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Weniger Schulabbrecher als gemeldet: Aber dennoch fallen viel zu viele durchs Raster

Es ist nicht jeder Achte, der die Schule abbricht, wie in diesen Tagen behauptet wurde. Dennoch lässt die Bildungspolitik von Bund und Ländern viele junge Menschen ohne Perspektive allein.

Foto: Ali Ahmad Danesh, Pexels, CCO.

DIE BUNDESBILDUNGSMINISTERIN zeigte sich alarmiert. "Dass Deutschland erneut die vierthöchste Schulabbrecherquote in Europa hat, muss Bund und Länder umtreiben", sagte Bettina Stark-Watzinger (FDP) den Zeitungen der Funke-Mediengruppe – und verwies auf das gerade beschlossene Startchancen-Programm als Einstieg in die nötige "bildungspolitische Trendwende". "Jeder Achte in Deutschland bricht die Schule ab", titelte derweil das Hamburger Abendblatt, "Jung und abgehängt", die Berliner Morgenpost.

 

Die Nachricht, die da angeblich aus der Europäischen Statistikbehörde Eurostat kam und von fast allen großen Medien aufgegriffen wurde, passte zur aktuellen Krisenstimmung im föderalen Bildungssystem. "Erst vor Kurzem schnitt Deutschland in der PISA-Studie im internationalen Vergleich so schlecht ab wie noch nie", schrieb die Online-Ausgabe der FAZ. "Nun folgt der nächste Schlag."

 

Vom Unterschied zwischen
Schulabgängern und Schulabbrechern

 

Nur dass die Statistik aus Luxemburg bei näherem Hinsehen etwas Anderes besagte. Sie verglich den Anteil der sogenannten "frühen Schulabgänger" in den EU-Mitgliedsstaaten. Das sind alle Menschen zwischen 18 und 24, die sich zum Zeitpunkt der Erhebung die vergangenen vier Wochen nicht in Schule, Studium oder Ausbildung befanden und höchstens einen – mittleren – Schulabschluss auf dem Niveau der Sekundarstufe I hatten. Das waren 2022 in Deutschland 12,2 Prozent, im EU-Schnitt 9,6. Ja, da stecken auch die Schulabbrecher drin, aber eben längst nicht nur. Der tatsächliche Anteil von Schulabgängern ohne Hauptschulabschluss lag laut Statistischem Bundesamt 2022 bei 6,6 Prozent. Nicht jeder Achte. Jeder Sechzehnte.

 

Ist das von Bedeutung? Ja. Macht es das besser? Nein. 

 

Ja: Die Unterscheidung zwischen "frühen Schulabgängern" und "Schulabbrechern" ist wichtig, weil in ersterer Gruppe auch viele sind, die nach ihrem Schulabschluss arbeitslos sind. Oder eine Pause eingelegt haben, weil sie erkrankt sind, ein freiwilliges soziales Jahr machen oder – warum auch immer erwerbstätig sind. Womöglich, jedoch nicht zwangsläufig, befinden sie sich in einer schwierigen Lebensphase. Auch ihre Bildungsbiographie steckt nicht in jedem Fall in der Sackgasse. 

 

Nein: Auch die tatsächliche Abbrecherquote ist viel zu hoch. Das Versprechen der damaligen Bundeskanzlerin Angela Merkel und der Ministerpräsidenten beim Dresdner Bildungsgipfel 2008 lautete, sie von damals acht innerhalb von sieben Jahren auf vier Prozent zu halbieren. Daran sind Bund und Länder gescheitert, mehr noch: Nach ihrem zwischenzeitlichen Absinken auf 5,2 Prozent 2013 steigt die Abbrecherquote seitdem fast durchgängig wieder an. Aber, auch das gehört zur Wahrheit, sie liegt immer noch deutlich unter den Werten der Nullerjahre. 

 

Eine Zukunft, ohne lesen,
schreiben, rechnen zu können?

 

Und während Deutschland bei den "frühen Schulabgängern" zwischen 2018 und 2022 von 10,3 auf 12,2 Prozent über den EU-Durchschnitt schnellte, gab es bei der tatsächlichen Abbrecherquote keine vergleichbare Dynamik. 2018: 6,6 Prozent. 2022, siehe oben, ebenfalls 6,6 Prozent. Mit einem interessanten zwischenzeitlichen Absinken im Corona-Jahr 2020, als die Schulen versuchten, möglichst viele Jugendliche durchzubekommen.    

