Direkt zum Inhalt

Karlsruhe hat nichts gegen die Viertelparität – aber

Das Bundesverfassungsgericht entscheidet nach sechs Jahren über die Verfassungsbeschwerde Thüringer Professoren. Wie die Richter an der Professorenmehrheit festhalten und der Hochschulpolitik dennoch Gestaltungsspielraum geben.
Screenshot Bundesverfassungsgericht

Bild: Screenshot von der Homepage des Bundesverfassungsgerichts.

"KARLSRUHE, BITTE URTEILEN", kommentierte ich im Mai 2019, und dabei ging es mir weniger um juristische Feinschmeckerei als um die Aussicht auf eine hochschulpolitische Weichenstellung.

Eigentlich war der Konflikt um die sogenannte Viertelparität an Hochschulen zu dem Zeitpunkt längst entschieden, durch ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr 1973. Doch hatte es in den Zehnerjahren Anzeichen gegeben, dass man in Karlsruhe zu einer Neuinterpretation bereit sei. Wenn sich denn die Gelegenheit dazu böte.

Und Thüringen bot die Gelegenheit. Mit einer Reform des Hochschulgesetzes, die die Machtverhältnisse in den hochschulischen Entscheidungsprozessen neu ordnete. Worauf 32 Professorinnen und Professoren Verfassungsbeschwerde erhoben.

Sechs Jahre vergingen, bis Karlsruhe den Beschluss fasste, veröffentlicht wurde er vergangene Woche. Doch der fällt weniger radikal aus, als manche Beobachter, mich eingeschlossen, es sich erhofft hatten. Und doch in etwa so, wie es realistischerweise zu erwarten stand. Keine Neuinterpretation, aber eine Erweiterung der Entscheidung von 1973.

Der Ausgangspunkt in Thüringen

Der Reihe nach. 2017 machte die damalige rot-rot-grüne Landesregierung in Erfurt deutlich, dass sie die tradierten Strukturen der Hochschulselbstverwaltung nicht einfach fortschreiben wollte. Im Interview hier im Wiarda-Blog erklärte Wolfgang Tiefensee (SPD), zu dieser Zeit Thüringer Wissenschaftsminister, man wolle bei der anstehenden Novellierung des Hochschulgesetzes die Demokratie an den Hochschulen stärken und die Zusammenarbeit der Statusgruppen verbessern. Tiefensee sprach ausdrücklich davon, das "konfrontative Denken" zwischen Professorenmehrheit und anderen Gruppen zu überwinden. Mit der Einführung der Viertelparität. Die Professorenmehrheit stellte er dabei nicht grundsätzlich infrage – wohl aber die politische Selbstverständlichkeit, mit der sie, wie er sagte, oft als Abwehrargument gegen jede Reform eingesetzt werde.

Spätestens an dieser Stelle müssen beide Begriffe erklärt werden: Professorenmehrheit und Viertelparität. Die Festschreibung der Professorenmehrheit war das zentrale Ergebnis des Karlsruher Hochschulur­teils von 1973. Aus der Wissenschaftsfreiheit des Grundgesetzes leitete das Bundesverfassungsgericht ab, dass Professorinnen und Professoren für Forschung und Lehre eine besondere Verantwortung trügen – und deshalb in Senaten, Fakultätsräten und weiteren Gremien bei allen wissenschaftsrelevanten Entscheidungen mindestens die Hälfte der Stimmen haben müssten. Sobald die Forschung betroffen ist, sogar mehr als die Hälfte. Diese Vorgabe wurde zur verfassungsrechtlichen Leitplanke der deutschen Hochschulverfassung.

Die Viertelparität beschreibt dagegen ein seit Jahrzehnten diskutiertes Gremienmodell, in dem alle vier Statusgruppen einer Hochschule – Professorinnen und Professoren, wissenschaftliche Mitarbeitende, Studierende sowie Beschäftigte in Technik und Verwaltung – jeweils ein Viertel der Stimmen erhalten. Sie versteht Hochschule als gemeinsame Organisation und zielt auf mehr demokratische Beteiligung. Kritiker sehen darin einen Bruch mit der professoralen Verantwortung, Befürworter eine zeitgemäße Form geteilter Zuständigkeit.

