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Argumente statt Reflexe

Wenn wir die Debatte über die Berliner Silvesternacht von der Erkenntnis-Nulllinie wegbringen wollen, tun ein paar entscheidende Differenzierungen Not.

Foto: Sascha Kohlmann, CC BY-SA 3.0, via Wikimedia Commons.

MÜSSEN WIR diese Debatte wirklich schon wieder führen? Lässt sich daraus wirklich etwas Neues lernen? Oder werden die immer selben Vorurteile, Ressentiments und argumentativen Kurzschlüsse den Erkenntnisgewinn wieder Richtung Nulllinie verringern? Es sieht leider so aus. 

 

Also: In der Silvesternacht ist es in Berlin und besonders in Neukölln zu schweren Ausschreitungen und gezielten Böller-Attacken auf Polizei, Feuerwehr und Rettungskräfte gekommen. Mindestens 41 Polizisten und 16 Feuerwehrleute wurden verletzt. Zuerst hieß es, 159 Tatverdächtige seien festgenommen worden, später wurde ihre Zahl auf 145 korrigiert. Anfangs teilte die Polizei zur Demografie der Festgenommenen mit, es seien fast ausschließlich junge Männer gewesen. Später folgte die Mitteilung, nur 45 der Festgenommenen hätten die deutsche Staatsangehörigkeit. Was einem Anteil von 31 Prozent entspricht. 27 seien Afghanen gewesen, 21 Syrer. Insgesamt 18 verschiedene Nationalitäten habe die Polizei gezählt.

 

"Bei vielen Einsatzkräften ist der Eindruck vorherrschend, dass Gruppen junger Männer mit Migrationshintergrund bei diesen Ausschreitungen weit überrepräsentiert sind", sagte der Chef der Deutschen Polizeigewerkschaft, Rainer Wendt, laut Süddeutscher Zeitung.

 

Die Wortmeldungen all jener, die seitdem reflexartig "gescheiterte Migrationspolitik!" rufen, lässt sich seither kaum noch zählen. So wie Jens Spahn, der stellvertretende Vorsitzende der CDU-/CSU-Bundestagsfraktion. "Da geht es eher um ungeregelte Migration, gescheiterte Integration und fehlenden Respekt vor dem Staat." Bundesinnenministerin Nancy Faser (SPD) sagte dem RND: "Wir müssen gewaltbereiten Integrationsverweigerern in unseren Städte klar die Grenzen aufzeigen: mit harter Hand und klarer Sprache – aber ohne rassistische Ressentiments zu schüren."

 

Wobei man fragen muss, ob Begrifflichkeiten wie "gewaltbereite Integrationsverweigerer" nicht genau das bereits tun. Noch bedrückender ist, wie zahlreich die Stimmen derjenigen sind, die pauschal ganze Kulturen und Religionen in Mithaftung nehmen wollen. Vieles davon ist nicht wert, zitiert zu werden – prägt aber die öffentliche Debatte. Und vergiftet sie weiter. 

 

Wie damals
in Köln? 

 

Die Parallelen zur Kölner Silvesternacht 2015/2016 drängen sich auf. Auch da war es zur Zusammenrottung junger Männer gekommen, die bzw. deren Familien fast ausschließlich aus Nordafrika und aus arabischen Staaten stammen. Rund 1200 Strafanzeigen wurden in der Folgezeit erstattet, rund die Hälfte davon wegen sexueller Übergriffe, die übrigen hauptsächlich wegen Raub oder Körperverletzung. Drei Jahre später berichtete die ZEIT allerdings, dass es nur zu 37 Verurteilungen gekommen sei, davon sechs wegen sexueller Nötigung. 

 

Damals wie heute wurde der Polizei vorgeworfen, sie habe zu spät die Herkunft der mutmaßlichen Täter transparent gemacht. Es gibt allerdings einen entscheidenden Unterschied: Diesmal konnten die Medien gar nicht schnell genug auf die Migrationsdebatte aufspringen – während sie Anfang 2016 zunächst nur zögerlich über die Zwischenfälle und die Tatverdächtigen berichteten. Sind die Journalisten diesmal sorgfältiger – oder haben sie schlicht Angst vor einer erneuten Medienschelte?

