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Ohne ihn

Hamburgs Bildungssenator Ties Rabe tritt zurück. Für die Bildungspolitik der Hansestadt und Deutschlands ist das ein Einschnitt – und für die Kultusministerkonferenz ein Verlust zu einem kritischen Zeitpunkt.

Foto: Daniel Reinhardt / Senatskanzlei Hamburg.

ES IST EINE ZÄSUR, und sie kommt völlig überraschend. Hamburgs Bildungssenator Ties Rabe wird am Montagabend seinen Rücktritt erklären. Offiziell scheidet er am Mittwochfrüh aus dem Amt aus. Das Hamburger Journal berichtete von ausschließlich gesundheitlichen Gründen: Der 63-Jährige müsse sich mehrere Monate schonen. 

 

Damit verlässt nicht nur der dienstälteste Kultusminister die politische Bühne, sondern der erfolgreichste. Er hat die Bildungspolitik weit über Hamburg hinaus geprägt, sein strategisch-langfristiger Ansatz einer datenbasierten Schulentwicklung wurde von Bildungsforschern bundesweit zum Vorbild erklärt und von vielen seiner Ministerkollegen aus anderen Ländern kopiert. 

 

Abgesehen von Edelgard Bulmahn, die bis 2005 als letzte Sozialdemokratin das BMBF führte, war der studierte Gymnasiallehrer der einflussreichste SPD-Bildungspolitiker seit zwei Jahrzehnten. Als langjähriger sogenannter A-Koordinator führte er die Bildungspolitik aller SPD-geführten Bildungsministerien zusammen, war ihr Gesicht. Und auch wenn Rabe den Regularien der Kultusministerkonferenz (KMK) entsprechend nur ein einziges Jahr, ganz zu Anfang seiner Amtszeit 2012, ihr Präsident war, so galt er doch parteiübergreifend als der mächtigste Strippenzieher des Ministerclubs, nicht wegen eines Hangs zu Winkelzügen, sondern im Gegenteil, wegen seiner beeindruckenden Geradlinigkeit.

 

Zugleich war sein sich über die Jahre zunehmend einstellender bildungspolitischer Erfolg Inspiration vieler später hinzugekommener Ministerkollegen – zeigte er doch, was mit Reformmut und Ausdauer möglich ist in einem so oft verkrustet wirkenden deutschen Bildungssystem.


Hamburger Erfolgsgeheimnisse

2018 setzte Ties Rabe einen Tweet ab, da war gerade der langjährige bayerische Kultusminister zurückgetreten. "Sieben Jahre Schulsenator und seit heute bin ich dienstältester Schulminister Deutschlands", schrieb Rabe. Ein Bildungspolitiker in Angeberlaune? Nicht ganz, denn dann folgte Rabes eigentliche Botschaft: "Kein Grund zu triumphieren - denn es tut Schulen nicht gut, wenn alle zwei Jahre der Minister wechselt und das Ministerium alles neu erfindet." Rabes Philosophie, in 280 Zeichen.

 

Seine Strategie war langfristig angelegt. Rabe ließ die Schüler häufiger als anderswo zu Untersuchungen des Leistungsstandes antreten, zusätzlich zu den (inzwischen bundesweit üblichen) Tests in Klasse 3 und 8 kommen in Hamburg landesweite Vergleichsarbeiten in den Klassen zwei, fünf, sieben und neun hinzu. Die Behörde sammelt weitere Leistungsdaten der Schulen, den Unterrichtsausfall etwa oder die Zahl der Schulabbrecher.

 

Entscheidend, sagte der Senator einmal, seien nicht nur die Daten, sondern das, was man damit mache: kein medientaugliches Schulranking, sondern eine Rückmeldung für jede Schule und jeden Lehrer. "Wir schauen genau hin, stellen die Schulen nicht an den Pranger, aber lassen sie auch nicht allein", sagte Rabe, der sein System "freundliche Belagerung" nannte.

