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Neue Strategien gegen die Datenerhebungskatastrophe

In der Coronakrise wurden sie lange sträflich von der Politik vernachlässigt: die Erkenntnisse sozialwissenschaftlicher Forschung. Der Rat für Sozial- und Wirtschaftsdaten fordert in einem Positionspapier grundlegende Konsequenzen für Politik, Wissenschaft und Verwaltung.

Foto: Bahnsteig am Hauptbahnhof Düsseldorf. Spiegelneuronen, Flickr, CC BY-NC-SA 2.0. 

EIN HOCHRANGIG BESETZTER Expertenrat fordert von der Wissenschaft einen Notfallplan für Krisen und Katastrophen – und von der Politik die präventive Benennung eines Gremiums, das Wissenschaft, Politik, Verwaltung und Katastrophenhilfe im Ernstfall schnell und effektiv vernetzt.

 

"Mit unseren Vorschlägen reagieren wir auf die Erfahrungen in der Corona-Pandemie und der Energiekrise", sagt Monika Jungbauer-Gans, Vorsitzende des Rats für Sozial- und Wirtschaftsdaten (RatSWD), der die Bundesregierung in Fragen der Forschungsdateninfrastruktur für die empirischen Sozial-, Verhaltens- und Wirtschaftswissenschaften berät.

 

Vor allem während Corona hatte sich herausgestellt, wie weit Deutschland in Sachen Forschungsdaten, deren Erhebung, Verknüpfung und strategischer Aufbereitung für die Politik anderen Staaten hinterherhinkte. "Die Datenerhebungskatastrophe", titelte ich hier im Blog etwa im April 2021.  

 

"Zu oft haben wir erlebt, dass es Daten
nicht oder zu spät gab", sagt die Ratsvorsitzende
 


Die Politik sei in akuten Bedrohungslagen und Krisen auf Erkenntnisse sozialwissenschaftlicher Forschung angewiesen, heißt es in dem heute veröffentlichten Positionspapier, das mir vorab exklusiv vorlag. Voraussetzung dafür seien qualitätsgeprüfte Forschungsdaten, damit Forschende überhaupt Aussagen und Einschätzungen zu krisenhaften Entwicklungen abgeben könnten. "Zu oft haben wir erlebt, dass es diese Daten eben nicht oder zu spät gab, Befragungen waren zu selten koordiniert zwischen verschiedenen Forschungsprojekten", sagt Jungbauer-Gans, wissenschaftliche Geschäftsführerin des Deutschen Zentrums für Hochschul- und Wissenschaftsforschung (DZHW). "Auch hat der Austausch mit der Politik hat nicht so funktioniert, wie wir alle uns das gewünscht haben."

 

Der RatSWD schlägt deshalb in seinem Papier vor:

 

o Der Notfallplan der Wissenschaft solle eine permanente Koordinierungsstelle benennen, die im Krisenfall als Anlaufstelle für die Organisation gemeinsamer Forschungsaktivitäten bereitstehe. Nicht ganz uneigennützig folgt der Zusatz, diese Koordinierungsstelle könne "bei einem sichtbaren Akteur der Forschungsdateninfrastruktur wie beispielsweise dem RatSWD und seiner Geschäftsstelle" angesiedelt sein. 

 

o Das Gremium zur Vernetzung von Wissenschaft, Politik, Verwaltung und Katastrophenhilfe solle möglichst in bestehende behördliche Strukturen integriert werden – auch um die Kompetenz in Behörden und Politik zur Beurteilung von Daten und Forschungsergebnissen schon im Vorfeld kommender Krisensituation zu stärken. Es gehe darum, "einen sicheren Umgang mit Ergebnissen und Schlussfolgerungen zu gewährleisten und unsachgemäßen oder voreiligen Schlüssen vorzubeugen". 

 

o Standardfragebögen und Pläne für geeignete Stichprobenziehungen sollten für die Scientific Community bereitstehen, um die Datenerhebung zu systematisieren und zu standardisieren und Verknüpfungen zu erleichtern. "Wichtig ist, dass nicht jeder erst sein eigenes Vorgehen entwickelt", sagt Stefan Liebig, Professor für empirische Sozialstrukturanalyse, der bis 2022 das Sozioökonomische Panel leitete und ständiger Gast im RatSWD ist. "Das wäre auch unabhängig von Krisen wichtig, um unterschiedliche Datenquellen zusammenzuführen und damit die bestehenden Datenschätze optimal nutzen zu können." Hierbei hoffen die Experten auch auf den Einsatz neuer KI-gestützter Methoden.