 

Immerhin gibt es auch nüchterne, einordnende Beiträge, etwa der Kommentar des DLF-Korrespondenten Dirk-Oliver Heckmann: "Vor einem Trugschluss aber sollte man sich hüten: Dass die Krawallmacher allesamt Migranten seien". Dem Lagebericht von Faesers Innenministeriums sei schließlich zu entnehmen: Von den in Übergriffe auf die Polizei verwickelten Tätern seien 2021 rund 70 Prozent Deutsche gewesen. >>>


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>>> In der Tat ist gerade eine gute Gelegenheit für die Medien, sich verdient zu machen. Durch Aufklärung und Differenzierung. Was hat die Demografie der in Berlin Festgenommenen denn nun tatsächlich mit den ihnen zur Last gelegten Taten zu tun? Hier sollten – damals in Köln wie heute in Neukölln – dringend ein paar Dinge gerade gezogen werden. Erstens: Migrationshintergrund ist nicht dasselbe wie nichtdeutsche Nationalität. Zweitens: Nicht der Migrationshintergrund begünstigt gewalttätiges Verhalten, sondern Armut und ein Mangel an Bildung. Drittens: Gestörte Männlichkeit ist ein internationales Phänomen.

 

Was bedeutet "junge Männer
mit Migrationshintergrund"?

 

Zu erstens: Wenn man in Neukölln auf Jugendliche trifft, ist es der Normalfall, dass sie aus Einwandererfamilien stammen. Denn so ist nun einmal die Demografie der Jugend Neuköllns. Schaut man sich die Statistik der elf Sekundarschulen im Bezirk an, haben drei davon einen Migrantenanteil von rund 90 Prozent oder mehr, an vier weiteren liegt er über 75 Prozent, und an nur zwei unter der Hälfte. Ein hoher Migrantenanteil unter Tatverdächtigen wäre also erstmal nichts Ungewöhnliches, sondern statistisch erwartbar. 

 

Nur dass Migrationshintergrund gar nicht gleich nichtdeutsche Nationalität ist. Denn die Mehrheit der jungen Neuköllner ist deutsch – von ihrem Selbstverständnis und von ihrem Pass her. Weshalb der hohe Ausländeranteil unter den Festgenommenen genau wie die laut Polizei häufig vertretenen Nationalitäten darauf hindeuten, dass es sich eben nicht nur oder nicht vor allem um die dort aufgewachsene Jugend Neuköllns und Berlins (gleich welcher Herkunft) handelt – sondern um vor wenigen Jahren oder gerade erst nach Deutschland Gekommene und Geflüchtete. Ist diese Unterscheidung wichtig? Ja – weil Anspielungen wie "junge Männer mit Migrationshintergrund" sonst zu pauschalisierenden Fehlschlüssen verleiten. 

 

Wenn eine diesbezügliche Debatte nötig ist, dann, warum es in Berlin (und sicherlich auch anderswo) offenbar nicht ausreichend gelingt, neu Eingewanderte und Geflüchtete zügig zu integrieren. Was wird von ihnen gefordert, wie werden sie gefördert? Hier wäre eine ehrliche und zielgenaue Bestandsaufnahme hilfreich.

 

Was uns zu zweitens führt: Determinante für Gewalt und Kriminalität ist nicht die Herkunft, sondern das Vorhandensein oder Fehlen von Perspektiven. Womit wir auch bei den hier geborenen Jugendlichen sind. Wenn junge Menschen das Gefühl haben, dazuzugehören und Lebenschancen zu haben, ist das Risiko, dass sie  auf die schiefe Bahn geraten, viel geringer. Wer wird schon aus purer Lust oder Langeweile kriminell?

 

Armut, Perspektivlosigkeit und mangelnde
Bildung sind die entscheidenden Faktoren

 

Ja, es stimmt, dass Schulleiter in Neukölln von Familien und Familienclans berichten, die nichts Anderes kennen und wollen als Sozialhilfe und ein Leben im Klein- bis Großkriminellen, aber der Normalfall ist das nicht. Der Normalfall ist, dass unsere Gesellschaft Bildungs- und Lebenschancen früh anhand der sozialen Herkunft verteilt. Und da viele (neue wie bereits lange in Deutschland lebende) Einwandererfamilien in der sozialen Schichtung weit unten stehen, sind auch besonders viele von ihnen abgehängt und frustriert. Die eigentliche Risikobeziehung besteht also zwischen Armut und Gewalt, zwischen mangelnder Bildung und Kriminalität. Was, wenn man zusätzlich das durchschnittliche Pro-Kopf-Einkommen und die Jobsituation für Ungelernte bedenkt, womöglich auch erklärt, warum die Gewalt in Berlin eher explodiert als, sagen wir, in München. 

