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Wenn von 24 Kindern 20 kein eigenes Buch besitzen

Die Sekundarschullehrerin Ada M. Hipp* aus Berlin-Neukölln berichtet über den täglichen Kampf gegen die Leseschwäche ihrer Siebtklässler. Ein Gastbeitrag in Zeiten der IGLU-Misere.

Foto: Ada M. Hipp.

DEUTSCHLANDS GRUNDSCHÜLER haben ein Leseproblem, hat die IGLU-Studie ergeben und vorübergehend öffentliche Aufregung ausgelöst. Was aber bedeutet es, wenn jeder vierte Viertklässler nicht richtig lesen kann? Woher kommt das? Und was folgt daraus? Lassen Sie mich aus meinem Unterricht erzählen. 

 

Ich bin Lehrerin für Englisch und Kunst an einer Sekundarschule in Berlin-Neukölln. Im vergangenen Sommer bekam ich eine neue 7. Klasse. Da ich seit März 2020 wieder aktive SPIEGEL-Leserin bin, nahm ich das Angebot von DEIN SPIEGEL wahr, mir Klassensätze der Zeitschrift für ein halbes Jahr in die Schule liefern zu lassen. Nun beschäftigen wir uns wöchentlich mit dieser Zeitschrift: Donnerstag ist bei uns SPIEGEL-Lese-Stunde.

 

Im Zuge des gemeinsamen Lesens wurde mir zusehends bewusst, dass es einen Schüler in der Klasse gibt, der tatsächlich nicht lesen kann. Ein Schüler kann in der 7. Klasse nicht lesen? Wie kann das sein, was ist da schiefgelaufen, worauf wurde nicht geachtet, wie konnte er sich all die Jahre "durchmogeln"?

 

Und ich fragte mich: Ist es meine Aufgabe, ihm als Schüler der Sekundarstufe jetzt das Lesen beizubringen? Wenn nein, wie soll es für ein solches Kind in der Zukunft werden? Hat es dann einfach Pech gehabt? Geht es mich etwas an? Wer oder was ist dafür verantwortlich? Wenn ja, wann und wie soll ich dies tun, woher die Zeit nehmen? 

 

Egal, wir zwei machen weiter

 

Er und ich lesen nun seit Beginn des zweiten Schulhalbjahres montags in einer größeren Pause gemeinsam, Schritt für Schritt, Wort für Wort, Silbe für Silbe. Wie in der ersten Klasse. Es ist meine Arbeits- und seine Erholungszeit. 

 

Zu Beginn des gemeinsamen Lesens bekam er ein Lesetagebuch für zu Hause, das er täglich zu führen hat. Mittlerweise gelingt es ihm, Wörter als Ganzes zu lesen und Satzabschnitte zusammenhängend zu erkennen, auch in unbekannten Texten. Wäre es nun nicht Zeit, dass die Eltern sich darum kümmerten? Egal, wir zwei machen weiter.

 

Insgesamt liegen die Leseleistungen fast aller Kinder meiner 7. Klasse unter dem für das Alter erwartbare Leseniveau. Lediglich fünf Kinder konnten zu Beginn des Schuljahres nahezu fehlerfrei und fließend ihrem Alter entsprechend (vor-) lesen. 

 

Zudem machte ich in der Klasse eine kleine Lese-Umfrage. Dabei kam heraus, dass von 24 Schülerinnen und Schülern lediglich vier ein eigenes Buch besitzen. Dieses wurde ihnen in der Regel von der Grundschullehrerin zum Geburtstag oder Abschied geschenkt. Kein Kind hat sich je ein Buch zum Geburtstag gewünscht, den man im Übrigen in vielen muslimischen Familien gar nicht feiert. Zwei Kinder bekamen einmal ein Buch von den Eltern (meist von der Mutter) geschenkt. Ein Drittel gab an, dass es zwar Bücher in der Wohnung gebe, diese aber den Eltern gehörten und im Wohnzimmerregal stünden. Ein Kind gab an, Eltern oder Großeltern einmal mit einem Buch in der Hand lesend gesehen zu haben. 

 

Lesen sei zu schwierig für ein Hobby, sagen die Kinder

 

Keinem Kind waren Zeitschriften für Kinder bekannt, außer "Donald Duck", niemand von ihnen besaß je eine Kinderzeitschrift. Auch vermisste kein Kind eine solche Zeitschrift, da niemand im Umkreis eine solche besaß oder damit gesehen wurde. Immerhin 13 bekamen als Kleinkinder von den Eltern vorgelesen, vier von älteren Geschwistern. 

 

Bei der Frage, ob Lesen zu ihren Hobbys gehöre, antworteten alle Kinder mit Nein. Kein Kind findet, dass Lesen ein Hobby sei. Als Begründung gaben sie an, dass das Lesen langweilig, uninteressant und zu schwierig für ein Hobby sei.

 

Allen Kindern macht unterdessen die SPIEGEL-Lese-Stunde Spaß. In Partnerarbeit suchen sie sich unter anderem  gemeinsam Artikel aus, die sie interessieren. Diese stellen sie dann den anderen Kindern in der Klasse vor, einschließlich einer ausführlichen Begründung ihrer Wahl. Darüber wird im Klassenverband dann diskutiert, geredet und gesprochen.

 

Strategien gegen die Leseschwäche

 

Jedes Kind hat als Hausaufgabe lautes Vorlesen bekommen, die Schülerinnen und Schüler konnten sich aus einer Vielzahl von Artikeln einen aussuchen. Diesen müssen sie laut vorlesen üben und sich dabei mit ihrem Handy aufnehmen. Sie müssen so lange laut lesen, bis sie mit ihrer Leseleistung selbst zufrieden sind. Anschließend sollen sie diese Aufnahme an mich senden. 

