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Es war mal eine Brennpunktschule

Ein Viertel der Gesamtschüler in Riedstadt hat wenig Selbstvertrauen, ein Drittel kann kaum eigenständig lernen. Programme wie "SchuMaS" wollen helfen.

Martin Buhl, Schulleiter, und Pädagogin Saskia Janz mit Schülern im "Lernraum". Bilder: Jan-Martin Wiarda.

NEULICH WAR TAG DER OFFENEN TÜR im Gymnasium in der Nachbarstadt. Die Direktorin habe den Eltern stolz versichert, dass an ihrer Schule alles noch genauso laufe wie vor 20 Jahren, erzählt Martin Buhl. "Und ich habe gedacht: Über meine Schule könnte ich nichts Schlimmeres sagen." Es ist ein grauer Wintermorgen auf dem Pausenhof der Martin-Niemöller-Gesamtschule in Riedstadt, ein paar Regionalbahn-Stationen südlich von Frankfurt am Main. Eine Ansammlung von Zweckbauten, der älteste von 1964, der jüngste von 2006, daneben erst vor kurzem aufgestellte Container mit weiteren Klassenzimmern. Buhl, 55, schreitet bester Laune über den asphaltierten Boden. "Ich bin Schulleiter geworden, um Schule zu verändern", sagt er.

 

Die große Pause ist gerade vorbei, die nächste Stunde fängt an, doch kein Schrillen, kein Surren. Nur Schüler, die quatschend, schubsend, Bälle kickend in die Klassenräume strömen. Vor ein paar Jahren hat es im Verwaltungsgebäude gebrannt, der Schulgong ging kaputt, und Buhls Schulleitung entschied: Der wird nicht repariert. Vor fünf Jahren starteten Bund und Länder das Programm "Schule macht Stark", kurz "SchuMaS", um 200 reformbereite Brennpunktschulen in ganz Deutschland mit Bildungsforschern zusammenzubringen. Das Ziel: Schule und Unterricht in einer einzigartigen Kooperation zwischen Praxis und Wissenschaft weiterzuentwickeln. 

 

Bei dem Begriff "Brennpunktschule" denkt man an Berlin-Neukölln, Hamburg-Mümmelmannsberg oder Duisburg-Marxloh, aber nicht an die 23.000-Schlafstadt Riedstadt, idyllisch gelegen zwischen Feldern und der Schleife des Stockstadt-Erfelder Altrheins. Doch der Eindruck täuscht. Mit gut 1.000 Schülern ist die Niemöller-Schule zwar keineswegs die größte in der Region, doch sehr viele Jugendliche haben eine Hauptschulempfehlung, 58 einen festgestellten sonderpädagogischen Förderbedarf. Folglich bewarb die Schule sich bei "SchuMaS" und wurde eine der wenigen Teilnehmer aus dem ländlichen Raum. 

Als im August 2024 das "Startchancen"-Programm begann, war sie wieder mit dabei. Denn was in "SchuMaS" begann, sollen die "Startchancen", ausgestattet mit zehn Milliarden Euro vom Bund über zehn Jahre, auf die nächste Stufe heben.  Ideen, wie sie ihre Schule besser machen wollen, haben Buhl und die Niemöller-Lehrkräfte selbst. Doch welche davon funktionieren?

 

Hier kommen Experten wie Jonas Ringler ins Spiel. Der 34-Jährige ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am DIPF Leibniz-Institut für Bildungsforschung. Er hat die Niemöller-Schule regelmäßig besucht und gemeinsam mit den Lehrkräften über den Schülerdaten gebrütet. Über die Laufzeit von fünf Jahren empfiehlt Ringler der Schule passende SchuMaS-Angebote und bleibt Buhls wissenschaftlicher Ansprechpartner.

 

Vierte Stunde bei Saskia Janz. Auf dem Stundenplan steht "Lernraum" für die 7e. Das ist, wenn man so möchte, der Kern des pädagogischen Aufbruchs an der Niemöller-Schule. Jeden Tag wird mindestens eine Stunde herausgespart aus dem üblichen Fächercurriculum. Die 20 Schülerinnen und Schüler sitzen verteilt an Gruppentischen und brüten über ihren individuellen Wochenaufgaben, die sie von ihren Fachlehrern erhalten haben. "Ich bin als Lehrkraft nicht mehr nur die Person, die vorne erklärt, sondern ich begleite den Lernprozess aktiv, gebe Impulse und stehe bei Fragen zur Seite." Und weil die Schüler an ihren Tablets arbeiten, kann Janz jedem einzelnen von ihnen vom Lehrertisch aus bei der Arbeit zuschauen und bei Bedarf unterstützen.

 

 "Aber oft läuft Schule doch so: Wir haben

die einzelnen Schüler zu wenig im Blick,

wir wissen gar nicht, was macht sie eigentlich aus,

und was ist ihre Lebenssituation?"