 

Eine weitere Auffälligkeit, über die sich zu diskutieren lohnt, ist drittens der extrem hohe Anteil junger Männer unter den Tatverdächtigen. Auch dieser erklärt sich zu einem guten Teil statistisch: Unter den Geflüchteten der großen Wellen 2015 und 2016 etwa stellten Männer die große Mehrheit, laut Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) 69 Prozent bei den Asylbewerber des Jahres 2015 – von denen zudem noch 71 Prozent unter 30 und 31 Prozent unter 18 Jahre  alt waren. Die jüngst aus der Ukraine Geflüchteten sind dagegen überwiegend Frauen, Mütter und ihre Kinder.

 

Hinzu kommt, dass Männer in allen Kulturen eher zu offener Gewalt bereit sind als Frauen, was gut erforscht ist. Wie gesagt: Gestörte, verunsicherte Männlichkeit ist ein internationales Phänomen. Man braucht insofern kein Soziologe und kein Psychologe zu sein, um sich vorzustellen, wie Jahre ohne langfristige Bleibeaussichten, ohne reguläre Arbeitserlaubnis und oft ohne eigene Wohnung zu psychischen Belastungen, zu Stress und ja, oft genug, zu Aggressionen führen. Und zwar unabhängig von der Kultur. Was solches Verhalten nicht entschuldigt. Gut denkbar ist, dass Männer in Extremsituationen selektiv auf Traditionen oder auf vermeintliche kulturelle Werte pochen, um ihr Verhalten vor sich und anderen zu rechtfertigen.

 

Soweit drei Differenzierungen, die in meiner Wahrnehmung wichtig gewesen wären für die Debatte um die Kölner Silvesternacht. Und es auch jetzt wieder sind nach den Ereignissen in Berlin und Neukölln. Werden sie diesmal zur Geltung kommen? Eher unwahrscheinlich – denn dann müssten die Rufe nach einer "härteren Gangart" oder einer "restriktiveren Migrationspolitik" sehr schnell Forderungen nach massiven Investitionen in unser Bildungssystem weichen. Und zwar besonders in Stadtbezirken wie Berlin-Neukölln.

 

Die meisten Einwanderer und Geflüchteten tragen 

wie selbstverständlich zu unserer Gesellschaft bei

 

Es müsste darüber diskutiert werden, warum wir die Geflüchteten aus der Ukraine von Anfang an zu Recht mit möglichst vielen Möglichkeiten und Perspektiven begrüßt haben – dieselbe Offenheit aber Afghanen, Syrern und anderen verweigert haben. Und was wiegt schwerer: die Weigerung sicher nicht weniger Geflüchteter und auch hier Aufgewachsener, sich zu integrieren – oder die systematische Ungleichbehandlung durch die Gesellschaft, die sie täglich erfahren, die Geringschätzung und der Mangel an Chancen, sich zu beweisen? Die sie, siehe oben, mit vielen schon in der Schule Abgehängten mit und ohne Migrationshintergrund teilen.

 

Vor allem aber sollten wir gerade jetzt betonen, wie viele Einwanderer und Geflüchtete es nach 2015 trotz allem geschafft haben. Wie viele angekommen sind in Ausbildungen und Berufen, wie viele sich selbst und ihre Angehörigen ernähren können und wie selbstverständlich zu der Gesellschaft beitragen, zu der sie gehören. Trotz ungleich verteilter Chancen. Trotz aller Stereotype und Vorbehalte. Es sind Hunderttausende. Was sie wohl empfinden, wenn angesichts von 145 Festgenommenen von "gescheiterter Integration" die Rede ist? Wahrscheinlich gehört zu diesem Scheitern, dass sie gar nicht erst gefragt werden.

