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Die Academic Crisis List

Was macht sie aus, die Krise unseres Wissenschaftssystems?
Ein Überblick über die wichtigsten Fehlentwicklungen in zwei Teilen. Teil 1: Von der Karriereplanung bis zum wissenschaftlichen Publikationswesen. Von Lutz Böhm und Michael Gerloff. 

Weil alles mit allem zusammenhängt: ein Screenshot der ursprünglichen Academic Crisis List.

WER SICH MIT DER WISSENSCHAFT AUSEINANDERSETZT, stößt unweigerlich auf bestimmte wiederkehrende Problemfelder. Dies geschieht jedoch meist schlaglichtartig. Nicht erst seit #IchbinHanna werden im deutschsprachigen Raum die Arbeitsbedingungen in der akademischen Wissenschaft diskutiert. Dabei sind prekäre Arbeitsbedingungen nur ein Symptom eines komplexen Systems. Tatsächlich zeigt sich bei genauerer Betrachtung, dass die einzelnen Felder miteinander verwoben sind und meist durch Fehlanreize verursacht werden.  

 

Dieser Artikel ist das Resultat der "Academic Crisis List", die bereits auf Twitter mit der wissenschaftlichen Community geteilt wurde. Die inzwischen gesammelten Verweise zu den einzelnen Punkten erlauben es uns nun, diese aktualisierte Liste auch einer breiteren Öffentlichkeit vorzustellen. Mit diesem zweiteiligen Gastbeitrag wollen wir eine Einführung und einen Überblick über die zahlreichen Baustellen der nationalen und internationalen akademischen Wissenschaftslandschaft liefern, um eine möglichst breite Debatte anzustoßen. Es ist nötig, sich die Komplexität und Verwicklung all dieser Aspekte klar zu machen. Man kann nicht nur ein einzelnes Problem angehen, ohne die Auswirkungen auf andere Bereiche zu sehen. Der kompakte Überblick soll dabei helfen, dies noch besser zu verstehen. Eine dringend notwendige Reform des akademischen Wissenschaftssystems muss im Sinne eines Anreizsystem ganzheitlich gedacht werden. Es lohnt sich daher, zuerst eine Bestandsaufnahme vorzunehmen. 

 

In Teil 1: 

Karriereplanung – Lebensplanung – Arbeitsbedingungen – Postdoc-Krise – Machtmissbrauch – Reproduzierbarkeit – Fehlerkultur – wissenschaftliches Publikationswesen – Zwischenfazit.


Michael Gerloff promoviert am Max Planck Institut für molekulare Genetik und engagierte sich schon als Student der Biochemie für eine grundlegende Reform der akademischen Wissenschaft sowohl auf lokaler Ebene als auch online bei SPDWissPol und NGAWiss. Fotos: privat.

Lutz Böhm ist PostDoc am Fachgebiet Verfahrenstechnik der TU Berlin, aktiv  in der akademischen Selbstverwaltung und setzt sich seit 2021 unter anderem. durch das Erstellen der  "Academic Crisis List" für bessere Arbeitsbedingungen in der Wissenschaft ein.



Karriereplanung


Im Jahr 2007 trat das Wissenschaftszeitvertragsgesetz (WissZeitVG) in Deutschland in Kraft. Es sollte die bessere Planung einer wissenschaftlichen Karriere ermöglichen. De facto werden die Regelungen des WissZeitVG jedoch nicht im Sinne einer planbaren Karriere angewandt. Das WissZeitVG hat sich zu einem Instrument der maximalen Flexibilität der akademischen Wissenschaftseinrichtungen entwickelt. In den sozialen Medien gibt es viele Hashtags (zum Beispiel #IchBinHanna und #IchbinReyhan), mit denen Geschichten verknüpft werden, die einen oft zermürbenden Weg beschreiben. Oft ist dieser Weg nicht von Erfolg gekrönt, was übrigens nicht zwangsläufig "Professur" bedeuten müsste. Es gibt genug Menschen in der Wissenschaft, die auch "unterhalb" der Professur gerne unbefristet an der Hochschule arbeiten würden. In Deutschland ist man jedoch entweder "Nachwuchs" oder "Professor:in".

