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Ist Corona doch nicht schuld?

Die Schülerleistungen in Deutschland sind abgesackt, zeigten PISA und andere Bildungsstudien. Forscher und Politiker machten die Schulschließungen dafür mitverantwortlich. Aber stimmt das auch? Eine neue Untersuchung weckt laut ihren Machern Zweifel.

ES IST EIN ERGEBNIS, das für Debatten sorgen wird. Das Leibniz-Institut für Bildungsverläufe (LIfBi) hat die Folgen der Corona-Schulschließungen auf die Lernentwicklung von Mittelstufenschülern untersucht und berichtet nun: Die Einschränkungen der Pandemie-Jahre hätten "keinen negativen Effekt auf die Entwicklung der Mathematikkompetenzen der untersuchten Jahrgänge" gehabt – entgegen "in diese Richtung gehende(r) Vermutungen der jüngsten PISA-Studie und des IQB-Bildungstrends". 

 

Dabei hatten in den vergangenen Jahren auch Politiker, Bildungsexperten und Journalisten (ich ebenfalls) immer wieder vor den Folgen des monatelangen Distanzunterrichts gewarnt und die Bundesregierung bereits 2021 ein Zwei-Milliarden-Programm für Kinder und Jugendliche zum "Aufholen nach Corona" finanziert. 2022 sagte der damalige Präsident des Deutschen Lehrerverbandes, Heinz-Peter Meidinger, es drohten dauerhafte Bildungsrückstände einer ganzen Generation. "Die Defizite, die sich durch Unterrichtsausfall und Fernunterricht in den Corona-Jahren bei vielen Schülern angestaut haben, sind noch immer erheblich." 

 

Bundesbildungsministerin Bettina-Stark-Watzinger (FDP) wiederum sprach Anfang 2023 von "alarmierenden Befunden", die Spätfolgen reichten von teils großen Lernrückständen bis zu Vereinsamung, psychischen Problemen und einer Gewichtszunahme bei vielen Schülern. Und als im Dezember 2023 das erneut schlechtere Abschneiden deutscher Schüler beim internationalen PISA-Vergleich bekannt wurde, sagte der damalige Hamburger Bildungssenator Ties Rabe: "Alle Lernstandsuntersuchungen nach dem Jahr 2020 zeigen, dass die lange Zeit der Schulschließungen und Unterrichtseinschränkungen während der Corona-Pandemie zu deutlichen Lernrückständen in Deutschland und vielen anderen europäischen Ländern geführt hat." Rabe koordinierte zu der Zeit die Bildungspolitik der SPD-regierten Bundesländer.

 

"Die bequeme Corona-Erklärung ist ein Stückweit
vom Tisch", sagt LIfBi-Direktorin Artelt

 

Und jetzt sagt Cordula Artelt, Direktorin des Leibniz-Institut für Bildungsverläufe, angesichts der Befunde der LIfBi-Studie, sei "die bequeme Corona-Erklärung", warum es mit den deutschen Schülerleistungen so runtergegangen ist, "ein Stückweit vom Tisch." Ein Stückweit, weil das LIfBi nur Aussagen über Mittelstufenschüler und Mathematik trifft, nicht über die Auswirkungen der Pandemie-Maßnahmen etwa auf Grundschüler oder in Deutsch, Englisch oder anderen Fächern.

 

Die Forscher:innen nutzten für ihre Studie Daten des Nationalen Bildungspanels. Dabei verglichen sie verschiedene Leistungstests von Jugendlichen, die zwischen 2012 und 2015 die Klassen sieben bis neun durchliefen, mit den entsprechenden Ergebnissen von Schülern, die zwischen 2018 und 2021 dieselben Jahrgangsstufen besuchten. Die Auswirkungen der Schulschließungen auf die mathematische Kompetenzentwicklung könnten so in einem deutschlandweiten Kohortenvergleich sichtbar gemacht werden, erklärt das LIfBI. 

 

Insgesamt flossen die Daten von 6.048 Jugendlichen ein. Die soziale Herkunft und andere persönliche Merkmale habe man statistisch kontrolliert und auf diese Weise, so Artelt, "rund 1.400 statistische Zwillinge aus beiden Kohorten" geschaffen, deren Lernzuwächse man einander gegenüberstellen könne. Und die sind, so das LIfBi-Kernergebnis, nahezu identisch ausgefallen. 

 

Das Gleiche galt, als die Forscher:innen Jungen und Mädchen, Kinder aus Akademiker- und Nichtakademiker-Familien, Gymnasiasten und Schüler anderer Schulformen über die zwei Zeiträume hinweg verglichen: Die Unterschiede zwischen den Gruppen blieben jeweils erhalten, waren aber über die zwei Zeiträume hinweg fast gleich. "Das hat uns in der Form auch gewundert", sagt Artelt. "Auch wir hatten erwartet, dass sich vorhandene Differenzen abhängig vom sozialen Hintergrund noch verstärken würden, aber das war nicht der Fall."