 

Normalerweise, sagt Janz, befinde sich nur etwa die Hälfte der Schüler hier im Raum, die anderen besuchten in Kleingruppen auf sie zugeschnittene Fachunterrichtsangebote in Deutsch, Mathe oder Englisch. Der "Lernraum" bietet aber noch mehr: Es gibt bei Bedarf einen Sport-Bewegungskurs, eine wöchentliche Trommelstunde namens "Tricks mit Sticks", Förderschullehrkräfte unterrichten "Alltagskompetenz", die Schulsozialarbeiter bieten Strukturtraining an. Damit Individualisierung gelingt, sagt Schulleiter Buhl, müsse man seine Schüler kennen. "Aber oft läuft Schule doch so: Wir haben die einzelnen Schüler zu wenig im Blick, wir wissen gar nicht, was macht sie eigentlich aus, und was ist ihre Lebenssituation?"

 

Darum haben sie an der Martin-Niemöller-Schule vor zwei Jahren mit SchuMas-Unterstützung eine "Inventur" ihrer Schülerschaft gemacht. So nennen sie die 14 Schülermerkmale, die Buhl und sein Kollegium beschrieben und bis ins Detail definiert haben. Seitdem wissen sie in Riedstadt zum Beispiel, dass 18 Prozent ihrer Schüler "psychische Probleme" haben und 13 Prozent keinerlei Unterstützung von zu Hause erhalten, dass 18 Prozent ein "herausforderndes Verhalten zeigen", dafür aber 34 Prozent äußerst sozial im Umgang mit anderen sind. Zwei Ergebnisse aber haben die Lehrer besonders nachdenklich gemacht: 31 Prozent der Fünftklässler haben nur eine "geringe Eigenständigkeit" erreicht und dieser Wert sinkt bis Klasse 8 auf gerade einmal 28 Prozent. Gleichzeitig zeigt durch die Bank ein Viertel der Schüler zwischen Klasse 5 und 9 einen Mangel an Selbstvertrauen, eine Veränderung über die Klassenstufen hinweg? Fehlanzeige.

 

"Daraufhin", sagt Buhl, "haben wir uns dann unsere Methoden und Maßnahmen angeschaut. Was funktioniert wirklich, was zahlt positiv auf die Entwicklung unserer Schüler ein?" Alles Fragen, deren strategische Beantwortung nicht ohne die Unterstützung durch "SchuMas" möglich gewesen wäre, sagt der Schulleiter. Regelmäßig besuchen Buhl und seine Kollegen die angebotenen Tagungen. Dabei hätten sie die methodischen Verfahren und Instrumente kennengelernt und seien überhaupt erst für das Thema der "datengestützten Schulentwicklung" sensibilisiert worden.Hilfreich sei neben der Beratung durch Jonas Ringler außerdem die enge Zusammenarbeit mit der Universität Duisburg-Essen, die sich über den SchuMaS-Workshop ergeben habe. 

 

Noch ein paar engagierte Tage, und er

schafft "Stufe 3". Dann darf er bei der Arbeit

die Kopfhörer aufsetzen und Musik hören.

 

Auf zwei Ziele haben sie an der Niemöller-Schule entschieden, wollen sie ihre Schulentwicklung zunächst konzentrieren: die Eigenständigkeit der Schüler stärken und ihr Selbstvertrauen erhöhen. Ob ihnen das gelingt, wollen sie in der nächsten "Schülerschaft-Inventur" in zwei Jahren überprüfen. Wie aber fördert man Eigenständigkeit? Zurück in den "Lernraum" von Saskia Janz. Gregory (Name geändert), schwarzer Kapuzenpulli, Ohrring, dunkel lackierte Fingernägel, steht vor ihrem Lehrertisch und hält ihr seinen Wochenplan hin. Er habe seine Aufgabe in Gesellschaftslehre (GL) fertig. "Zeichnen Sie mir das ab?" Gern, antwortet Janz: "Sobald du das Blatt abgeheftet hast." Er habe aber seinen Ordner nicht dabei. "Aber du hast einen GL-Ordner, oder?" Aber natürlich, versichert Gregory, der gerade einen sehr beflissenen Eindruck macht. Der Grund liegt in seiner Hand. Eine kleine Plastikkarte, die ihm bescheinigt, sich auf "Stufe 2" der Selbstständigkeitsskala zu befinden. Letzte Woche war er noch "Stufe 1", das heißt: Er musste am Einzeltisch sitzen, um weniger abgelenkt zu sein. Weil er gut gearbeitet hat, durfte er diese Woche an den Gruppentisch wechseln und sich bei seiner Arbeit mit seinen Mitschülern austauschen. Noch ein paar engagierte Tage, und er schafft "Stufe 3". Dann darf er bei der Arbeit die Kopfhörer aufsetzen und Musik hören, er darf sich mit seinem Tablet gemütlich in die Ecke hocken, zwischendurch raus auf den Flur gehen oder auf den Schulhof, solange er in Sichtweite von Frau Janz bleibt. "Die höchste Stufe der Verantwortung ermöglicht es dann, sich den Arbeitsort auf dem gesamten Schulgelände frei auszuwählen – solange die Aufgaben gewissenhaft erledigt werden", erklärt Saskia Janz. Jeden Montag werde geschaut, ob die Schüler ihr Pensum erreicht und sich an die Regeln gehalten haben. Durch den wöchentlichen Rhythmus bleibe die Motivation hoch, sagt Janz. "Es gibt regelmäßige Chancen, eine höhere Stufe zu erreichen, und wenn es mal nicht so gut läuft, kann man sich schnell wieder fangen, ohne dass eine schlechte Woche langfristige Konsequenzen hat."

