wissenschaftler:innen" unter der Petition wiederfinden.

 

Darunter die Physiker Martin F. Schneider von der TU Dortmund und Dirk Brockmann von der Berliner Humboldt-Universität und die Politikwissenschaftlerin Elvira Rosert von der Universität Hamburg. Die Virologin Melanie Brinkmann, ebenfalls einst Mitverfasserin der Strategie und jetzt Mitglied im Corona-Expertenrat, stand zunächst auf der Liste der unterstützenden Wissenschaftler, dann verschwand ihr Name wieder.

 

Bei den Schülern verwundert
die Attitüde des Briefs dann doch

 

Inwieweit die aufgeführten Wissenschaftler:innen aktiv an den Forderungen der Schüler mitgeschrieben haben, ist unklar. Wenn, würde es das Engagement, die Sorgen und die Aufrichtigkeit der Schüler nicht schmälern. Den Eindruck allerdings, nicht genügend von der Politik gehört zu werden angesichts einer offiziellen Inzidenz von je nach Bundesland an die 1800, haben gewiss gerade auch No-Covid-Verfechter in diesen Tagen. 

 

Bei Schülervertretern indes verwundert die Attitüde des Briefs, demzufolge ihnen keiner zuhört, dann aber doch. Nicht nur, weil, das beweist die Reaktion auf den Offenen Brief, sie sehr wohl in der Lage sind, die breite Öffentlichkeit und die Politik zu erreichen. Sondern auch, weil die Kultusminister und die Bundesbildungsministerin nicht nur behaupten, zumindest die gewählten Schülervertretungen regelmäßig in Gespräche einzubeziehen oder das Gespräch mit ihnen zu suchen. Sondern weil sie es im Laufe der Pandemie nachweislich immer wieder getan haben. 

 

"Mein Gesprächsangebot an die Bundesschülerkonferenz steht", schrieb Bettina Stark-Watzinger. "Gerne bin ich zum Austausch mit weiteren Schülervertretern über die Situation an den Schulen bereit." Und KMK-Präsidentin Prien, selbst Bildungsministerin von Schleswig-Holstein, twitterte, es gebe "einen regelmäßigen Austausch zwischen Schüler-, Eltern- und Lehrervertretungen auf Länderebene mit den Bildungsministerien". Sie habe gleich nach ihrem Amtsantritt als KMK-Präsidentin zu Beginn dieses Jahres auch der Bundesschülerkonferenz Gespräche angeboten. "Wenn Sie/Ihr außerhalb der gewählten Schülervertretungen sprechen wollt, lade ich persönlich dazu gerne ein. Wer spricht? Die fünf Erstunterzeichnenden? Volle Transparenz und wir streamen das Gespräch live, damit alle zuschauen können?"

 

Fast klingt es so, als wolle die KMK-Präsidentin den Brief-Initiatoren zurufen: Denn nun mal Butter bei die Fische. 

 

Immer mehr Wissenschaftler und Mediziner
fordern sogar eine Rücknahme der Maßnahmen 

 

Zu fragen wäre bei einem solchen öffentlichen Austausch mit den Brief-Erstverfassern freilich nicht nur, wer hier eigentlich für wen spricht und in welcher Funktion. Sondern auch, inwieweit das Narrativ angeblich so unzureichender Hygiene-Regeln in den Schulen tatsächlich der Empirie standhält – oder auch nur unter Schülern und ihren Familien mehrheitlich so wahrgenommen wird. So ergab gerade erst eine Umfrage im Auftrag baden-württembergischer Tageszeitungen, dass zwar rekordverdächtige 68 Prozent der Eltern mit Schulkindern unzufrieden sind mit der Schulpolitik im Bundesland. Aber nicht, weil die meisten die Corona-Bestimmungen in den Schulen zu schwach finden. Im Gegenteil: 61 Prozent halten sie für ausreichend. 

 

Auch in der Wissenschaft mehren sich die Stimmen, die sogar eine baldige Reduktion der Maßnahmen fordern. So unterstützten unter anderem Detlev Krüger, Christian Drostens Vorgänger als Chefvirologe der Berliner Charité, und der langjährige WHO-Epidemiologe, Klaus Stöhr, Mitte Januar einen Offenen Brief der "Initiative Familie", der "Schulunterricht ohne Beschränkungen, ohne Quarantäne und anlasslose Reihentestungen für gesunde Kinder" forderte. Zu den Erstunterzeichnern gehörte auch der Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte. 