 

Die Einführung der Juniorprofessur war ein Versuch, diesen Missstand aufzubrechen und die Habilitation als Berufungsvoraussetzung zu ersetzen. Dieser Versuch ist gescheitert. Die meisten Juniorprofessuren werden ohne Tenure Track oder einer vergleichbaren Entfristungsperspektive ausgeschrieben. Hierbei muss man mit dem Wissen, dass die eigene Stelle befristet ist, neben dem Aufbau eines eigenen Fachbereichs und Forschungsprofils, sich praktisch ab Tag Eins auf andere unbefristete Professuren bewerben. Insbesondere, da alle in dem Bereich wissen, wie lange die Berufung auf eine andere Professur dauern kann. Sechs Jahre sind für die Fülle dieser Aufgaben und die Hoffnung, vorher auf eine andere Professur berufen zu werden, ein sehr herausfordernder Zeitraum. Es gibt jedoch Alternativvorschläge zum Lehrstuhlprinzip, die in Betracht gezogen werden sollten.


Lebensplanung

 

Eng verzahnt mit der Karriereplanung ist für die meisten Menschen die Lebens- beziehungsweise Familienplanung. Die oft kurzen Verträge, die häufigen Umzüge oder große Pendelstrecken sind dabei echte Herausforderungen. Sind Kinder da, kommt noch die ohnehin aufwendige Suche nach Kindergarten- oder Schulplatz hinzu. Dies führt unweigerlich dazu, dass insbesondere Frauen den Pfad der wissenschaftlichen Karriere verlassen oder verstärkt in Teilzeitmodelle wechseln. Der nicht in allen Fällen durch äußeren Zwang wie zum Beispiel dem WissZeitVG bedingte Ausstieg aus der Wissenschaft ist auch ein internationales Phänomen. Gerne wird dabei eine gewisse Flexibilität von Eltern erwartet, was sich dann in Narrativen niederschlagen kann, dass diese in der weniger zur Verfügung stehenden Zeit eben effizienter arbeiten müssen. Leider werden diese Narrative oft in der wissenschaftlichen Community und unter Eltern selbst bedient. >>


Arbeitsbedingungen

 

Die prekären Arbeitsbedingungen in der Wissenschaft, die unter anderem aus der oben genannten Auslegung des WissZeitVG resultieren, sind dabei jedoch kein rein deutsches Phänomen. Kurze Verträge, niedriges Einkommen durch Lohndumping (zum Beispiel 65 Prozent Stellen bei faktisch mehr als 100 Prozent Arbeitszeit, nicht nur bei Doktoranden, sondern auch bei Postdoc-Stellen) und niedrig dotierte Stipendien stellen ein internationales Problem dar. Gerade die zuletzt genannten Stipendien gehen in Deutschland mit den nicht gezahlten Sozialleistungen einher. Kurzfristig macht sich das bei dem Nichtbezug von Arbeitslosengeld I bemerkbar. Langfristig fehlen im Alter Punkte für eine auskömmliche Rente, was auch bei einem Anstellungsverhältnis aus oben beschriebenen Gründen Frauen stärker betrifft. In extremen Fällen muss Doktorand:innen empfohlen werden, sich einen Nebenjob zu suchen, um finanziell über die Runden zu kommen. Eine Besserung auf internationaler Ebene ist dabei nicht in Sicht. Die Einsicht scheint jedoch zu wachsen, dass etwa die Promotionsphase einer Reform bedarf, da sie in Teilen auf Strukturen des 19. Jahrhunderts aufbaut.

 

Ein OECD-Bericht, der sich insbesondere auf die prekäre Arbeitssituation in der PostDoc-Phase bezieht, unterstreicht den internationalen Charakter des Problems und macht unter anderem Vorschläge für politische Strategien zur Entschärfung der Situation.


Post-Doc-Krise

 

Repräsentativ stehen Begriffe wie "quiet quitting", "the great resignation" und speziell bezogen auf die Wissenschaft der Hashtag #AltAc dafür, dass sich insbesondere Menschen, die nach 1980 geboren wurden,  schlechte Arbeitsbedingungen nicht mehr bieten lassen wollen und sich im Zweifelsfall lukrativere oder zumindest weniger risikoreiche Alternativen außerhalb der akademischen Wissenschaft suchen. Der unsichere Karriereweg spielt hier eine große Rolle.