 

Nachtrag am 10. Januar: Laut einem Bericht des Tagesspiegel relativieren sich die vorher bekannten Zahlen bereits. Einer neuen Statistik der Berliner Polizei zufolge seien zwei Drittel der 38 nach reinen Böllerattacken auf Polizisten und Feuerwehrleute festgenommenen mutmaßlichen Täter deutsche Staatsbürger und unter 21 Jahre alt, schreibt die Tageszeitung. Die zuvor angegebene Zahl  von 145 festgenommenen Personen beziehe sich "auf alle Personen, die von den eigens für Silvester eingesetzten Einheiten wegen verschiedener Delikte in der gesamten Stadt festgenommen wurden – neben Angriffen auf Beamte auch wegen Brandstiftung, Verstößen gegen das Sprengstoffgesetz und Landfriedensbruchs". 

 

Der neue Bericht zeigt, wie wichtig es gewesen wäre, dass Polizei und Medien nicht übereilt Zahlen ohne Kontext herausgeblasen hätten. Ob die neue Statistik nun noch genauso wahrgenommen wird wie jene Zahlen, die überhaupt erst zu der aufgeregten und pauschalisierenden Debatte geführt haben? Ich habe da leider meine Zweifel.

 

Übrigens wäre, siehe meine Argumentation oben, aber auch gar nichts überraschend daran, wenn die zwei Drittel Festgenommenen mit deutscher Staatsangehörigkeit einen Einwanderungshintergrund haben sollten. Einfach, weil, auch das habe ich ausgeführt, die Demografie unter Jugendlichen in Berlin und besonders Neukölln so ist. Statistisch erwartbar also. Es bleibt insofern dabei: Viel wichtiger ist, dass die Risikobeziehung zwischen Armut und Gewalt, zwischen mangelnder Bildung und Kriminalität in den Vordergrund der Debatte tritt und die Rolle gestörter Männlichkeit. Doch auch hier stellt sich die Frage, ob das nach der aufgeregten Berichterstattung der ersten Tage noch geschehen wird.

 


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Kommentare: 3
  • #1

    Jan-Martin Wiarda (Donnerstag, 05 Januar 2023 12:40)

    Liebe Leserinnen und Leser, bitte entschuldigen Sie, dass dieser Hinweis verspätet kommt. Kommentieren Sie sehr gern diesen Beitrag. Allerdings werde nur Kommentare mit nachvollziehbarem Klarnamen online stellen.

    Vielen Dank und viele Grüße
    Ihr Jan-Martin Wiarda

    @Regierungsrat: Bitte stellen Sie Ihren Kommentar noch einmal ein oder kontaktieren Sie mich, damit ich dies tun kann. Besten Dank!

  • #2

    S. Müller (Freitag, 06 Januar 2023)

    Es gibt bei Gewaltvorfällen in größerem Umfang (Phänomene wie Reichsbürger-Umsturz, Islamistischer Terror, Femizide), zu den auch das seit Jahren regelmäßig erörterte Thema von Gewalt gegen Einsatzkräfte gehört, einen gemeinsamen Nenner. Die Täter sind männlich und haben ein diskriminierendes Weltbild. Es wäre wichtig, dass Thema anzugehen und sich nicht in Debatten zum Gendern zu verlieren, wie es die ehemalige Regierungspartei gerne tut. Wie ausgeführt muss man sich mit dem internationalen Problem der gestörten Männlichkeit befassen. Spanien tut das und die Zahlen belegen, dass dies zu Verbeserung für alle Beteiligten führt. Warum mag Deutschland sicher dieser Thematik nicht stellen? Kein Interesse an Fortschritt? Die Digitalisierung haben wir schon verschlafen. Den Energiebinnenmarkt haben wir verschlafen. Frieden und Wohlstand scheint kein maßgebliches Zweck mehr für uns zu sein. Schade!

  • #3

    Steffen Schmitt (Freitag, 06 Januar 2023 13:34)

    S. Müller hat recht. Vielleicht nehmen sich die Talk-Shows und die Politik des Themas an, wobei das männliche Triumvirat aus Kanzler und Vizekanzler nicht gerade für diese Thematik stehen. Republik Stillstand