· 

Schaut auf die Kitas!

Die IGLU-Misere ist keine neue, und doch hat die Politik beschämend viel Zeit vergeudet. Bekommt die frühkindliche Bildung nun endlich die politische Bedeutung, die ihr zusteht?

Foto: Pxfuel.com, CC0.

EIN VIERTEL DER VIERTIKLÄSSLER in Deutschland kann nicht richtig lesen. Die öffentliche Aufregung über die Zahlen von IGLU 2021 war groß am vergangenen Dienstag. Das ist sie allerdings jedes Mal, wenn die Ergebnisse der alle fünf Jahre wiederholten "Internationale Grundschul-Lese-Untersuchung" oder ähnlicher Studien veröffentlicht werden. Denn schon 2011 ging es mit der Lesefähigkeit der Grundschüler abwärts, 2016 ebenfalls. Die Bundesrepublik dümpelt im internationalen Mittelfeld. Allein auf der Bildungsungerechtigkeitsskala erreichte sie erneut einen vorderen Rang, diesmal Platz 7 von 42. Soll heißen: Wie gut Kinder lesen können, hängt extrem stark von ihrer sozialen Herkunft ab. Die damit weitervererbt wird. 

 

Die Gründe sind vielfältig und ebenfalls vielfach diskutiert. Im internationalen Vergleich wird hierzulande im Unterricht auffallend wenig gelesen, die Texte sprechen die Kinder nicht an, die individuelle Förderung ist unzureichend, die Möglichkeiten der Digitalisierung bleiben oft ungenutzt. Mangelnde Fortbildung der Lehrkräfte spielt eine Rolle, sicher auch der Lehrermangel – und zuletzt hat die Pandemie die Leseleistungen international sinken lassen. 

 

Erstaunlich an der IGLU-Debatte war allerdings, wie wenig sie über den Tellerrand der Grundschule hinausblickte. Dabei sind sich die meisten Bildungsforscher einig, dass – gerade weil die eigene Familie eine so große Rolle spielt – ein Großteil der Bildungschancen bereits im Vorschulalter verteilt werden. Hier könnten, hier müssten die Kitas entgegenwirken. 

 

Kinder aus Einwandererfamilien gehen leer aus

 

Und genau da liegt ein Riesenproblem. 378.000 Kitaplätze fehlen, um den seit August 2013 (einem Jahrzehnt!) bestehenden Rechtsanspruch auf einen Kitaplatz umzusetzen, davon 291.000 bei den unter Dreijährigen. Das hat neulich das Bundesfamilienministerium auf eine Anfrage der linken Bundestagsfraktion mitgeteilt. Das Deutsche Jugendinstitut wiederum hat berechnet, dass die Kitas im Jahr 2025 bis zu 73.000 Fachkräfte zu wenig haben werden, vor allem in Westdeutschland, "auch wenn weiterhin eine große Zahl an neuen Fachkräften jährlich auf den Arbeitsmarkt strömt". 

 

Der Mangel führt dazu, dass im Rennen um die begehrten Plätze in Berlin und anderswo gerade Kinder aus Einwandererfamilien leer ausgehen. Und wo es genug Betreuungsangebote gibt, nehmen sozial benachteiligte Familien sie trotzdem oft seltener wahr. Im Ergebnis besuchen dann 99 Prozent der 3- bis 6-Jährigen ohne Migrationshintergrund eine Kita – aber nur 81 Prozent der Gleichaltrigen mit Migrationshintergrund, Tendenz sogar leicht fallend

 

Hilft da ein bundesweites Kitapflichtjahr für Kinder mit Sprachdefiziten – wie etwa die CDU es fordert? Dafür bräuchte es dann allerdings eine systematische Sprachdiagnostik im Kitaalter überall in Deutschland – und die Sicherstellung einer daraus resultierenden, qualitativ hochwertigen Förderung. Viele Erzieher:innen tun bereits, was sie können, haben oft aber weder die nötige Ausbildung noch die zeitlichen Kapazitäten. 

 

Gerade weil die IGLU-Misere keine neue ist, hat die Politik hier beschämend viel Zeit vergeudet. Etwa mit dem Gute-Kita-Gesetz, über das der Bund seit 2019 insgesamt zwar 5,5 Milliarden Euro in die Länder gepumpt hat. Diesen dann aber entgegen zahlreichen Warnungen aus der Wissenschaft (und in Kenntnis unter anderem von IGLU 2016) erlaubt hat, damit auch die Abschaffung der Kitagebühren zu finanzieren – was vor allem der Mittelschicht nützte

 

Kita-Qualitätsgesetz soll es besser machen

 

Mit dem neuen Kita-Qualitätsgesetz will die Ampel das endlich ändern. Sie schreibt den Ländern vor, die Mehrheit des Geldes in sieben vorrangige Handlungsfelder zu investieren, darunter ein bedarfsgerechtes Angebot, den Personalschlüssel, die Fachkräftegewinnung – und die sprachliche Bildung. Rund vier Milliarden gibt es dafür bis Ende 2024. Gut so. 

 

Allerdings strich Rot-Grün-Gelb zuvor das sehr erfolgreiche Programm der "Sprach-Kitas", dessen Förderansatz Experten für frühkindliche Bildung besonders gelobt hatten. Obwohl es laut Koalitionsvertrag sogar auf Dauer gestellt werden sollte. Allein 2022 hatte der Bund dafür eine Viertelmilliarde Euro gegeben. Jetzt sollen die Länder es allein weiterführen, was anstatt bundesweiter Standards die regionalen Disparitäten weiter erhöhen wird. 

 

Bekommen die Kitas endlich die bildungspolitische Rolle, die ihnen zusteht? Eine Antwort auf diese Frage wird IGLU 2026 geben.

 

Dieser Beitrag erschien zuerst in meiner Kolumne "Wiarda will's wissen" im Tagesspiegel.


></body></html>

Kommentar schreiben

Kommentare: 2
  • #1

    Sonntag, Gerit (Mittwoch, 24 Mai 2023 10:52)

    Ich hab Angst, dass der Ruf nach der bildungspolitischen Rolle der KiTas den Personalmangel an den Schulen, die maroden und oft viel zu kleinen Schulgebäude in den Hintergrund drängt. Die Politik setzt gerne auf ein neues Pferd weil das angeblich mehr Beifall bringt, als bestehende Strukturen instand zu halten bzw. personell angemessen zu besetzen. Außerdem verstehe ich nicht, warum an Grundschulen zyklisch immer wieder neue Lehrformen ausprobiert und wieder verworfen werden. Man müsste doch meinen, dass die Übernahme von Konzepten aus Ländern, wo es gut funktioniert, kein Zauberwerk sein sollte.

  • #2

    Dr. Ulrich Jahnke (Mittwoch, 24 Mai 2023 17:20)

    Artikel 7 Abs. 6 GG gehört ersatzlos abgeschafft, danach gerne Programmchen und nicht umgekehrt