 

In vielen Wissenschaftsdisziplinen wird schon von einem Post-Doc-Mangel gesprochen, der hoffentlich zu einem Umdenken in Richtung mehr unbefristeter Stellen führt. In Deutschland gibt es mit der aktuellen Bundesregierung und der überfälligen Evaluation des WissZeitVG Tendenzen auf der Post-Doc-Ebene verstärkt in Richtung unbefristeter Stellen zu gehen.

 

Auf Landesebene hat Berlin mit dem reformierten Berliner Hochschulgesetz einen ersten Aufschlag gewagt. Hierbei besteht die Verpflichtung, haushaltsfinanzierte Post-Doc-Stellen mit einer Art Tenure Track auf eine unbefristete Stelle zu versehen. Die Zukunft muss zeigen, ob es dadurch zu mehr unbefristeten Post-Doc-Stellen kommt oder die Hochschulen deutlich weniger haushaltsfinanzierte Post-Doc-Stellen ausschreiben. Letztendlich werden Einsparungen an Hochschulen häufig durch das Nichtbesetzen von budgetär zugeteilten Stellen der Wissenschaftlichen Mitarbeiter:innen getätigt. Diese "Flexibilität" der Hochschulen reduziert sich durch unbefristete Stellen.


Machtmissbrauch

 

Die Promotions-, Postdoc- und Habilitionsphasen sind laut Hochschulrektorenkonferenz Qualifikationsphasen, wobei dieser Begriff missbräuchlich als Begründung für die oben genannten prekären Arbeitsbedingungen genutzt wird. An den Hochschulen geht dies mit den patriarchalen und paternalistischen Begriffen "Doktorvater" und "Nachwuchs" einher. Die Abhängigkeit des "Nachwuchses" von der Betreuer:in durch die Bewertung der Dissertation oder Habilitationsschrift kann zu Machtmissbrauch führen.

 

Die zugehörige Formel ist relativ einfach: Wenn du X nicht machst, werde ich das Manuskript nicht bewerten oder den Vertrag nicht verlängern. Leider kann "X" dabei sehr viel sein. Dieser Machtmissbrauch kann von erwarteter Mehrarbeit über Arbeit an problematisch kommerziellen Projekten bis hin zu sexualisierter Gewalt führen. Insbesondere die sexualisierte Gewalt auf Basis des akademischen Machtgefüges erweist sich als internationales Problem. Beispiele aus Deutschland, den Niederlanden und den USA illustrieren dies.


Reproduzierbarkeit

 

Die Integrität der Wissenschaft wird gerne als Ideal nach außen verkauft. Zur Integrität gehört auch die Reproduzierbarkeit von Versuchsergebnissen, welche die ganz grundsätzliche Basis des Erkenntnisgewinns der experimentellen Wissenschaften darstellt. Leider ist aber nicht die verlässliche Reproduzierbarkeit der Ergebnisse das wichtigste Kriterium für eine Publikation in möglichst renommierten Zeitschriften. Vielmehr entscheidet die Brisanz und damit die vermutete Zitierbarkeit der Ergebnisse darüber, "wie gut" ein Artikel publiziert werden kann. Dies hat einen unmittelbaren Einfluss auf die anschließende Einwerbung von Projektmitteln. Es gibt dadurch einen Anreiz, spektakuläre, aber leider unzuverlässige oder sogar gefälschte Daten zu veröffentlichen (Replikationskrise).

 

Dass dies zu enormem monetären Schaden führt, verdeutlichen die Kosten für nicht-reproduzierbare präklinische Studien eindrucksvoll. Leider zeigt sich, dass auch Forschungsdaten in den vermeintlich renommiertesten Zeitschriften keine höhere Verlässlichkeit aufweisen. Dies führt dazu, dass sich inzwischen ein Netz aus professionellen Fehlersucher:innen und Whistleblowern entwickelt hat und neue quantitative Parameter wie der Retraction Index ermittelt werden.