 

Hat den Jugendlichen ihre Fähigkeit
zum selbstgesteuerten Lernen geholfen?

 

Wie kann das sein, dass die monatelangen Teil- und Komplettschließung der Schulen kaum Spuren in der LIfBi-Studie hinterlassen haben sollen? Obwohl so viele wissenschaftliche Studien bislang das Gegenteil sagten? Ein Grund, sagen die Forscher:innen, könne in der deutlich stärker ausgeprägten Fähigkeit älterer Jugendlicher zum selbstgesteuerten Lernen liegen. So hätten sie die Einbußen durch Corona womöglich selbst "recht gut" kompensieren können – "zumindest im Bereich Mathematik". Ob die Pandemie in anderen Bereichen, insbesondere emotional und motivational, längerfristige Folgen für die Jugendlichen habe, lasse sich aus den Befunden nicht ableiten. Offen bleibe auch, welche Auswirkungen die Corona-Einschränkungen auf die Kompetenzentwicklung von Schülerinnen und Schüler unterhalb der 7. Klasse gehabt habe. 

 

Bei PISA 2022 hatten Deutschlands Neuntklässler gegenüber 2022 in Mathematik 25 PISA-Punkte eingebüßt, wobei 30 Punkte Bildungsforschern zufolge etwa dem Lernstoff eines Schuljahres entsprechen. Damit fiel der deutsche Rückgang noch etwas stärker aus als im Schnitt aller OECD-Teilnehmerstaaten. Für den IQB-Bildungstrend Mathematik werden Mittelstufen-Jugendliche nach 2018 erst dieses Jahr wieder getestet.

 

Doch hatte der IQB-Bildungstrend 2022 für Deutsch ergeben, dass Neuntklässler nur noch den Kompetenzstand erreichten, den Siebt- oder Achtklässler Mitte der Zehnerjahre aufgewiesen hatten. Umgekehrt hatten die getesteten Schüler laut IQB bei ihren Englischergebnissen trotz Pandemie gegenüber ihren Vorgängern 2015 sogar deutlich zugelegt. IQB-Direktorin Petra Stanat sagte damals, die Tests könnten nicht messen, welchen Einfluss genau Corona gehabt habe. "Dafür, dass die Pandemie eine erhebliche Rolle gespielt hat, spricht jedoch, dass wir in praktisch allen Bundesländern unabhängig von ihrer Ausgangslage eine deutlich negative Entwicklung beobachten."

 

Das sei der Vorteil von sogenannten Längsschnittstudien wie dem Nationalen Bildungspanel, betont das LIfBi, dass sie dieselben Schüler über einen längeren Zeitraum begleiteten und daher im Gegensatz zu wiederkehrenden Einmal-Erhebungen wie IQB und PISA Aussagen über die Lernentwicklung machen könnten. "Wenn es einen Corona-Effekt gegeben haben sollte, dann wäre er für die von uns untersuchte Altersgruppe im Fach Mathematik durch andere Faktoren ziemlich exakt wieder ausgeglichen worden", sagt Cordula Artelt. Das sei dann doch sehr unwahrscheinlich.

 

Wie aussagekräftig sind
Daten und Stichprobe?

 

IQB-Chefin Stanat sagt, die Analysen des LIfBi "wissenschaftlich interessant" und "sorgfältig durchgeführt". Allerdings seien die zugrundeliegenden Daten mit erheblichen Einschränkungen verbunden. So basierten die Vergleiche auf sehr wenigen Aufgaben, die von Corona betroffene Schülerkohorte sei ein halbes Jahr später getestet worden als die Vergleichsgruppe, "und Schüler aus benachteiligten Familien, die nach bisherigen Erkenntnissen von den pandemiebedingten Einschränkungen besonders betroffen waren, sind unterrepräsentiert. Die Ergebnisse sind daher mit großen Unsicherheiten behaftet."

 

Noch kritischer äußert sich der Vorstand des Zentrums für Internationale Vergleichsstudien (ZIB), das Deutschlands Teilnahme an PISA koordiniert. Das LIfBi habe ein "interessantes Papier" vorgelegt, um mögliche Auswirkungen der pandemiebedingten Maßnahmen auf die Kompetenzentwicklung von Schülern genauer zu bestimmen. "Insgesamt scheint die Anlage der Daten jedoch für die Prüfung der angestellten Fragestellungen ungeeignet (unter anderem zu wenige Aufgaben, nicht-repräsentative Stichproben)."

