Lesen, klicken, kapitulieren
Beim PISA-Probelauf an einer Berliner Schule wird deutlich: Viele Jugendliche scheitern nicht am Willen, sondern am Wortschatz – und an der Überforderung durch zu komplexe Texte. Ein Gastbeitrag von Ada M. Hipp*.

Ilustration: KI-geniert.
EIN FREITAG IM MAI. Um 6.45 Uhr ist es in der Schule noch ruhig. Nur Sekretariat und Amtszimmer sind besetzt. In der Cafeteria bereiten der Koch und das Küchenpersonal, zwei türkischstämmige Mütter ehemaliger Schüler, den letzten Tag der Woche vor: Brötchen schmieren, Mittagessen vorbereiten, Küche putzen – was eben anfällt. Es klappert Geschirr, die neue Kaffeemaschine zischt. Ein ganz normaler Morgen. Auf dem Schulhof schleichen zwei "schuleigene" Füchse durchs Gebüsch. Einer trägt etwas Rattenähnliches im Maul.
Doch gegen 6:50 Uhr endet die Ruhe. Autos rollen auf den Hof, Fahrräder werden abgestellt, fremde Personen erscheinen. Sie haben sich angekündigt – es ist der Tag des Probelaufs zur PISA-Studie 2025. Unsere Schule ist dafür ausgewählt worden. 64 Schülerinnen und Schüler des Jahrgangs 2008 aus den Klassenstufen 9 und 10 wurden zufällig bestimmt.
Taschen werden aus den Kofferräumen gehoben – jede etwa so groß und schwer wie eine Kiste Wein. Sie enthalten Laptops, fünf pro Tasche, jeweils ein Gerät pro Teilnehmer. Bei 64 Teilnehmenden also mindestens 13 Taschen, dazu Ersatzgeräte. Alles muss in die vorgesehenen Klassenräume gebracht werden.
Pünktlich um 08:00 Uhr sind die Arbeitsplätze eingerichtet. Jede Schülerin, jeder Schüler hat einen eigenen Tisch. Die Durchführenden weisen sorgfältig in die Aufgaben ein. Es wird deutlich gemacht, dass es sich um den wichtigsten internationalen Schulvergleichstest handelt – das Programme for International Student Assessment, kurz PISA.
Einige Schülerinnen und Schüler zeigen sich zunächst beeindruckt, fühlen sich ernst genommen und sind sogar ein wenig stolz, Teil dieser Studie zu sein. Doch mit dem Bearbeitungsprozess verfliegt die Anfangsmotivation. Viele berichten später, dass die Aufgaben so schwer gewesen seien, dass sie gegen Ende gar nicht mehr alles gelesen hätten.
Überforderung
auf Knopfdruck
Anfangs bemühten sie sich, wie ihnen geraten worden war. Doch dann fielen viele in alte Muster zurück: Sie ließen Aufgaben aus, klickten einfach auf "weiter", machten längere Pausen, legten die Köpfe auf den Tisch und warteten, dass die Zeit vergeht. Obwohl ausreichend Pausen gegeben wurden, fiel es den meisten schwer, sich länger zu konzentrieren. Viele fühlten sich überfordert – nicht nur von der Menge der Aufgaben, sondern auch vom sprachlichen Anspruch.
Die Aufgabenstellungen wurden als zu kompliziert empfunden, die Texte als zu lang. Viele verstanden zentrale Wörter nicht oder kannten deren Bedeutung nicht. Wer nicht liest, hat keinen Wortschatz. Und wer keinen Wortschatz hat, wird sich mit Lesen immer schwertun.
Unsere Schülerinnen und Schüler sind keine Ausnahme. PISA 2022 zeigt: 75 Prozent der 15-jährigen Jugendlichen in Deutschland sind in der Lage, die Hauptaussage eines mittellangen Textes zu erfassen, Informationen herauszufiltern und nach Anweisung über Texte zu reflektieren. Aber 25 Prozent können das nicht. Sie können weder den Kern eines Textes erkennen noch strukturiert Informationen entnehmen. Diese 25 Prozent finden sich auch in unseren Klassen wieder.