Fehlerkultur

 

Experimente gehen schief. Ergebnisse bestätigen im Regelfall die Hypothese nicht vollständig. Das ist ein normaler Teil der experimentellen Wissenschaften und führt doch zu Erkenntnisgewinn. Trotzdem tendieren Wissenschaftler:innen (wie vermutlich auch Nicht-Wissenschaftler:innen) dazu, nur über vermeintliche Erfolge bzw. vielmehr über erfolgreiche Studien zu reden und eben diesen Erkenntnisgewinn aus dem "Scheitern" nicht mitzuteilen. Der Grund ist auch hierfür klar: Gute, das heißt positive und brisante, Ergebnisse kann man eher in renommierten Zeitschriften platzieren. Nur dies ermöglicht das Überleben im akademischen System und das erfolgreiche Einwerben von Drittmitteln.

 

Dabei gibt es durchaus Plädoyers für das Recht auf Scheitern. Eine gesunde Fehlerkultur muss sich im akademischen System erst etablieren. Leider setzt das "System" Wissenschaft nicht die Anreize dafür, dass das, was hier "Scheitern" genannt wird, stärker normalisiert wird.


Wissenschaftliches Publikationswesen

 

Das wissenschaftliche Publizieren hat sich zu einem Multimilliarden-Dollar-Geschäft mit atemberaubenden Profitmargen entwickelt, das von einer Handvoll Verlagen dominiert wird. Einige Verlage spielen dabei ihre Macht aus, indem sie ohne Interesse an Kompromissen in Verhandlungen mit Universitätsbibliotheken auf ihrer Position zum Beispiel beim Thema Open Access beharren und Verhandlungen jahrelang aussitzen.

 

Open-Access-Publikationen sind im Sinne transparenter Wissenschaft absolut wünschenswert und auf dem Vormarsch, aber die zum Teil  exorbitanten Kosten der Veröffentlichung (zum Beispiel Article Processing Charges, APCs) benachteiligen strukturell Wissenschaftler:innen aus ärmeren Ländern. Darüber hinaus öffnen sich im digitalen Zeitalter neue, jedoch unethische wirtschaftliche Möglichkeiten aus dem Sammeln von Nutzerdaten von Websites der entsprechenden Zeitschriften. Trotzdem leben wir nach wie vor in einer Kultur des "publish or perish", in der immer mehr publiziert, aber vieles weder gelesen noch zitiert wird. Neben den genannten seriösen Verlagen gibt es außerdem eine Vielzahl an "predatory publishers".

 

Bis heute wird wissenschaftlichen Journalen eine gewisse Qualitätskontrolle zugeschrieben, unter anderem durch das Peer Review Verfahren. Jedoch funktioniert der Reviewprozess längst nicht immer so, wie er sollte. Weiterhin zeigt sich auch, dass nicht nur die Qualität der Arbeit eine Rolle in der Bewertung eines Artikels spielt, sondern auch, wie renommiert die Autor:innen sind. Artikel von bekannten Forscher:innen werden nachweislich weniger kritisch bewertet. Editoren sind darüber hinaus häufig selbst Wissenschaftler:innen, die diese Tätigkeit neben der täglichen Arbeit machen. Die exorbitante Menge von eingereichten Artikeln und Reviews macht es dabei unmöglich, für jeden Artikel eine tiefgehende Analyse der vorliegenden Dokumente und Daten durchzuführen, was eben auch zum Ablehnen von Artikeln auf Basis sachlich falscher Kritik im Peer Review führen kann.

 

Es liegt in der Natur der Sache, dass Forschungsergebnisse publiziert werden müssen. Daraus leitet sich auch der Erfolg von Drittmittelanträgen und Bewerbungen ab. Das System der wissenschaftlichen Publikation ist jedoch nachhaltig beschädigt und bedarf einer fundamentalen Erneuerung.


Zwischenfazit

 

In diesem ersten Teil der vorliegenden Liste haben wir nicht nur einzelne Krisenfelder der akademischen Wissenschaftslandschaft adressiert, sondern auch deren enge Verknüpfung miteinander aufgezeigt.

 

Der Verbleib im akademischen Wissenschaftsbetrieb ist heutzutage fast ausschließlich von der Berufung auf eine unbefristete Professur abhängig. Für die Berufung auf eine Professur zählen unter anderem möglichst viele Publikationen in möglichst vielen renommierten Verlagen und Journalen. Die Verknüpfung von prekären Arbeitsbedingungen mit „publish or perish“ setzt, wenig überraschend, massive Fehlanreize. Nicht die genau geprüfte Erkenntnis führt zum Erfolg, sondern die möglichst brisante und schnell publizierte. Eine Reform der prekären Arbeitsbedingungen ist daher nicht losgelöst von einer tiefgreifenden Reform des Publikationswesen und vieler weiterer Aspekte zu betrachten.