 

Spätestens alle zwei Jahre schauen in Hamburgs Schulen externe Experten für eine Schulinspektion vorbei. Und der Senator selbst besuchte lange jeden Freitag  eine Schule, setzte sich in den Unterricht, traf sich mit der Schulleitung zum Vieraugengespräch und mit dem ganzen Kollegium zur Konferenz. Und während andere Länder umstrittene Reformen noch diskutierten, handelte der ehemalige Gymnasiallehrer (Fächer: Deutsch, Religion Geschichte): Er führte einen verpflichtenden Deutschtest für  Vierjährige ein und, falls Förderbedarf festgestellt wird, den verpflichtenden Besuch der Vorschule. Er pushte die Ganztagsschule, bis sie an den Grundschulen einen fast hundertprozentigen

Deckungsgrad erreichte, und installierte mit "Starke Schulen" schon vor Jahren ein Programm für Brennpunktschulen, wie der Bund es so ähnlich jetzt mit den "Startchancen" deutschlandweit umsetzen will. Hamburg brachte auch ein bundesweit einmaliges Schulbauprogramm auf den Weg, vier Milliarden wurden seit 2011 investiert.

 

Bevor Rabe Senator wurde, schien es ausgemacht, dass Stadtstaaten in nationalen Bildungsvergleichen schlecht abschneiden, doch trotz einer mit Berlin oder Bremen vergleichbaren Sozialstruktur gelang es Hamburg in den vergangenen zehn Jahren, zur Spitzengruppe aufzuschließen, sich teilweise sogar ganz vorn zu platzieren. 

 

Hamburg habe "sich in den vergangenen 13 Jahren sukzessive hochgearbeitet", obwohl es 2009 noch zu den Schlusslichtern zählte, lobte erst im Oktober 2023 Petra Stanat, Direktorin des Instituts für Qualitätsentwicklung im Bildungswesen (IQB), das regelmäßig den bundesweiten IQB-Bildungstrend erstellt. "Und das bei einem sehr hohen Anteil an Einwandererkindern wohlgemerkt." 

 

Rabes Nachfolgerin als Senatorin wird Ksenija Bekeris, 45, stellvertretende SPD-Fraktionschefin und -Landesvorsitzende, und Berufsschullehrerin mit mehreren Jahren Schulerfahrung. Lorz folgt als hessischer Kultusminister der CDU-Bundestagsabgeordnete Armin Schwarz, 55, nach, Oberstudienrat und früherer bildungspolitischer Sprecher der CDU-Landtagsfraktion. Neuer hessischer Minister für Wissenschaft und Forschung, Kunst und Kultur wird der 48 Jahre alte Politikwissenschaftler Timon Gremmels (SPD), zurzeit ebenfalls Bundestagsabgeordneter 

 

Bundesbildungsministerin Bettina Stark-Watzinger (FDP) kommentierte auf "X", sie bedaure Rabes Rücktritt sehr. Es sei sein Verdienst, das Schulsystem in Hamburg vorangebracht "und für viele zum Vorbild gemacht zu haben".



Und er wurde gebraucht, gerade erst wieder im vergangenen Jahr, als Eklats zwischen Bundesbildungsministerin Bettina Stark-Watzinger (FDP) und der Kultusministerkonferenz die Verhandlungen um Startchancen-Programm und Digitalpakt 2.0 mehrfach um ein Haar gesprengt hätten. Er war an den richtigen Stellen unerbittlich und kompromissbereit, im Rücken sein nicht weniger versierter Staatsrat Rainer Schulz, der Vorsitzender der KMK-Amtschefskommission "Qualitätssicherung in Schulen" ist.

 

Inzwischen sind die Startchancen fast im Ziel, verhandelt von einer Vierer-Ländergruppe mit Hamburg, Rheinland-Pfalz, NRW und Schleswig-Holstein mit dem BMBF. Aktuell schauen die übrigen zwölf Länder auf die Details, Anfang Februar soll die Vereinbarung dann stehen. Allerdings ist immer noch unklar, ob die Bundesregierung nicht doch die für die Länder nicht weniger wichtige (und im Ampel-Koaltionsvertrag versprochene!) Digitalpakt-Fortsetzung wegspart. 