 

Und erst heute sagte zum Beispiel der Virologe und Klinikdirektor am Universitätsklinikum Eppendorf (UKE), Ansgar Lohse, dem Hamburger Abendblatt, er halte die Quarantäne-Maßnahmen inzwischen für übertrieben. "Es kann nicht sein, dass ganze Kita-Gruppen und die Eltern eine Woche zu Hause bleiben müssen, wenn die Kindergärtnerin positiv getestet wird." Wenn die Omikron-Welle abebbe, sollte vor allem in den Schulen gelockert und auf regelmäßige Tests verzichtet werden. "Alle Kinder und Jugendliche werden sich in den nächsten Monaten infizieren –  das ist auch nicht schlimm, weil sie nur sehr selten schwerer erkranken. Und das Schul- und Kindergartenpersonal sollte inzwischen einen sehr guten Impfschutz haben. Wir könnten und müssten heute hier viel gelassener sein."

 

"Gelassenheit" oder

vor der "Durchseuchung"

 

Die Gelassenheit haben zumindest die Unterzeichner des Offenen Briefs nicht. Die Situation an den Schulen nach zwei Jahren Pandemie und inmitten der Omikron-Welle sei "unerträglich" geworden, schreiben sie. "Der aktuelle Durchseuchungsplan ist unverantwortlich und unsolidarisch."

 

Noch so ein Narrativ, das in einem Gespräch mit den Bildungsministern zu diskutieren wäre – denn viele Virologen stimmen mit Lohse überein, dass die flächendeckende Infektion mit Omikron bei welchen Sicherheitsmaßnahmen auch immer nicht zu verhindern sein wird. Und in Wirklichkeit schon größtenteils vollzogen ist: Mitte Februar erwartet Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) den Scheitelpunkt der Welle mit anschließend sinkenden Neuinfektionszahlen. Die drei Bundesländer, in denen sich Omikron zuerst ausbreitete (Hamburg, Schleswig-Holstein, Bremen), melden bereits teilweise deutliche Rückgänge bei den 7-Tages-Inzidenzen. 

 

Zum Glück berichten viele Kinder- und Jugendärzte, dass sie trotz der hohen Inzidenzen keine Vermehrung der schweren Covid19-Krankheitsverläufe unter Kindern und Jugendlichen sehen. Vielleicht sollten die Schülervertreter mit denen auch mal häufiger reden. 

 

Nachtrag: Warum ich persönlich eine Lockerung der Corona-Maßnahmen an den Schulen zum jetzigen Zeitpunkt für verfrüht halte, habe ich unter anderem hier aufgeschrieben. 

 

Nachtrag 2: Meinem Kommentar wurde entgegengehalten, der Offene Brief referiere mit seinen Forderungen nach stärkeren Hygienemaßnahmen an den Schulen lediglich den wissenschaftlichen Konsens ("Bundesweite Umsetzung der vom RKI empfohlenen S3-Leitlinie“).

 

Das ist so nicht richtig. Nicht nur in Hinblick auf die Präsenzpflicht-Debatte. Darüber hinaus führt der Offene Brief die S3-Leitlinie nämlich mit Spiegelstrichen aus, die in dieser gar nicht Enthaltenes postulieren oder Enthaltenes stark vereinfachen. Vor allem die geforderten "Luftfilter für Klassen-, Fach- und Sanitärräume in allen Schulen" deren Sinn und Nutzen wissenschaftlich stark umstritten ist, weshalb sich die Experten für die Leitlinie auf keine Position haben einigen können.

 

Oder die geforderte "Reduktion der Lerngruppen", die Wechselunterricht bedeutet – der aber laut der Koordinatorin der S3-Leitlinie eben nicht automatisch bei hohen oder sehr hohen Inzidenzen folgen soll. 

 

Beides kann man fordern, aber es handelt sich nicht um einen wissenschaftlichen Konsens im Umgang mit der Pandemie zum jetzigen Zeitpunkt. Sehr wohl aber unter anderem um die schon vielfach geäußerte Sichtweise mehrerer im Offenen Brief als "unterstützende Wissenschaftler" angeführten Forscher. 

 

Einen Satz hätte ich in meinem Artikel allerdings anders formulieren sollen, weil er unnötig raunend klang: "Inwieweit die aufgeführten Wissenschaftler:innen aktiv an den Forderungen der Schüler mitgeschrieben haben, ist unklar." Keinesfalls wollte ich, und das schrieb ich auch, damit das Engagement der Jugendlichen, ihre Eigeninitiative oder ihre Ernsthaftigkeit in Frage stellen. Aber einordnen wollte ich ihre Forderungen schon als Journalist.



Offizielle Präsenzquote: 92,4 Prozent

Die offiziellen Infektionszahlen stiegen vergangene Woche auch unter Kindern und Jugendlichen weiter, bei unbekannter Dunkelziffer. Aktuell liegt die bundesweite 7-Tagesinzidenz für die Altersgruppe der 5- bis 14-Jährigen laut Robert-Koch-Institut (RKI) bei über 3.200. 