Thüringen hat mit seinem Hochschulgesetz versucht, beide Logiken zusammenzubringen – und ist damit bewusst an die Grenze des geltenden Verfassungsrechts gegangen. Konkret: eine Viertelparität in den zentralen Gremien, aber bei allen Entscheidungen, die Forschung und Lehre unmittelbar betreffen, wurde eine professorale Stimmenmehrheit sichergestellt. Rot-Rot-Grün versuchte nicht, die Entscheidung von 1973 frontal zu ignorieren, sondern deren Spielräume politisch auszuloten.

Die Verfassungsbeschwerde

Genau das machte das Gesetz interessant – und angreifbar. Kurz nach Inkrafttreten reichten die 32 Thüringer Hochschullehrer ihre Verfassungsbeschwerde ein. Sie argumentierten, das Gesetz verletze ihre durch Artikel 5 Absatz 3 des Grundgesetzes geschützte Wissenschaftsfreiheit. Die Viertelparität im Senat führe dazu, dass Professoren bei wissenschaftsrelevanten Entscheidungen überstimmt werden könnten. Damit, so die Kläger, werde die aus dem Grundgesetz abgeleitete professorale Verantwortung für die Wissenschaftsfreiheit von Entscheidungsmacht entkoppelt.

Wie aber war das Urteil von 1973 überhaupt gemeint, auf das sich auch die Thüringer Kläger bezogen? Es war selbst Ergebnis eines massiven Konflikts, an den der frühere Berliner Wissenschaftsstaatssekretär und spätere GWK-Generalsekretär Hans-Gerhard Husung (SPD) in einem Gastbeitrag hier im Blog erinnerte: 398 Professorinnen und Professoren hatten gegen das sogenannte niedersächsische Vorschaltgesetz von 1971 geklagt, das Mitbestimmung und demokratische Elemente in der Hochschule stärken sollte und einen beispiellosen Widerstand auslöste.

Karlsruhe entschied zugunsten der Professorenschaft und formulierte den bis heute maßgeblichen Grundsatz der Professorenmehrheit. Mit weitreichenden Folgen, wie Husung ausführte: Der Beschluss stabilisiert eine Struktur, die den Schutz der Wissenschaftsfreiheit stets mit der Sicherung der Professorenmehrheit in den Hochschulgremien gleichsetzt. Womit jegliche Reformen der Hochschul-Governance stets angreifbar und umstritten sind, während der Status quo als verfassungsrechtlich abgesichert gilt.

Genau an diese Interpretation von Wissenschaftsfreiheit – nicht als offenes Gestaltungsprinzip, sondern als konservierender Rahmen – setzte auch der frühere niedersächsische Staatssekretär Josef Lange (CDU) mit seiner Kritik an. Das Karlsruher Urteil von 1973 habe aus einer Funktionsbeschreibung eine Organisationsnorm gemacht, sagte er im Interview hier im Blog. Es könne nicht sein, dass die Hochschulen nur "von der Gruppe von Professoren regiert werden, die sich auf die Professorenmehrheit im Senat berufen und nicht realisieren, dass moderne Hochschulen – schon von der Zahl der in der und für die Wissenschaft Tätigen her – Großbetriebe sind und keine Gelehrtenakademien des 19. Jahrhunderts".

Hinweise auf Bewegung in Karlsruhe

Doch sah auch Lange Anzeichen, dass das Bundesverfassungsgericht bereit zu einer Weiterentwicklung der eigenen Rechtsprechung sei, und dieses Anzeichen hatte wiederum mit einem niedersächsischen Fall zu tun. 2014 hatte sich das Bundesverfassungsgericht zur Governance der Medizinischen Hochschule Hannover (MHH) geäußert und eine weitreichende Stärkung der Gremien gegenüber dem Präsidium verfügt. Dabei hatten die Richter den Kreis der Träger der Wissenschaftsfreiheit erkennbar weiter gefasst: nicht mehr nur Professorinnen und Professoren, sondern auch "Wissenschaftler" und "in der Wissenschaft Tätige". Und das, argumentierte Lange, sei nur logisch: "Denn die individuelle Wissenschaftsfreiheit, die das Grundgesetz garantiert, gebührt nicht nur den Professoren, sondern allen, die eigenständig und eigenverantwortlich Wissenschaft betreiben."

