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Bildungsvergleich: ifo-Studie hebt Berlin an die Spitze

Nirgendwo haben nichtprivilegierte Schüler eine größere Chance auf einen Gymnasialbesuch als in der Hauptstadt. Aber was genau bedeutet ein solches Ergebnis für die Bildungsgerechtigkeit, wenn Berlin zugleich bei Schulleistungsvergleichen hinten liegt?

ENDLICH EINMAL BERLIN. Eine neue ifo-Studie zeigt erstmals im Bundesländervergleich, welche Chancen Kinder abhängig von ihrer Herkunft haben, das Gymnasium zu besuchen. Und während sich die Hauptstadt bei Schulleistungstests wie dem IQB-Bildungstrend meist in der Schlussgruppe wiederfindet, rangiert Berlin hier zusammen mit Brandenburg an der Spitze. Den Forschern um ifo-Bildungsökonom Ludger Wößmann zufolge schaffen es dort mit 37,1 Prozent nicht nur am meisten Schüler ohne hohen sozialen Status aufs Gymnasium, auch ist der Chancenrückstand zu ihren privilegierteren Altersgenossen am geringsten, von denen 68,9 Prozent der Sprung gelingt. 

 

Nun der Gegenschnitt. Ganz unten im ifo-Vergleich rangiert Bayern. Dort finden sich nur 20,1 Prozent der unteren Gruppe, aber 52,7 Prozent der Privilegierten am Gymnasium wieder. Was auf eine Relation von 1 zu 2,6 hinausläuft. In Berlin beträgt sie dagegen 1: 1,9. Die ifo-Forscher drücken das relative Chancenverhältnis als Quotient aus, das deutschlandweit bei 44,6 Prozent liegt, in Berlin bei 53,8 Prozent und in Bayern bei 38,1 Prozent. Soll heißen: In Berlin ist die Wahrscheinlichkeit, dass ein Kind aus einfacheren Verhältnissen aufs Gymnasium kommt, trotz allem nur rund halb so hoch wie bei sozial besser gestellten Schülern. In Bayern kommt sie kaum über ein Drittel hinaus.

 

Die Studie nutzte die Daten des Mikrozensus und teilte eine Stichprobe von bundesweit über 100.000 Kindern und Jugendlichen zwischen 10 und 18 Jahre in lediglich zwei Gruppen ein: die mit "höherem sozioökonomischen Hintergrund", definiert über den Bildungsstand der Eltern (mindestens ein Elternteil mit Abitur) und das Einkommen (beim Haushaltseinkommen im oberen Viertel). Alle übrigen Kinder fielen in die Gruppe mit "niedrigerem" Hintergrund, also mit Eltern ohne Abitur und einem Haushaltseinkommen in den unteren drei Vierteln. Eine recht grobe Einteilung mit dem Ergebnis, dass deutschlandweit 45 Prozent oberhalb und 55 Prozent unterhalb des Schnitts landeten. Zum sozioökonomisch niedrigeren Hintergrund zählen damit zum Beispiel auch Kinder, deren Eltern Facharbeiter sind und weit überdurchschnittlich verdienen. 

 

Aufs große Ganze der
Bildungsungerechtigkeiten schauen

 

Kann man machen, wenn man weniger auf die sozialen Schattierungen, sondern aufs große Ganze schauen möchte, das sich, da hat das ifo Recht, anhand der beiden Faktoren Bildung und Einkommen sortiert. Das große Ganze der Ungerechtigkeiten im deutschen Bildungssystem.

 

Allerdings deutet schon die seltsame Tabellenumkehr entgegen sonstiger Bildungsvergleiche an, dass die ifo-Analyse nur einen Teil der Geschichte präsentiert. ZEIT-Redakteur Thomas Kerstan drückte das bei "X" so aus: Er finde es bei der interessanten Studie "nur schade, dass die Schulleistungen nicht kontrolliert werden". Das, so Kerstan, würde klarer machen, wie viel der Ungleichheit auf Ungerechtigkeit basiere. "Und die Berliner 'Gerechtigkeit' liegt wohl (bitte sonst korrigieren) an der miesen Durchschnittsleistung."

 

Zu korrigieren gibt es an Kerstans Einwand vermutlich nichts. Denn wenn etwa laut IQB-Bildungstrend 2021 rund 27 Prozent der Berliner Viertklässler die Mindeststandards beim Lesen nicht erreichten und in Mathe sogar 35 Prozent, im Vergleich etwa zu den 14 bzw. 13 Prozent in Bayern, dann offenbart sich der Unterschied zwischen formaler Chancengleichheit, auf die die ifo-Forscher abheben, und materieller, die in der Sicherstellung basaler Grundkompetenzen besteht. Und am Ende entscheidet letztere über Erfolg und Zufriedenheit im Leben vermutlich viel stärker als die Frage, wie genau das Zertifikat heißt, das man in den Händen hält.  