 

Was im Übrigen schon zeigt, dass man die Aussagekraft solcher Quoten allein nicht zu hoch ansetzen sollte, zumal sie je nach Bundesland und bildungspolitischer Großwetterlage auch Konjunkturen von Strenge oder Großzügigkeit bei der Vergabe von Bildungsabschlüssen unterliegen. 

 

So gab es laut Nationalem Bildungsbericht zum Beispiel im Jahr 2015 zwar nur 5,6 Prozent Schulabbrecher, aber rund neun Prozent der Jugendlichen am Ende der Sekundarstufe I, die nicht die Mindeststandards der Kultusministerkonferenz für den Hauptschulabschluss erreichten. Und trotzdem zu einem guten Teil ihr Abgangszeugnis bekamen. 

 

Und während in den meisten Bundesländern der Anteil der Schulabbrecher unter dem Anteil der Mindeststandard-Verfehler lag, war es in Brandenburg, Sachsen-Anhalt, Sachsen und Schleswig-Holstein andersherum. Was darauf hindeutet, dass hier auch zahlreiche Schüler keinen Hauptschulabschluss erhalten haben, die die KMK-Mindeststandards erfüllten. 

 

Weshalb uns in unserem zertifikatsfixierten Land eine andere Quote mindestens genauso interessieren sollte: Wie groß ist der Anteil der Risikoschüler, die in der Schule durchs Raster fallen, weil sie, ob mit Schulabschluss oder ohne, nicht ausreichend lesen, schreiben oder rechnen lernen? Die deshalb kaum die Chance haben auf ein Leben in wirtschaftlicher Unabhängigkeit, persönlicher Erfüllung und politischer Teilhabe? Die Antwort: Dieser Anteil ist dramatisch gewachsen. Seit 2018 laut der jüngsten PISA-Studie in Mathematik um mehr als ein Drittel, beim Lesen um ein Viertel.  

 

Und was die schwer fassbare Statistik der "frühen Schulabgänger" angeht, da hat der Bildungsökonom Dieter Dohmen Recht. "Es braucht dazu eine bessere Datenlage, um die grundlegenderen, möglicherweise gesellschaftlichen Veränderungen zu verstehen." Der Druck auf junge Menschen werde zweifelsfrei größer, schrieb Dohmen bei LinkedIn. Aber, auch da hat Dohmen Recht: Wenn dann der Anteil der "frühen Schulabgänger" steigt, ist das nicht allein ein Problem der Schulen, sondern auch des Übergangs in eine Ausbildung oder andere Qualifizierungsmaßnahmen.

 

Alles ein bisschen komplizierter als das mit der Schlagzeile von der vierthöchsten Schulabbrecherquote in der EU? Ja – aber das Gleiche gilt eben leider auch für die Antworten. 

 

Dieser Kommentar erschien zuerst in meiner Kolumne "Wiarda will's wissen" im Tagesspiegel.



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Kommentare: 3
  • #1

    Django (Freitag, 16 Februar 2024)

    Wenn ich die Definition eines "frühen Schulabgängers" richtig verstehe, umfasst sie gleichermaßen Personen mit katastrophalen Bildungsbiografien wie auch solche mit ganz hervorragenden, nämlich "Schulabschluss mit 16, drei Jahre Ausbildung, nun erwerbstätig". Eigentlich ist es eine Negativdefinition: alle, die in der Altersstufe, die dafür typisch wäre, *nicht* studieren.
    Eine völlig sinnlose Zahl, oder?

  • #2

    Jan-Martin Wiarda (Freitag, 16 Februar 2024 13:29)

    @Django: Nicht ganz. Denn Menschen mit einer Ausbildung haben einen Abschluss der Sekundarstufe II.

    Viele Grüße
    Ihr J-M Wiarda

  • #3

    Django (Freitag, 16 Februar 2024 13:45)

    @J-M Wiarda: Ah, ok. Dann hat das doch eine Aussagekraft.