Ein Beispiel: In der Vergleichsarbeit zur Berufsbildungsreife (BBR) im Fach Deutsch 2023 tauchen in einem Sachtext Begriffe wie "Käscher", "Tonwände", "Bandbreite" auf. Für viele unserer Schülerinnen und Schüler sind das keine verständlichen Wörter. Auch die unten auf der Seite erklärten Fremdwörter helfen wenig, denn der Rest des Textes bleibt trotzdem unverstanden. Das führt dazu, dass viele gleich zu Beginn abschalten.
Unbekannte Begriffe wirken abschreckend. Wer Wörter nicht kennt, liest die Aufgabenstellungen gar nicht erst. Texte, die eine DIN-A4-Seite füllen, gelten als zu lang. Die Rückseite wird meist ignoriert. Auch in den Aufgaben finden sich Wörter, die in ihrem Sprachgebrauch nicht vorkommen: "appellieren", "distanzieren", "Fliehkraft", "Libelle".
Leseschwäche hat
viele Ursachen
Einige Beispiele mögen zugespitzt wirken, treffen aber den Kern: Wer nie einen Biber gesehen hat, wird "Bieber" schreiben – Justin Bieber kennt man. Wer keine Artikel verwendet, wird auch bei Aufgaben zur korrekten Artikelverwendung Schwierigkeiten haben. Die Frage, ob ein Wort mit -eu- oder -äu- geschrieben wird, scheint nebensächlich, wenn grundlegende Lesekompetenz fehlt. Wie konnte es so weit kommen?
Die PISA-Studie nennt zwei Hauptursachen: die pandemiebedingten Lernrückstände und die gestiegene Migration seit 2015. Beides sind zweifellos reale Faktoren. Doch zu einfach wäre es, das gesamte Problem auf diese beiden Aspekte zu reduzieren.
Ein Blick in den Sozialbericht Berlin 2015 zeigt: Schon bei den Einschulungsuntersuchungen der damals Fünfjährigen im Bezirk Neukölln traten sprachliche Auffälligkeiten zutage – etwa beim Nachsprechen von Sätzen oder der Pluralbildung. Und das nicht nur bei Kindern mit Migrationshintergrund, sondern auch bei Kindern ohne.
Auffällig ist: Je niedriger die soziale Lage, desto höher die Defizite. In der unteren Statusgruppe wiesen 36,3 Prozent der Kinder Auffälligkeiten beim Nachsprechen von Sätzen auf, in der oberen waren es nur 4,5 Prozent. Kinder mit beidseitigem Migrationshintergrund lagen bei 30,1 Prozent. Rechnet man die grenzwertigen Ergebnisse hinzu, hatten 51,2 Prozent Mühe, einfache Sätze nachzusprechen. Auch bei der Pluralbildung: 52,6 Prozent der Kinder mit beidseitigem Migrationshintergrund zeigten auffällige oder grenzwertige Ergebnisse.
Diese Kinder sitzen heute in unseren Klassen. Ihre sprachlichen Voraussetzungen sind schwach – unabhängig vom Migrationsstatus, aber stark beeinflusst von der sozialen Herkunft. Viele berichten, dass zu Hause kaum gelesen wird. Vorlesen erlebten sie vielleicht im Kindergarten, aber nicht mehr danach. Längere Gespräche am Esstisch sind selten. In einigen Familien wird nach der Schule kein Deutsch mehr gesprochen.
Die Schule kann diese Defizite nicht allein ausgleichen. Es gelingt in Einzelfällen, aber flächendeckend ist es unmöglich.
Der Probelauf im Mai 2024 ist jetzt genau ein Jahr her. Seine Durchführung dauerte etwa fünf Stunden. Doch das Gros unserer Schülerschaft kann sich maximal 40 bis 60 Minuten konzentrieren. Danach setzt Müdigkeit ein – oder Unruhe. Beides führt dazu, dass sie innerlich aussteigen. Auch dies ein Hinweis darauf, wie weit die Anforderungen der Studie von der Realität vieler Schülerinnen und Schüler entfernt sind.
Und so bleibt am Ende die Frage: Werden es wieder Schülerinnen und Schüler wie unsere sein, die die Ergebnisse der PISA-Studie 2025 nach unten ziehen?
*Ada M.Hipp ist Sekundarschullehrerin. Ihr Name wurde geändert.
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