 

Für die KMK ist Rabes Rücktritt noch in anderer Hinsicht geradezu dramatisch. Als am Freitag die diesjährige KMK-Präsidentin, Saarlands Bildungsministerin Christine Streichert-Clivot (SPD), offiziell das Amt übernahm, fiel auf, dass bei dem Festakt in der saarländischen Landesvertretung in Berlin-Mitte neben Rabe auch sein CDU-Konterpart fehlte: Alexander Lorz, seit 2014 Hessens Kultusminister und Koordinator der unionsgeführten Bildungsministerien. Wie jetzt bekannt wurde, wird er in der neuen CDU-/SPD-Koalition das Finanzministerium übernehmen. Womit der KMK auf einen Schlag zwei ihrer wichtigsten und erfahrensten Protagonisten abhanden kommen. 

 

Kontinuität in der zweiten Reihe,
an der Spitze neue Hoffnungsträgerinnen?

 

Und das zu Beginn des Jahres, in dem Streichert-Clivot die lang vorbereitete Grundsatzreform der KMK, ihrer Gremien, Abläufe und ihres Sekretariats, zum Abschluss bringen will. Bei der KMK-Feier in der saarländischen Landesvertretung sagte KMK-Generalsekretär Udo Michallik, bei der nächsten Amtsübergabe in einem Jahr werde die KMK eine andere sein.

 

Der Bildungsföderalismus will seine Leistungsfähigkeit beweisen. Er muss es nicht nur angesichts seines schlechten Rufs oder eines (von den Kultusministern mutig selbst beauftragten) "Prognos"-Gutachtens  mit teilweise katastrophalen Ergebnissen. Sondern auch weil, woraufhin zuletzt der ehemalige Berliner Bildungsstaatssekretär Mark Rackles in Table.Bildung hinwies, die Landtagswahlen in Thüringen und Sachsen eine AfD-Regierungsbeteiligung bringen könnten. Mit unabsehbaren Folgen für eine bislang auf dem Einstimmigkeitsprinzip beruhende Entscheidungsfindung bei allen wichtigen Fragen in der KMK. 

 

Wie tief die Zäsur gerade durch Rabes Weggang ist, konnte man am Nachmittag auch daran erkennen, dass Streichert-Clivot umgehend eine Pressemitteilung veröffentlichen ließ, um den beiden scheidenden KMK-Präsidiumsmitgliedern zu danken. Es sei  für die KMK "ein herber Verlust, an einem Tag beide Koordinatoren von A- und B-Seite zu verlieren", sagte Streichert-Clivot. Rabe und Lorz hätten über ein Jahrzehnt im Amt die Geschicke der KMK entscheidend mitgeprägt. "Hart in der Sache debattieren, aber immer wieder auch Kompromisse schließen können, immer orientiert an gemeinsamen, länderübergreifenden Handeln – das hat ihre Arbeit ausgezeichnet." Es folgte in der Pressemitteilung die Versicherung der eigenen Handlungsfähigkeit: "Die Mitglieder der KMK blicken zuversichtlich in die Zukunft und sind fest davon überzeugt, dass die positive Entwicklung des deutschen Bildungssystems unter der Führung neuer engagierter Persönlichkeiten fortgesetzt wird." 

 

Was jedenfalls Hoffnung macht: Sowohl in Hessen als auch in Hamburg bleiben die Amtschefs hinter den Ministern im Amt. Rainer Schulz bestätigte mir auf Anfrage, dass er auf jeden Fall bis zum Ende der Legislaturperiode im Amt bleibe. Gewählt wird in Hamburg im Frühjahr 2025. Schulz gilt als Treiber und Ideengeber für die KMK-Reform. Ob er allerdings Vorsitzender der Amtschefkommission bleiben kann, wird sich zeigen. Denn solche Posten sind traditionell eng an die Koordinatoren geknüpft.


Apropos: Als mögliche Nachfolgerin in der Koordination der SPD-Bildungsministerien gilt Stefanie Hubig aus Rheinland-Pfalz, seit 2016 im Amt. 2020, im ersten Corona-Jahr, war sie KMK-Präsidentin und führte die Kultusministerkonferenz durch die Krise. Bis heute berichten Kultusminister, in den Pandemiejahren sei ihr Club sich nahe wie nie gewesen, seitdem sei die Arbeit miteinander eine andere geworden. Wird sie am Ende des Jahres mit dem Mut einer echten Reform gekrönt? 