 

Die Gefahr, dass die Schüler dann heimlich auf ihren Handys zocken, besteht nicht. Denn vorn links hängt der Handy-Safe: für jeden Schüler ein beschriftetes Fach, in das sie zu Beginn der Stunde ihre Mobiltelefone stecken, dann wird abgeschlossen. Weil sie so gar nicht in Versuchung geraten, entfällt auch das anderswo gegen Unterrichtsende übliche Schülerdefilieren ins Sekretariat, um gegen Ermahnungen das einkassierte Handy wieder abzuholen. So, wie die in jedem Klassenraum aufgestellten "Service-Boxen" mit Stiften und Geodreiecken verhindern sollen, dass Schüler, die ihren Kram vergessen haben oder nie von ihren Eltern gekauft bekamen, ständig beschämt würden, erklärt Schulleiter Buhl. "Sie können sich einfach ausleihen, was sie brauchen."

 

Sie könnten lange über die unzureichende Ausstattung der Schule durch die Politik meckern – oder darüber, dass viele Eltern ihren Kindern nicht einmal mehr beim Ranzenpacken unterstützen. "Oder wir ändern unsere Perspektive und unser Selbstverständnis als Schule", so Buhl. Was ihm geholfen habe, sei der ausgeprägte Generationswechsel: In seinen erst acht Jahren als Schulleiter habe er 36 Pädagogen in den Ruhestand geschickt, fast die Hälfte des Kollegiums, dafür habe er junge Lehrkräfte selbst aussuchen und einstellen können. Jetzt sei die Lehrerschaft im Schnitt Mitte 30. Der Weg zu einer besseren Schule, das zeigen viele Studien, führt auch und gerade über die Schulleitung. Weshalb bereits SchuMaS auf deren Beratung und Begleitung einen großen Wert legt – und das neue Startchancen-Programm noch mehr. 

 

Wurden für "SchuMaS" noch 200 Schulen bundesweit ausgewählt, sind es bei den "Startchancen" rund 4.000. Allein deren wissenschaftliche Begleitung finanziert die Bundesregierung mit 100 Millionen Euro über zehn Jahre. Koordiniert wird sie erneut vom DIPF Leibniz-Institut für Bildungsforschung und Bildungsinformation.

 

Ein wenig trauere er um den "ko-konstruktiven Ansatz"

von SchuMaS: die Vernetzung zwischen den

beteiligten Schulen und der Wissenschaft. 

 

Doch während bei "SchuMaS" allein die Beratung, die Schul- und Unterrichtsentwicklung im Vordergrund standen, beinhalten die "Startchancen" als Hauptbestandteil ein milliardenschweres Investitions- und Ausstattungsprogramm, damit die Schulen zu ihren Konzepten für ein lernförderliches Schul- und Unterrichtsklima auch die entsprechenden neuartigen Lernorte schaffen können. Neue Ideen und Angebote lassen sich zudem über das "Chancenbudget" finanzieren, das jede Schule erhält. Und es gibt Extra-Stellen für die Schulsozialarbeit. Einen Automatismus, dass SchuMaS-Schulen auch Startchancen-Schulen werden, gab es nicht, zumal die Programme nicht direkt aufeinander aufbauen.

 

Martin Buhl sagt, er wisse zwar noch nicht genau, was die "Startchancen" seiner Schule an zusätzlichen Möglichkeiten bringen werde. Ein wenig trauere er aber schon um den "ko-konstruktiven Ansatz" von SchuMaS: die Vernetzung zwischen den beteiligten Schulen und der Wissenschaft. Seine Hoffnung: Dass er mit seinem Team einfach weiter daran arbeiten kann, die Niemöller-Schule auf evidenzbasiert-strategische Weise zu einer besseren Bildungseinrichtung zu machen.

 

Orientiert an dem, was den Schülerinnen und Schülern wirklich hilft. "Ob das Programm, das uns dabei unterstützt, am Ende SchuMaS heißt oder Startchancen, ist mir dabei eigentlich egal."

 

Dieser Artikel erschien zuerst im FREITAG.



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