 

Diese Aufgabe birgt mehrere Vorteile. Erstens: Die Schülerinnen und Schüler können ihr geliebtes Handy verwenden. Zweitens: Sie selbst können über ihre Leistungen entscheiden und bestimmen, wann es gut genug ist. Drittens: Ihre Medienkompetenz wird geschult. Viertens: Die Leseleistungen werden nicht vor der Klasse abgespielt und verglichen. Fünftens: Motivation – jedes Kind möchte hierbei so gut, wie es geht, abschneiden. Niemand will von sich sagen lassen, man könne nicht lesen. Sechstens: Konzentration und Aufmerksamkeit werden geschult. Nachteil(e): aus Lehrkraft-Sicht keine, aus Schüler-Sicht hoffentlich ebenso wenig.

 

Die Grundschüler mit dem Leseproblem von heute sind die Erwachsenen ohne Perspektive von morgen. Allein kann ich das als Lehrerin nicht ändern. Aber ich kann darauf hinweisen. Und meinen Teil dafür tun, dass die Jugendlichen eine Chance erhalten. Bei unserem letzten Exkursionstag wurde laut vorgelesen. Alle Kinder konnten ihre jeweiligen Sätze fehlerfrei und fließend lesen, auch das Kind mit dem hohen Nachholbedarf. 

 

*Der Name wurde geändert.


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Kommentare: 9
  • #1

    René Krempkow (Freitag, 02 Juni 2023 09:40)

    Hut ab für dies Engagement, und vor allem noch viele gesunde Berufsjahre!

  • #2

    N. Dehne (Freitag, 02 Juni 2023 13:11)

    Danke schön für Ihr Engagement!

  • #3

    Raphael Wimmer (Freitag, 02 Juni 2023 14:11)

    Danke für Einblick und Engagement!
    Was mich übermäßig verwirrt hat:

    > "Zwei Kinder bekamen einmal ein Buch von den Eltern (meist von der Mutter) geschenkt."

    So wie ich den Satz verstehe, wurden zwei Bücher verschenkt, "meist von der Mutter". Also eigentlich immer von der Mutter? Oder 1,5 Bücher von der Mutter? Oder einmal von der Mutter, einmal von beiden Eltern? Oder muss man das "einmal ein Buch" als "schon einmal Bücher" lesen? Sorry, darüber grübele ich jetzt gerade tatsächlich nach :)

  • #4

    Jan-Martin Wiarda (Freitag, 02 Juni 2023 21:33)

    Lieber Herr Wimmer,

    das ist mir bei der Redigatur tatsächlich durchgegangen. Ich gehe hier von einem Fehler aus und frage bei der Autorin nach.

    Beste Grüße
    Ihr Jan-Martin Wiarda

  • #5

    Jan-Martin Wiarda (Samstag, 03 Juni 2023 12:20)

    Lieber Herr Wimmer, hier die Antwort von der Autorin, die für den Hinweis dankt:

    "Es soll natürlich heißen, dass lediglich zwei Kinder jeweils ein Buch von ihren Müttern geschenkt bekamen."

    Beste Grüße
    Ihr Jan-Martin Wiarda

  • #6

    Sebiturbo (Sonntag, 04 Juni 2023 07:42)

    Wir leben in der Schweiz.
    Meine Tochter (18) unterrichtete als Lehrberufspraktikantin eine 8. Klasse. Thema f
    war J. Vernes "In 80 Tagen um die Welt".
    Es war schwer die Schüler*Innen zu motivieren zuhause selbständig zu lesen. Teilweise war das Lesetempo sehr niedrig und die Unterschiede von Schüler*In zu Schüler*In sehr gross.

  • #7

    Murat Rasut (Mittwoch, 07 Juni 2023 11:20)

    Nun, es ist eine Schule in Neu-Kölln. In Dahlem mag das ganz anders aussehen. Im Artikel steht ja, dass für muslimische Familien der Geburtstag nicht wichtig ist. Vielleicht wird es auch Zeit zu akzeptieren, dass das westliche Ideal des Bildungsbürgertums nicht jedermanns Geschmack ist.

  • #8

    Günther Gerloff (Freitag, 09 Juni 2023 17:25)

    Meine Eltern, Kriegsgeneration, waren, aus heutiger Sicht "bildungsfern", lasen selbst nicht, lasen nicht vor - ABER hatten ein Bücherabo für uns Kinder abgeschlossen. Bildung und somit Lesen waren für sie ein hohes Gut, das sie gerne förderten. Das habe ich an ihre Enkel, Urenkel erfolgreich weiterreichen können.

  • #9

    Katzenschiff (Samstag, 02 Dezember 2023 11:25)

    Ich bin auch Lehrerin an einer Oberschule in Brandenburg. Wir dürfen im naturwissenschaftlichen Unterricht jetzt auch Leseförderung machen. Daher "opfere" ich jeder Woche 20 Minuten Physik in der 7. Klasse für's Lesen. Ich habe Kinderbücher über wissenschaftliche Themen aus der Bücherei ausgeliehen. Geolino und andere Zeitschriften gibt es auch in der Bibliothek. Für die ganz "schweren Fälle" kaufe ich jede Woche die aktuelle Bravo sowie Kicker und SportBild (von meinem eigenen Geld natürlich). Es gibt keine Regeln, außer, dass alle lesen müssen. Die Kinder nehmen es sehr gut an. Da man Lesen nur durch Lesen lernt und nur motiviert ist, wenn einen das Thema interessiert, habe ich auch kein schlechtes Gewissen, wenn "nur" der Kicker gelesen wird. Viel Erfolg weiterhin!