 

Aufbauend auf die beschriebenen Problemfelder in diesem Teil, werden im zweiten Teil dieses Artikels die Effekte auf die wissenschaftliche Freiheit, quantitative Wissenschaftsevaluation und die gesellschaftliche Wahrnehmung der akademischen Wissenschaft diskutiert.


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Kommentare: 15
  • #1

    na ja (Dienstag, 21 Februar 2023 16:45)

    Und da haben wir den nächsten Versuch, die vermutete Misere des Wissenschaftsbetriebes zu analysieren. Davon werden wir noch zig Versuche mehr sehen. Dem Wissenschaftsbetrieb ist's zum Glück egal. Im Großen und Ganzen funktioniert alles ja ganz gut. Die Karawane zieht also einfach weiter.

  • #2

    Potsdamer (Dienstag, 21 Februar 2023 20:50)

    Von Arthur Danto stammt der Satz, daß man eine wissenschaftliche Schule danach beurteilen müsse, ob sie ihre eigenen Kriterien auf sich selbst anwende. In diesem Sinne bräuchten wir wesentlich mehr Metascience. Aber eben echte -- keine Potemkinschen Dörfer zu Fundraisingzwecken wie bei der BUA.

    Die Hoffnung stirbt zuletzt :)

  • #3

    Hanna (Mittwoch, 22 Februar 2023 10:16)

    Danke für die wichtige Liste der Krisen. Auch wenn eine optimistischere Bezeichnung wie "Herausforderung" vermutlich die Veränderungsmöglichkeiten stärker betonen würde, finde ich Krise durchaus passend, da der Begriff die Machtlosigkeit zumindest aus der Sicht der Wiss. Mitarbeiter:innen gut beschreibt, Veränderungen innerhalb der Institution kaum anstoßen zu können. An den Universitäten (Professorenmehrheit in meist allen Gremien) und bei Drittmittelvergaben entscheiden fast ausschließlich Professor:innen und damit die Mächtigen im Wissenschaftssystem. In dieser Gruppe besteht z.B. ein starker Anreiz, Mitarbeiter:innen weiterhin prekär, abhängig, befristet beschäftigen zu können. Die Wissenschaft lebt aber von der besseren Idee und nicht vom Machtstatus oder der Seniorität. Daher muss die Wissenschaft demokratischer organisiert werden. Vielleicht sollte das Thema "Demokratiekrise in der Wissenschaft: Vom Lehrstuhl zum Departmentmodell, Parität in Gremien" auf der Liste ergänzt werden?

  • #4

    Lutz Böhm (Mittwoch, 22 Februar 2023 11:54)

    @Hanna:
    Das Departmentmodell ist oben als "Alternativvorschlag" auch verlinkt. Der angesprochene Aspekt der Problematik mit der (akademischen) Selbstverwaltung ist auf der Liste vorhanden, musste aber aus Kürzungsgründen im 2. Teil gestrichen werden. Ich werde das wahrscheinlich nächste oder übernächste Woche noch aus Twitter posten.

  • #5

    Oho! (Mittwoch, 22 Februar 2023 12:40)

    @Hanna: Sie schreiben "An den Universitäten (Professorenmehrheit in meist allen Gremien) und bei Drittmittelvergaben entscheiden fast ausschließlich Professor:innen und damit die Mächtigen im Wissenschaftssystem. In dieser Gruppe besteht z.B. ein starker Anreiz, Mitarbeiter:innen weiterhin prekär, abhängig, befristet beschäftigen zu können. Die Wissenschaft lebt aber von der besseren Idee und nicht vom Machtstatus oder der Seniorität."

    Genau! Wissenschaft lebt von der besseren Idee. Und die bessere Idee haben in der Regel die Professoren und nicht die wiss. Mitarbeiter. Das Gros der wiss. Mitarbeiter hat überhaupt nie eine relevante, eigene Idee, sondern führt die kreativen Ideen der Professorenschaft aus. Der sehr geringe Anteil von Mitarbeitern, der wirklich gute Ideen hat, wird i.d.R. Professor. So sieht die Realität aus.

