Wissenschaftssicherheit ohne Schreckreaktion
Wie Spionagegefahren, geopolitische Risiken und die Debatte über Dual Use den wissenschaftlichen Austausch bedrohen – und was der Wissenschaftsrat zur Lösung vorschlägt.

Foto: Screenshots der Online-Pressekonferenz (Montage) mit Wolfgang Wick (links) und Ferdi Schüth.
DUAL USE, SAGT FERDI SCHÜTH, sei "kein tragfähiger Begriff mehr – zu viele Forschungsbereiche können sicherheitsrelevant werden." Schüth ist Direktor am Max-Planck-Institut für Kohlenforschung in Mülheim an der Ruhr, doch das Beispiel, mit dem er seine These verdeutlicht, stammt aus der Meeresforschung. Wissenschaftler könnten Ozeanschichten analysieren, um Temperaturverteilungen, pH-Werte oder CO₂-Konzentrationen zu messen. Mit denselben aus der Klimaforschung stammenden Methoden ließen sich aber auch Rückschlüsse auf die Anwesenheit, Bewegungsrichtung und Aktivitäten von U-Booten ziehen. "Das zeigt, wie schnell zivile Forschung eine sicherheitsrelevante Dimension annehmen kann", sagt Schüth.
Für den Wissenschaftsrat, in dessen wissenschaftlicher Kommission Schüth als stellvertretender Vorsitzender fungiert, hat er federführend die Entstehung des Positionspapiers "Wissenschaft und Sicherheit in Zeiten weltpolitischer Umbrüche" begleitet, das Ende vergangener Woche beschlossen und nun in einer Pressekonferenz vorgestellt wurde. Wissenschaft, sagt Schüth, sei doppelt sicherheitsrelevant: weil Hochschulen und Forschungseinrichtungen selbst Ziele von Spionage oder Cyberattacken werden können. Weil sie aber auch durch ihre Arbeit zur inneren und äußeren Sicherheit beitragen, etwa durch Resilienzforschung, KI, Biotechnologie oder Extremismusanalyse. Entsprechend benutzt das Papier auch den neu kreierten Begriff "Wissenssicherheit", um die Umfassendheit der Herausforderung zu betonen.
Die wichtigste Aussage des Wissenschaftsratspapiers aber fasst Schüth so zusammen: "Das deutsche Wissenschaftssystem ist für die neue Sicherheitslage noch nicht ausreichend gewappnet."
Föderalismus
und Aktionismus
Was wenig überraschend ist, waren in den vergangenen Jahren doch Aufregung und Hysterie etwa über mutmaßliche Wissenschaftsspionage oder internationale Hackerangriffe groß, doch die Systematik der Abwehrmaßnahmen ließ – typisch Föderalismus und vielfältige Verantwortlichkeiten zwischen Bund, Ländern und Wissenschaftsautonomie – auf sich warten. Und da, wo wenig Systematik herrscht, nimmt der Aktionismus zu und Überreaktionen drohen.
Als etwa die damalige Bundesforschungsministerin Bettina Stark-Watzinger (FDP) die deutschen Universitäten aufforderte, alle existierenden Wissenschaftskooperationen mit China auf den Prüfstand zu stellen ("Hinter jedem chinesischen Forscher kann sich die Partei verbergen"), traten viele Hochschulen bei ihren fernöstlichen Kontakten derart auf die Bremse, dass sich Daya Reddy, der Vorsitzende des Internationalen Beirats der Humboldt-Stiftung, zu einem warnenden Interview bemüßigt fühlte.
"Nicht China hat sich verändert, sondern Deutschland", sagte er hier im Blog. "Wir müssen uns vor Überreaktionen gegenüber einzelnen Wissenschaftlern hüten, wie wir sie von US-Sicherheitsbehörden bereits erlebt haben." Und weiter: "Lassen Sie uns doch mal weggehen von den umstrittenen Themen wie der Dual-Use-Forschung. Lassen Sie uns an den Klimawandel denken. Dann ist doch sofort klar: Es gibt zu dieser Art der globalen Zusammenarbeit gar keine Alternative."
Genau in diesem Tenor argumentiert jetzt auch der Wissenschaftsrat und warnt vor einer Überregulierung in den internationalen Wissenschaftsbeziehungen. Es gehe nicht darum, alle Kontakte abzubrechen, sondern mit Augenmaß zu handeln. Die Verantwortung liege zunächst bei den Forschenden selbst, flankiert von kollegialer Beratung. Um ihr Projekt anhand von fünf Risikotypen einzuschätzen, bietet der Wissenschaftsrat im Anhang seines Positionspapiers Fragen zur Selbsteinschätzung. Das reiche aber nicht, es brauche "Strukturen zur Risikobetrachtung", einrichtungsübergreifende Modelle sollten dabei geprüft werden.