 

o Der Ausbau der Dateninfrastrukturen vor allem durch die Implementierung der Nationalen Forschungsdateninfrastruktur (NFDI) durch die Bundesregierung biete nicht nur eine bessere interdisziplinäre Kooperation und Nutzung von Forschungsdaten. Außerdem werde es so möglich, im Krisenfall Veränderungen zu messen, weil bereits Informationen über die Zeit vor der Krise, eine Ausgangssituation ("t0") zur Verfügung stünden. Dies sei auch wichtig, um in der Krise getroffene Maßnahmen besser auf ihre Wirkung evaluieren zu können. 

 

o Die Forschung solle ein "Kategorienschema" zur Vulnerabilität verschiedener gesellschaftlicher Bereiche vom Gesundheitswesen über die Wirtschaft bis zum Bildungssystem erstellen, um die dazu passenden Studien und Datensätze zuzuordnen und leichter auffindbar zu machen. In der Krise könne ein solches Schema dann Grundlage eines konstanten Monitoring solcher Vulnerabilitäten werden, etwa in Form von Indizes, auf deren Grundlage die Politik dann beraten werden könne. In der Corona-Pandemie hatte die 7-Tages-Inzidenz eine solche Rolle gespielt, war aber vielfach auf ihre Aussagekraft hinterfragt worden. Die Forschungspolitik solle jetzt die Forschung zu Vulnerabilität und konstantem Monitoring gezielt fördern, fordert der RatSWD.

 

o In kommenden Krisen solle die Politik neben der jeweils erforderlichen Fachwissenschaft bei der Beurteilung von Vulnerabilitäten und sozialen Auswirkungen immer auch die Sozialwissenschaften einbeziehen – eine wenig verklausulierte Kritik an der politischen Praxis während Corona, Entscheidungen lange Zeit vorrangig auf die Perspektive von Virologen zu stützen. "Die Politik sollte die Mechanismen verstehen wollen, wie sich krisenhafte Ereignisse bei unterschiedlichen sozialen Gruppen niederschlagen", sagt Liebig. "Das hilft, nicht nur mit der Gießkanne agieren zu können, sondern zielgerichtete Maßnahmen zu ergreifen und effizientere Lösungen zu finden." Durch Längsschnitt-Studien müssten personenbezogene Daten schon vorab erhoben werden, damit man die Auswirkungen der Krise dann tatsächlich auch identifizieren könne.

 

Erkenntnisse zur Krisenbewältigung
priorisieren und belohnen

 

Ein paar sehr grundsätzliche Empfehlungen haben die Experten auch noch im Gepäck: Der forschungsethische Diskurs zum angemessenen Verhalten der Forschung im Krisenfall solle gestärkt werden, "um Standards zum Schutz von vulnerablen Gruppen zu setzen und Forschenden Leitlinien für ein angemessenes Verhalten zu geben. Die amtliche Statistik müsse ihre Daten grundsätzlich, besonders aber im Krisenfall schneller als bislang zur Verfügung stellen, und die Politik müsse dafür die Gesetze anpassen. Außerdem gelte es, die in der Krise essentielle IT-Integrität von Hochschulen und Forschungseinrichtungen durch entsprechende Vorkehrungen und Kompetenzausbau zu stärken.

 

Und: "Um innovative Forschende zu motivieren, Erkenntnisse zur Bewältigung der Krisen und Katastrophen zu priorisieren, sollte die Wissenschaftspolitik flexible Instrumente zur Anpassung von Befristungszeiten (Wissenschaftszeitvertragsgesetz) und flexible Mittel zur Finanzierung bereitzustellen." Ein Passus im Positionspapier, der in der "#IchbinHanna"-Community sicherlich zum Heben von Augenbrauen führen wird. "Wer sich in Krisenzeiten auf die wissenschaftliche Bearbeitung akuter Themen konzentriert, dem sollte diese Zeit nicht auf die Fristen im Wissenschaftszeitvertragsgesetz angerechnet werden müssen", sagt Monika Jungbauer-Gans. Alle Beteiligten bräuchten hier Handlungssicherheit.

 

Unumstrittener dürfte die Forderung sein, wissenschaftliche Leistungen zur Krisen- und Katastrophenbewältigung bei der Evaluation von Juniorprofessuren und Tenure Track, bei der flexiblen Auslegung von Promotionsordnungen und beim Lehrdeputat anzuerkennen – wobei die Forderung an die Politik, dies den Universitäten zu ermöglichen, genauso eine Forderung an die Wissenschaft selbst sein sollte, dies dann auch wirklich zu tun.


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