  • #6

    Lutz Böhm (Mittwoch, 22 Februar 2023 13:52)

    @Oho!
    "Das Gros der wiss. Mitarbeiter hat überhaupt nie eine relevante, eigene Idee, sondern führt die kreativen Ideen der Professorenschaft aus."

    *Der PostDoc, der viel mit seinen Doktorand:innen redet, hebt zaghaft die Hand*

    "Der sehr geringe Anteil von Mitarbeitern, der wirklich gute Ideen hat, wird i.d.R. Professor. So sieht die Realität aus."

    Gute Ideen verschaffen einem nicht eine Professur. Und das ist der Punkt der gesamten Liste. Nicht Ideen (alleine) sondern den falschen Anreizen des Systems folgende Konformität zum aktuellen System verschafft einem eventuell - mit einem großen Ausruifezeichen - eine Professur.

  • #7

    Oho! (Mittwoch, 22 Februar 2023 16:02)

    @Lutz Böhm: ich kann die Frustration auf Seiten der Mittelbauern natürlich verstehen. Wissenschaft ist ein knallhartes, leistungsorientiertes Geschäft und es nervt, dass man hier mit Mühe und Fleiss allein nicht weiterkommen kann. Man muss wirklich talentiert sein. SEHR SEHR talentiert. Dann klappt es auch. Nur 'gut' reicht nicht und das ist auch gut so. Das ständige Gerede von Macht und Konformität und falschen Anreizen trifft sicher auf einige Fälle zu (die dann in der Presse bis zum Geht nicht mehr durchgerudert werden) aber das bleiben Randerscheinungen. Ernsthaft betriebene Wissenschaft ist auch keine Arbeit mit regelmäßigem Büroschluss um 4 und ''am WE gehört Papi mir''. Ich habe nichts gegen solche Prinzipien, aber in der Wissenschaft wird man damit nichts. Das liegt nicht am bösen System, sondern ist immanenter Bestandteil von Forschung. Sie brennen dafür oder Sie lassen es besser bleiben.

  • #8

    Lutz Böhm (Mittwoch, 22 Februar 2023 19:50)

    Work-Life-Balance als Kampfbegriff. Das ist mir nur allzu gut bekannt.

    Die Frage an die ältere Professorengarde ist da ganz einfach: würden diese in der heutigen Zeit mit den heutigen Gegebenheiten auch noch die Professur bekommen?

    Und wer hat denen ermöglicht, nicht nine to five zu arbeiten und was hat diese dafür geopfert?

  • #9

    MC (Mittwoch, 22 Februar 2023 22:39)

    @Oho!
    1. "Wissenschaft ist ein knallhartes, leistungsorientiertes Geschäft und es nervt, dass man hier mit Mühe und Fleiss allein nicht weiterkommen kann."
    2. "Sie brennen dafür oder Sie lassen es besser bleiben."

    Schreiben Sie selbst, brennen reicht nicht

  • #10

    Michael Gerloff (Mittwoch, 22 Februar 2023)

    @Oho!

    Bei allem Respekt, ihre Meinung basiert auf Zirkelschlüssen.
    Wer bestimmt, was die "bessere Idee" ist? Wer bestimmt, was eine"relevante Idee" ist? Wie wird Talent definiert und gemessen?
    Nach ihrer Argumentation muss ein Professor "bessere Ideen" gehabt haben, sonst wäre er nicht Professor geworden. Das ist eine schwache Argumentation in sich selbst.
    Die Wissenschaftsgeschichte ist voll von Beispielen, in denen spätere Professoren durch Ideen anderer Menschen erfolgreich wurden. Jedes Jahr gibt es bei den Nobelpreisen eine Debatte darüber, dass Menschen für die Arbeit anderer geehrt werden.
    Noch augenscheinlicher wird der Schwachpunkt ihrer Argumentation, wenn man sich anschaut, welche Menschengruppe Professor wird. Ginge es nur um Talent, Ideen und Hingabe, müssten wir seit Jahrzehnten eine Geschlechterparität unter den Professoren sehen. Wir hätten keinen Unterschied zum Normalbevölkerungsanteil für andere marginalisierte Gruppen wie nicht heterosexuelle Menschen, Menschen ohne familiären Akademikerhintergrund, Menschen mit Migrationshintergrund, nicht-weiße Hautfarbe usw.
    Professoren bestimmen, wer Professor werden darf. Dass diese Entscheidung nur auf Talent, Hingabe und Ideen der Kandidaten basieren würde, ist Wunschdenken.