 

Trotzdem ging in der vergangenen Woche der Anteil von Schulen in Deutschland mit vollem Präsenzunterricht nur noch leicht zurück. Hatte er in der vorgegangenen Kalenderwoche 3 bei rund 93,4 Prozent gelegen, sank er in Kalenderwoche 4 laut KMK-Angaben auf 92,3 Prozent. 

 

Erneut um fast die Hälfte erhöhte sich dagegen die Zahl der Schülerinnen und Schüler mit einer der Schule bekannten aktuellen Corona-Infektion: auf 226.133, was rund 2,4 Prozent der deutschen Schülerschaft entsprach. Weniger stark die Zunahme bei den in Quarantäne befindlichen Kindern und Jugendlichen: +27 Prozent auf 270.232.

Dieser Anstieg fiel allerdings vor allem deshalb schwächer aus, weil mit Berlin ein erstes Bundesland die Kontaktverfolgung in den Schulen eingestellt hat – und deshalb keine Zahl von Schülern in Quarantäne mehr lieferte (nach fast 21.000 in der Vorwoche). 

 

Insofern reflektiert wohl auch der kaum noch gesunkene Anteil von Schulen mit vollem Präsenzunterricht den schrittweisen Strategiewechsel der Bundesländer beim Umgang mit Corona-Fällen unter Schülern. Was der Offene Brief der Schülervertreter wohl mit "Durchseuchungsplan" meint. 

 

Zwischen den Bundesländern gab es beim Anteil der Schulen mit eingeschränktem Präsenzbetrieb erneut deutliche Unterschiede. Am höchsten war er in Rheinland-Pfalz (27, 4 Prozent), Bremen (26,1 Prozent) und Thüringen (15,3 Prozent). Erstaunlicherweise meldeten Sachsen, Hamburg und das Saarland der KMK vergangene Woche gar keine teilgeschlossenen Schulen – fast zu schön, um wahr zu sein. 



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Kommentare: 4
  • #1

    Working Mum (Freitag, 04 Februar 2022 09:45)

    "Trotzdem ging in der vergangenen Woche der Anteil von Schulen in Deutschland ohne vollen Präsenzunterricht nur noch leicht zurück."
    Müsste es hier nicht heißen "mit vollem Präsenzunterricht"?

  • #2

    Jan-Martin Wiarda (Freitag, 04 Februar 2022 09:46)

    @Working Mum
    Vielen Dank für den Hinweis! Sie haben Recht. Ich habe den Fehler korrigiert.

  • #3

    Lehrerkind (Montag, 07 Februar 2022 10:37)

    Gesprächsangebote der Politik helfen nichts, wenn es dann nachher nicht in die konkrete Umsetzung geht. Von dem her kann ich die Schüler*innen sehr gut verstehen. Ja, es mag lästig sein, wenn die Betroffenen vor Ort direkt den Finger in die Wunde legen und darauf hinweisen, dass von vielen Versprechungen nichts übrig bleibt, wenn es um die Umsetzung in einzelnen Schulen geht. Die Forderung nach einer besseren Umsetzung der Hygienekonzepte ist berechtigt, wenn man die konkrete Situation an den Schulen, die überfüllten Klassenzimmer und auch die fehlenden rudimentärsten Hygienevorkehrungen betrachtet. Die schönsten, medienwirksamsten Gespräch sind wenig zielführend, wenn nach zwei Jahren Pandemie immer noch Seifenspender fehlen und die Tücher zur Händetrockung auf dem Boden bzw. den Stühlen herumfahren. Die Kinder und Jugendlichen sind diejenigen, die unter diesen Zuständen täglich leiden müssen. Dass ihre Eltern zufrieden sind, ist hier eher zweitrangig. Natürlich ist es für arbeitende Eltern erstmal schön, wenn das Kind in der Schule verwahrt wird. Für die Kinder / Jugendlichen selbst ist die Verwahrung jedoch häufig nicht so schön. Und das müssen Sie auch sagen dürfen!

  • #4

    Karl (Mittwoch, 09 Februar 2022 09:56)

    Im Grunde führt dieser Meinungsartikel genau das vor, was von den Schüler*innen letztlich kritisiert wird: nämlich dass sie in ihren Bedürfnissen und Forderungen nicht ernst genommen werden (sondern ihnen im Subtext auch noch ein eigenständiges Auftreten abgesprochen wird) - und dabei geht es eben nicht nur um (oftmals doch eher wirkungslose, weil vor allem symbolischer Natur) Gespräche mit Bildungspolitiker*innen, sondern - wie Lehrerkind völlig korrekt herausstellt - um die konkrete und flächendeckende Umsetzung von Hygienemaßnahmen.
    Sie hatten schon stärkere Artikel, Herr Wiarda!