 

Artelt hält dem entgegen, das LIfBi habe lange und sorgfältig an den methodischen Grundlagen gearbeitet und sie in einem Bericht ausführlich dargestellt. Zudem wurden Rückmeldungen einschlägiger Fachkollegen eingeholt, um die Angemessenheit des methodischen Vorgehens sicherzustellen.  "Wir können daher ziemlich sicher sagen: Der Leistungsrückgang im Fach Mathematik in der Sekundarstufe I in Deutschland hat bestimmt viele Gründe, Corona spielt dabei – wenn überhaupt – nur eine sehr geringe Rolle."



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Kommentare: 6
  • #1

    Emma L. (Mittwoch, 08 Mai 2024 10:08)

    Wie schön, dass es nun erste wissenschaftliche Belege dafür gibt, was schon lange als Mutmaßung im Raum steht: nämlich, dass Coronamaßnahmen allein den Leistungsabfall in deutschen Schulen nicht erklären können! Vielleicht führt dies sogar zu ersten Einsichten, dass unser individuelles Digitalverhalten ebenfalls einen beträchtlichen Anteil daran haben könnte und das hier staatliches Handeln (Regulierung, Aufklärung, etc.) gefragt sein könnte.

  • #2

    Christine (Mittwoch, 08 Mai 2024 10:14)

    Dass Corona allein als Erklärung für ungünstige Leistungsentwicklungen nicht ausreicht, ist ja unbestritten. Ich habe mir das Paper grade mal angesehen und wundere mich über die Zusammensetzung der Stichprobe: Darin enthalten sind doppelt so viele Gymnasiast*innen wie in der Gesamtpopulation, sehr viele Akademikerkinder und fast keine mit internationaler Biographie. Das scheint mir als Datengrundlage sehr wackelig zu sein, da ja genau diejenigen, die in der Zeit des AUf-sich-selbst-gestellt-Seins ins Hintertreffen geraten sind, hier nicht repräsentiert sind.

  • #3

    Aha (Mittwoch, 08 Mai 2024 11:03)

    @Christine: Sie schreiben 'und wundere mich über die Zusammensetzung der Stichprobe: Darin enthalten sind ... fast keine mit internationaler Biographie.''

    Hmm. Der Anteil von Kindern mit 'migration background' in der Studie ist doch relativ hoch.

  • #4

    Christine (Mittwoch, 08 Mai 2024 14:24)

    @Aha: Im Paper steht dazu (interessanter Weise) nichts, der verlinkte Methodological Companion gibt knapp 17% aus. Das scheint mir schon zu wenig zu sein angesichts der in den anderen großen Studien berichteten >30% in der Altersgruppe (ca. 9. Klasse), zumindest hätte ich mir im Paper einen Kommentar dazu gewünscht, wie die Autor*innen das einordnen.

  • #5

    Sebastian Zachrau (Freitag, 10 Mai 2024 11:27)

    Das bestätigt meine Erfahrung: die Schüler*innen und Studierende waren überwiegend schon vor der Pandemie völlig apathisch. Von den Unterrichtsinhalten wird der Großteil völlig ignoriert, und die Lehrenden passen ihre Klausuren (+ Benotung) entsprechend an. Deshalb war der digitale Unterricht auch kein besonderer Verlust: man lässt sich eh nur beschallen, ob man zuhause sitzt oder im Klassenraum/Hörsaal. Der einzige Zweck, den Schulunterricht konsequent verfolgt, ist Kinderbetreuung. Dabei könnte man auf 80% der Unterrichtsstunden verzichten, wenn in den restlichen 20% wirklich aktiv gelernt würde. Aber unsere Bildungspolitik kennt immer nur: mehr vom Gleichen! Deshalb ist man nun auch verwundert, dass massiver Unterrichtsausfall so geringe Konsequenzen hatte. Mich überrascht es wirklich gar nicht.

  • #6

    Michael Felten (Freitag, 10 Mai 2024 17:11)

    Das eine ist, dass die Artelt-Studie gewisse Schwächen hat.
    Das andere ist, dass sie eigentlich überflüssig war.
    Denn da die Schulleistungen deutscher Schüler bereits seit 2012 sanken, schieden sowohl Pandemie wie auch Migration als alleinige Ursache für den Abstieg aus.
    Auszuloten wäre stattdessen der Einfluss der Smartphonekultur, mit ihrer hohen Absorption von Erziehenden wie Kindern und Jugendlichen.
    Zu Pandemie, Migration und Inklusion wäre nur zu sagen: Diese Faktoren haben manche ohnehin durch Personalmangel überlastete Lehrkraft vollends niedergestreckt (vgl. Ausstiegsquote).