 

Eine, die als neue CDU-Koordinatorin sicherlich ihren Teil dafür tun würde, ist Schleswig-Holsteins Bildungsministerin Karin Prien, stellvertretende Vorsitzende der Bundespartei, die über die Jahre zur einflussreichsten CDU-Bildungspolitikerin avanciert ist. Neben einem enormen politischen Instinkt hat Prien, die 2022 KMK-Präsidentin war, vor allem ein Erfolgsgeheimnis: Sie schaut sich um, was anderswo besonders gut funktioniert – und macht es nach. Besonders oft das Vorbild: Hamburg.

 

Nachtrag am 17. Januar, 19 Uhr

Neue Koordinatorinnen stehen fest

 

Nach den SPD-Kultusministern haben am Mittwoch auch die CDU-Ressortchefs entschieden, wer ihre Arbeit künftig in der Kultusministerkonferenz koordinieren wird. Wie erwartet votierten die Sozialdemokraten bereits am Dienstag für die rheinland-pfälzische Bildungsministerin Stefanie Hubig als sogenannte "A"-Koordinatorin, ihre Unionskollegen wählten am Mittwoch Karin Prien aus Schleswig-Holstein zur Koordinatorin der "B"-Seite.

 

Die ebenfalls neue KMK-Präsidentin, die saarländische Bildungsministerin Christine Streichert-Clivot (SPD), lobte Hubig und Prien am Nachmittag als "zwei engagierte und erfahrene Kolleginnen, die in ihren Ländern erfolgreich und mit Herzblut Bildungspolitik gestalten". Sie freue sich auf die Zusammenarbeit und sei sicher,  dass die neuen Koordinatorinnen "in enger Abstimmung mit der saarländischen Präsidentschaft für Kontinuität und zugleich Erneuerung sorgen können, die die KMK jetzt benötigt". 

 

Die neue A-Koordinatorin Hubig sagte, ihr Vorgänger und langjähriger  Hamburger Bildungssenator Ties Rabe werde als "sehr kluger und hoch geschätzter Kollege" fehlen. Dem ebenfalls ausgeschiedenen B-Koordinator Alexander Lorz wünschte sie für sein neues Amt als hessischer Finanzminister gutes Gelingen und dankte ihm für die stets enge Zusammenarbeit, "ganz besonders in der gemeinsamen Zeit im KMK-Präsidium". 

 

Das Bildungssystem stehe vor vielfältigen Herausforderungen, sagte Hubig  weiter und nannte unter anderem die Stärkung der Basiskompetenzen bei allen Schülern, Bildungsgerechtigkeit, den Umgang mit KI und die Demokratiebildung junger Menschen. "Wir leben im Zeitalter der Transformation – auf neue Fragen können wir dabei nicht mehr alte Antworten geben, stattdessen müssen wir das Lernen und Lehren neu denken." Auch ihr Ziel sei es, die KMK gemeinsam neu aufzustellen, "ebenso wie die neue Präsidentin Christine Streichert-Clivot dies vorhat." Schon seit dem Jahr 2020, dem Beginn der Pandemie in Hubigs Zeit als KMK-Präsidentin, sei es den Kultusministern gelungen, deutlich agiler zusammenzuarbeiten. "Hieran möchte ich anknüpfen."

 

Die neue B-Koordinatorin Prien sprach nach ihrer Wahl von einer verantwortungsvollen Aufgabe, "der ich mich angesichts der großen Herausforderungen vor denen unser Bildungssystem steht, gerne stelle". Dabei wolle sie an die Schwerpunkte der schleswig-holsteinischen KMK-Präsidentschaft von 2022 anknüpfen und den Weg der Reform der Kultusministerkonferenz fortsetzen.

 

Prien danke ihrem Vorgänger Lorz "für seinen unermüdlichen Einsatz als B-Koordinator für einen starken und kooperativen Bildungsföderalismus". Die über Parteigrenzen hinweg vertrauensvolle und konstruktive Zusammenarbeit in der Kultusministerkonferenz würden die B-Länder weitergehen und gemeinsam mit den A-Ländern die Bundesregierung "an ihre Versprechen, Zusagen und die gemeinsame Verantwortung" erinnern. "Jetzt geht es darum, das Startchancenprogramm und den Digitalpakt zu Ende zu verhandeln."


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