Plattformen, Hubs
und Zuständigkeiten
Ein kluges Papier, das allerdings genau an den Stellen, wo es konkret wird, das föderale Systematisierungsproblem auch nicht lösen kann. Etwa wenn eine "Nationale Plattform für Wissenssicherheit" gefordert wird. Eine Plattform, die nicht Genehmigungsstelle sein soll, sondern Informationsdrehscheibe. Die staatliche, nachrichtendienstliche und wissenschaftliche Erkenntnisse zusammenführt. Die Forschende frühzeitig und unbürokratisch über Risiken informieren soll, um die geforderten verantwortungsbewussten Entscheidungen treffen zu können.
Nur: Wer soll diese Plattform einrichten, wo soll sie aufgehängt sein? Und: Braucht es dafür überhaupt eine neue Institution? Wie verhält sich eine solche Plattform etwa zum bestehenden DAAD-Kompetenzzentrum Internationale Wissenschaftskooperationen (KIWi), das DAAD-Präsident Joybrato Mukherjee wiederholt zum Ausbau angeboten hat? Oder zum gemeinsamen Ausschuss zum Umgang mit sicherheitsrelevanter Forschung von DFG und Leopoldina? Oder zu den Erkenntnissen der Geheimdienste? Offen. Nur dass es exakt diese Konkretisierungen sind, an denen die Systematisierung der deutschen Wissenschaftssicherheit bislang gescheitert ist.
Schüth sagt: "Der Bundesnachrichtendienst darf nicht KIWi oder den Gemeinsamen Ausschuss beliefern. Das ist ihm gesetzlich nicht möglich. Wir möchten eigentlich einen umfassenderen Zugang." Deshalb brauche es eine Bündelung und Verknüpfung "auf vernünftige Art und Weise".
Einfacher zu realisieren, dafür aber auch von geringerem praktischen Nutzen dürfte das strategische Dialogforum zur Verzahnung von Wissenschaft und Sicherheitspolitik sein, das der Wissenschaftsrat als angegliederten Teil des im schwarz-roten Koalitionsvertrag angekündigten Nationalen Sicherheitsrats im Bundeskanzleramt vorschlägt – für die Erarbeitung von Risikoanalysen und Identifikation sicherheitsrelevanter Forschungsbedarfe.
Um sicherheitsrelevante Forschung zu stärken, solle das fragmentierte Forschungsfeld besser integriert, und systemische Ansätze sollten gefördert werden, unterstützt durch Förderlinien und die Einrichtung eines "Synthesezentrums".
Spannend ist die Idee, verteilt über Deutschland und gegliedert nach Themenfeldern, sogenannte "Innovation Hubs" einzurichten, in denen besonders sensible Forschungsprojekte weiterentwickelt werden könnten – in zeitlich befristeten, themenbezogenen Kooperationen von Forschenden, unter besonderen Schutzvorkehrungen, mit sicherheitsüberprüftem Personal und kontrolliertem Zugang. Damit könne sicherheitsrelevante Forschung vorangetrieben werden, "ohne die Offenheit der Hochschulen zu gefährden", wie Schüth sagte. Eine zusätzliche Rolle für außeruniversitäre Forschungsinstitute von Fraunhofer oder Helmholtz? Auch hier vermeidet der Wissenschaftsrat eine Festlegung. Schüth verweist aber darauf, dass etwa die mit militärischer Forschung beauftragten Fraunhofer-Institute bereits über abgeschirmte Computersysteme, Zugangskontrollen und sicherheitsüberprüftes Personal verfügten.
Eine "konzertierte Aktion"
von Bund und Ländern
Apropos föderales Systematisierungsproblem: In seiner Stellungnahme zu den wissenschaftspolitischen Herausforderungen der kommenden Legislaturperiode nannte der Wissenschaftsratsvorsitzende Wolfgang Wick ebenfalls das Bund-Länder-Verhältnis als eine der Baustellen. Die föderale Kooperation müsse intensiviert werden. Nötig sei, so Wick, eine "konzertierte Aktion", insbesondere bei Bauinvestitionen, Digitalisierung und Sicherheitsforschung. Die bestehenden, teils veralteten oder bürokratisch entkoppelten Finanzierungsstrukturen müssten reformiert werden, um Investitionen wirkungsvoller umzusetzen.
Wie genau das gehen soll, sagte freilich auch Wick nicht. Immerhin aber spricht sich ja auch der Koalitionsvertrag für eine "echte Staatsmodernisierung" aus, inklusive einer "Neuordnung der föderalen Beziehungen". Schwarz-Rot hat dafür sogar den Job eines Staatsministers für Bund-Länder-Zusammenarbeit geschaffen – besetzt mit Michael Meister (CDU). Zum Glück als früherer parlamentarischer Staatssekretär im BMBF einer, der dabei die Wissenschaft mitdenken dürfte.