  • #11

    Potsdamer (Donnerstag, 23 Februar 2023 15:48)

    Der Austausch zwischen oho! und den Autoren ist unterkomplex. Typisch deutsche Schützengräben.

    Kreativität ist eine Frage der Dosis. Eine gewisse Kreativität ist nötig, um Professor zu werden. Aber wer zu kreativ ist -- d.h. dem aktuellen Forschungsstand zu weit voraus-- hat an konformistischen und ohnehin rückständigen deutschen Unis ganz schlechte Karten. An echten Spitzenunis in den USA ist das besser (wenn auch immer noch längst nicht so gut, wie es sein sollte).

  • #12

    Oho! (Donnerstag, 23 Februar 2023 16:12)

    @MC: Zitat Schreiben Sie selbst, brennen reicht nicht".

    Sie muessen schon genauer lesen. Mein "Sie brennen dafür oder ..." bezieht sich auf das Büroschluss um 4-Problem.

  • #13

    Oho! (Freitag, 24 Februar 2023 08:21)

    @Michael Gerloff: Sie vergleichen eine unglaublich kleine Gruppe - Nobelpreistraeger und Leute, die auf diesem Niveau arbeiten - mit der riesigen Gruppe der in D (oder anderswo) arbeitenden wiss. Mitarbeiter. Das macht doch keinen Sinn. Ebensowenig ist es sinnvoll, zu argumentieren, die Wissgeschichte sei voll von Beispielen, in denen spaetere Profs durch Ideen von anderen erfolgreich wurden. Wie gross ist denn dieser Prozentsatz im Vergleich zu allen Karrieren in der Wiss? Das ist eine Masche, die man oft beobachten in der Debatte beobachten kann. Eine Randgruppe (von Faellen) wird extrapoliert auf das Grosse und Ganze. Das ist unredlich. Schliesslich: die Vorstellung, dass sich in der Professorenbesetzung die Bevoelkerung hinsichtlich ihrer Eigenschaften (welcher eigentlich noch?) "seit Jahrzehnten" gleichmaessig abbilden sollte, wenn alles gerecht zugehen wuerde, ist doch absurd. Lassen wir das "seit Jahrzehnten" einmal weg, das koennen Sie ja nicht ernst gemeint haben. Haben Sie schon einmal etwas von "Neigungen" gehoert. Sie werden etwa in den Ing-Wiss. nie eine Paritaet erreichen. Wenden Sie ihr Prinzip doch einmal auf die Abbildung der Bevoelkerung in der Berufsgruppe von Grundschullehrerpersonal an. Das ist pure Ideologie. Freundliche Gruesse.

  • #14

    kldi (Freitag, 24 Februar 2023 17:07)

    Mit Blick auf diese und ähnlich gelagerte Diskussionen ich frage mich ob es eigentlich unter Musikern eine vergleichbare Diskussion gibt.

    Deren Chancen auf ein einträgliches Auskommen sind auch eher gering oder zumindest unsicher, und das gilt auch für höchst qualifizierte und talentierte Musiker. Den Erfolg heimsen auch des öfteren weniger qualifizierte oder weniger talentierte Kolleg:innen ein und ein unbefristete Anstellungen gibt es so gut wie nie. Es passiert auch öfter das anonyme Studiomusiker die Aufnahmen für die Stars einspielen, weil die es nicht schaffen. Auch hier gilt das Matthäus-Prinzip etc. Bei Musikern gibt es ebenfalls keine Work-Life Balance oder geregelte Arbeitszeiten. etc etc.

    Es gibt noch eine ganze Reihe von Berufsgruppen, auf die vergleichbare Aussagen angewendet werden können, ohne dass dies in der öffentlichen Debatte thematisiert wird. Was also ist am akademischen Betrieb so besonders?

    Übrigens sind Ideen an sich weitgehend wertlos, es sei denn sie werden umgesetzt oder realisiert.

  • #15

    dixit (Mittwoch, 01 März 2023 11:26)

    Oho! scheint mir ein Troll zu sein - oder Hegelianer.