"Karlsruhe, bitte urteilen", schrieb ich also 2019 zur Thüringer Verfassungsbeschwerde, und genau das hat Karlsruhe nun getan. Wie weit reicht nach heutigem Verständnis des Bundesverfassungsgerichts die professorale Mehrheit – und wo beginnt der legitime Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers?

Die Antwort in kurz: Karlsruhe hält am Grundsatz von 1973 fest – aber. Die besondere Verantwortung der Professorenschaft für die Freiheit von Forschung und Lehre bleibt der zentrale Bezugspunkt. Wo Entscheidungen diesen Kern betreffen, darf der Gesetzgeber keine Strukturen schaffen, in denen Professorinnen und Professoren einer nichtprofessoralen Stimmenmehrheit gegenüberstehen. Insofern bestätigt das Gericht die bisherige Ordnung ausdrücklich.

Differenzierung statt Neubewertung

Gleichzeitig wiesen die Richter die Beschwerde der 32 Profs überwiegend zurück. Genau hier liegt das hochschulpolitische Potenzial der Entscheidung, denn das Gericht differenzierte: Nicht jede Entscheidung eines Hochschulgremiums berühre automatisch den Kernbereich der Wissenschaftsfreiheit. Der Gesetzgeber verfüge über Gestaltungsspielräume, insbesondere bei Organisations-, Koordinations- und Verwaltungsfragen. Die Viertelparität ist demzufolge nicht grundsätzlich verfassungswidrig. Sie wird laut Gericht erst dort problematisch, wo sie in wissenschaftsrelevanten Angelegenheiten die effektive Durchsetzungsmacht der Professorenschaft unterläuft.

Diese Differenzierung bleibt im Urteil nicht abstrakt. Das Bundesverfassungsgericht schaut konkret auf die Thüringer Regelungen und beanstandet sie dort, wo sie diese Grenze nach seiner Auffassung überschreiten. Wirklich kritisch sehen die Richter eigentlich nur die Regel, dass Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in Technik und Verwaltung bei wissenschaftsrelevanten Entscheidungen genauso viele Stimmen haben wie Studierende oder akademische Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Das ermögliche bei wissenschaftsrelevanten Entscheidungen eine "nicht unerhebliche wissenschaftsfremde Einflussnahme".

Besagte Stimmengleichheit muss der Thüringer Landtag nun bis spätestens März 2027 ändern oder klarer regeln, dass Gremienvertreter der Mitarbeiter in Technik und Verwaltung jeweils "eine qualifizierte Beziehung zum Wissenschaftsbetrieb" aufweisen. Thüringen darf also an seinem Reformansatz festhalten, muss ihn aber rechtstechnisch enger führen.

Spielräume, die es politisch zu füllen gilt

Das Urteil ist insofern kein Durchbruch und kein Rollback. Es öffnet Spielräume, ohne sie politisch zu füllen. Was das bedeuten könnte, zeigt sich exemplarisch an der TU Berlin. Dort ging es nach jahrelangem Streit zuletzt nur noch um den Plan, eine Viertelparität im Wahlkonvent bei Präsidiumswahlen einzuführen.

Doch dem diesbezüglichen Passus in der neuen Grundordnung der Universität versagte die zuständige Senatsverwaltung für Wissenschaft im Frühjahr vorerst die Genehmigung. Man wolle wegen verfassungsrechtlicher Bedenken erneut prüfen, hieß es mit Verweis auf eine Beschwerde von Professorinnen und Professoren. Das Ergebnis nach mehr als einem halben Jahr: offen.