 

Übertrieben ist freilich, wenn der Deutsche Philologenverband (DPhV) deshalb mit "großer Irritation" auf die ifo-Studie reagierte und DPhV-Vorsitzende Susanne Lin-Klitzing sagte, es sei "äußerst bedenklich, wenn ausgerechnet ein Wirtschaftsforschungsinstitut mit Daten von gestern eine leistungsvergessene Schulpolitik für morgen gestalten will".

 

Das mit den Daten von "gestern" bezieht sich darauf, dass die Mikrozensus-Erhebungen von 2018/19, also von vor der Corona-Pandemie, stammen. Was jedoch ihre grundsätzliche Aussagekraft nicht schwächen sollte. 

 

Eine Abwertung aller
nichtgymnasialen Abschlüsse

 

Einen Punkt hat der Philologenverband freilich mit seiner Kritik, dass das ifo durch die Konzentration auf den Gymnasialbesuch als einzig relevantes Kriterium für den Bildungserfolg "konsequent sämtliche Ausbildungsberufe und die ihnen zugrunde liegenden Bildungsabschlüsse als nicht-erfolgreiche Bildungsbeteiligung" abwerte. 

 

Ludger Wößmann verwies nach Kerstans "X"-Kritik auf eine Passage aus dem Studienbericht zu "Leistungsniveau und Chancengerechtigkeit" als "zwei Ziele(n), die üblicherweise von Bildungssystemen erwartet werden". Ein gutes Bildungssystem solle ein möglichst hohes Leistungsniveau mit möglichst weitgehender Chancengleichheit verbinden, "und beide Aspekte sollten in die Gesamtbewertung eines Bildungssystems eingehen". Die vorgelegten ifo-Analysen informierten "über eine Dimension dieses Zielbündels".

 

Doch ist, siehe oben, selbst diese Dimension, die Chancengleichheit, allein mit dem Gymnasialbesuch ausreichend erfasst? Die Antwort: nicht ausreichend, aber zugleich so plakativ, dass die Studie der Debatte über Bildungsgerechtigkeit nur helfen kann.

 

"Das große Ausmaß der Ungleichheit der Bildungschancen ist zum Glück nicht unumstößlich. Politische Maßnahmen könnten Kinder aus benachteiligten Verhältnissen gezielt fördern, am besten schon im frühkindlichen Alter",  sagt Florian Schoner, Mitautor der Studie. Wichtige Ansatzpunkte seien eine gezielte Unterstützung von Eltern und Schulen in herausfordernden Lagen, eine datenbasierte Sprachförderung sowie Mentoring-Programme. 

 

Wößmann machte darauf aufmerksam, dass ausgerechnet die Spitzenreiter Berlin und Brandenburg die einzigen Bundesländer seien, "in denen die Kinder erst ab der 7. Klasse auf das Gymnasium wechseln". Der Auftakt für eine neue Debatte über längeres gemeinsames Lernen? Wohl kaum. Das Thema ist bildungspolitisch zu vermint. 



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Kommentare: 2
  • #1

    Mucho Marx (Freitag, 17 Mai 2024 16:59)

    Es sucht sich, wie immer in Bildungsstrukturdiskussionen (wo ja bekanntlich isolierte, kontextunabhängige Kausalzusammenhänge zwischen Phänomen und Ursachen nur schwerlich klar zuzurechnen sind), jede*r das raus, was ihm gerade in den politischen Kram passt. Hier scheint es darum zu gehen, die Verdienste speziell der Berliner und Bremer Regierungen besonders hervorzuheben.

    Interessant ist dabei natürlich immer auch, nicht nur, was betont, sondern auch was weggelassen wird. Das betrifft nicht nur die Frage nach dem, was denn *tatsächlich* gelernt wird (fachlich, sozial, menschlich), wie oben angesprochen -- beachtlich ist auch, dass *eine* Kennziffer, die sonst immer so gerne zur Skadalisierung instrumentalisiert wird, hier ebenfalls völlig fehlt: die der Schulabbrecher bzw. Abgängerinnen ohne Abschluss. Da sieht es leider ganz und gar nicht gut aus für Berlin und Bremen. Aber gut, darüber mag man hinwegsehen, wenn man nur auf die prestigeträchtigste Stufe der Bildungshierarchie schaut.

  • #2

    Tja (Samstag, 25 Mai 2024 08:25)

    Eigentlich schon seit langem klar, dass man an der Gauss-Verteilung des IQ nicht dadurch etwas ändern kann, dass man die Leistungsansprüche absenkt.