In Sachen "Nationale Plattform für Wissenssicherheit" verstärkte der DAAD unterdessen bereits seine Lobbyarbeit. Das Papier des Wissenschaftsrats sei richtungsweisend, "eine kluge Analyse zur richtigen Zeit", kommentierte DAAD-Präsident Mukherjee per Pressemitteilung. Darin werde das KIWi und dessen Beratungs- und Vernetzungsarbeit positiv hervorgehoben, der Wissenschaftsrat habe ja auch 2019 dessen Einrichtung empfohlen. Eine Nationale Plattform, "die bestehende Expertise und Strukturen – beispielsweise das KIWi und den gemeinsamen Ausschuss von Deutscher Forschungsgemeinschaft und Leopoldina – bündelt und vernetzt, wäre ein guter Weg, um den Wissenschaftsstandort Deutschland in geopolitisch turbulenten Zeiten und harter weltweiter Konkurrenz bestmöglich zu positionieren."
Hausaufgaben fürs Forschungsministerium
In seiner Stellungnahme zu den wissenschaftspolitischen Herausforderungen der kommenden Legislaturperiode hat der Vorsitzende des Wissenschaftsrats, Wolfgang Wick, ein deutliches Signal gesetzt. Der schwarz-rote Koalitionsvertrag setze ambitionierte Ziele – auch finanziell, auch wenn man nicht vergessen dürfe, so Wick, "dass dies jetzt schon die dritte Koalition ist, die sich ja einen F&E-Anteil von 3,5 Prozent am Bruttoinlandsprodukt vornimmt." Nötig seien tiefgreifende Reformen und strategische Weichenstellungen in vier systemischen Handlungsfeldern des Wissenschaftssystems.
So müsse die Zusammenarbeit zwischen Bund und Ländern besser und koordinierter werden – insbesondere mit Blick auf das 3,5 Prozent-Ziel. Wick forderte eine "konzertierte Aktion", etwa bei Bauinvestitionen, Digitalisierung und Sicherheitsforschung.
Zudem müsse Deutschland eine wissenschaftspolitische Führungsrolle in Europa übernehmen. "Europa ist wie ein schlafender Riese, der endlich wachgeküsst werden müsste – und vielleicht gerade wachgeküsst wurde", sagte Wick. Deutschland solle mit seinen EU-Partnern Exzellenz- und Innovationsökosysteme aufbauen und gezielt in Zukunftstechnologien investieren.
Ein dritter Schwerpunkt in Wicks Analyse lag auf den Hochschulen: Sie seien das "Rückgrat "der Gesellschaft – mit Breitenwirkung, regionaler Innovationskraft und demokratischem Auftrag. "Die Hochschulen müssen alle sozialen Schichten erreichen", sagte Wick. Transferleistungen müssten sichtbar sein und vor Ort demokratiestärkend wirken.
Besonders eindringlich sprach Wick über die Bedeutung der Wissenschaftsfreiheit. "Wir sollten die Wissenschaftsfreiheit als demokratischen Schutzschild begreifen und stärken. Demokratie und Wissenschaftsfreiheit bedingen sich gegenseitig." Es brauche eine Strategie, um Wissenschaftseinrichtungen gegen populistische Angriffe und demokratiefeindliche Einflussnahmen zu schützen. "Dazu gehört eine unmissverständliche Haltung gegen Wissenschaftsfeindlichkeit, die Stärkung transparenter Kommunikation, aber auch die Einbindung der Zivilgesellschaft in den Wissenstransfer."
Der Wissenschaftsratsvorsitzende hob die Rolle der Geistes- und Sozialwissenschaften hervor. Diese dürfe sich nicht auf das Erklären gesellschaftlicher Umbrüche beschränken – sie seien zentrale Akteure in deren Gestaltung. Nur wenn neue Technologien auch gesellschaftlich angenommen würden, seien sie langfristig erfolgreich.
Die Befürchtung, Bundesforschungsministerin Dorothee Bär (CSU) könne ihre Politik zu stark auf symbolträchtige Hightech-Projekte verengen, teile er nicht, sagte Wick. Entscheidend sei, dass Investitionen "systemisch entwickelt" würden – also über Leuchtturmprojekte hinaus auch Personal, Strukturen, Bau und Grundfinanzierung berücksichtigt würden. Der Erfolg auch von Hyperloop und Raumfahrt entschieden sich am Ende daran, inwiefern sie "gesellschaftlich mitgetragen" würden.
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