Vielleicht ja nicht mehr lange, nachdem das Bundesverfassungsgericht zur Thüringer Reform gesprochen hat – und die Viertelparität-Variante der TU womöglich gutheißen würde. Denn sie sieht zugleich vor, dass der viertelparitätische Wahlkonvent nur über Wahlvorschläge entscheiden dürfte, die zuvor mit Professorenmehrheit im Akademischen Senat abgesegnet worden sind.

Doch ganz gleich, welche Konsequenzen man in Berlin zieht: Die politische Frage, die Thüringen so deutlich wie lange nicht mehr gestellt hat, bleibt auch nach dem jüngsten Beschluss des Bundesverfassungsgerichts unbeantwortet. Ob eine Hochschulverfassung, deren Leitplanken aus einer gesellschaftlich-politisch anderen Zeit stammen, den heutigen Hochschulen noch gerecht wird. Oder ob sie vor allem eines tut: Veränderung verlangsamen, mutige Reformen verhindern. Karlsruhe hat gesprochen. Die Debatte ist neu verortet. Beendet ist sie nicht. JMW.

Kommentare

#1 -

Günter Tolkiehn | Di., 16.12.2025 - 00:43

Seit über 30 Jahren hat die deutsche Hochschulpolitik systematisch fortschreitend den gewählten Gremien (auch deren Professorenmehrheit) per Gesetz praktisch alle Entscheidungs- und Gestaltungsbefugnisse entzogen um sie den Exekutivorganen oder hochschulexternen Stellen zu übertragen. Das BVerfG wurde bei diesem Prozess vielfach angerufen, hat aber die Verzwergung der gewählten Organe an sich nie in Frage gestellt, sondern allenfalls gelegentlich einzelne Details beanstandet. In Brandenburg hatte das (nicht etwa die Professorenmehrheit) am Ende zur Folge, dass mancherorts keine Studierenden mehr kandidieren wollten - wozu auch? Damit waren dann die betroffenen Gremien rechtswidrig zusammengesetzt und nicht mehr beschlussfähig. Dieses Problem wurde gesetzlich gelöst: Mittlerweile sind in Brandenburg studentische Vertreter in den Gremien nur noch eine Option.
Andere Verhältnisse der Statusgruppen in Gremien ohne Entscheidungsbefugnisse würden ihre gewollte Bedeutungslosigkeit nicht ändern. 

#2 -

René Krempkow  | Di., 16.12.2025 - 08:14

Lieber Herr Wiarda, 

bedeutet das neuere BVerfG-Urteil nun, dass die Lesart von Wissenschaftler:innen als Grundrechteträger:innen, wie sie auch schon der Verfassungsrechtler Lothar Zechlin ausführlich argumentativ darstellte, nicht weiter ausgestaltet oder gar wieder zurück gedrängt wurde? Dies ist mir leider noch nicht klar geworden.

Mitglied seit

11 Monate

#2.1 -

jmwiarda Di., 16.12.2025 - 08:21

Antwort auf von René Krempkow (nicht überprüft)

Lieber Herr Krempkow,

ich verstehe den Beschluss so, dass es hier nicht weiter voranging. Wie ich schreibe: Kein Durchbruch, kein Rollback. Ein Zurückdrängen gegenüber der MHH-Entscheidung sehe ich nicht. Interessant ist, dass Studierende explizit der Wissenschaftsseite zugeordnet werden und ihre Beteiligung laut Gericht die Ausübung des Grundrechts nicht gefährdet, wohl aber die Beteligung nicht-wissenschaftlicher Mitarbeitender, da dadurch die "Möglichkeit nicht unerheblicher wissenschaftsfremder Einflussnahme eröffnet" werde... 

Viele Grüße
Ihr Jan-Martin Wiarda

Neuen Kommentar hinzufügen

Ihr E-Mail Adresse (wird nicht veröffentlicht, aber für Rückfragen erforderlich)
Ich bin kein Roboter
Geben Sie die Zeichen ein, die im Bild gezeigt werden.
Diese Sicherheitsfrage überprüft, ob Sie ein menschlicher Besucher sind und verhindert automatisches Spamming.