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Wieder Politik für die Mehrheit machen

Was sich aus der AfD-Schlappe in Hamburg lernen lässt – und was das für die Reform der Schuldenbremse bedeutet. Ein Kommentar.

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Artikelbild: Wieder Politik für die Mehrheit machen

Bild: Keith Johnston / Pixabay.

GERN WIRD MIT DEN AFD-WAHLERFOLGEN in Thüringen, Sachsen oder anderswo im Osten argumentiert, wenn es heißt, die Politik müsse wieder mehr auf die echten Sorgen der Menschen hören. Nach den Bürgerschaftswahlen in Hamburg, bei denen die Partei von Alice Weidel und Bernd Höcke gerade einmal 7,5 Prozent eingefahren hat, schlagen kluge Leute vor, dass wir genauso auf die Botschaft der Wähler in der Hansestadt achten sollten.

Das alles beherrschende Thema im Bundestagswahlkampf war die angeblich außer Kontrolle geratene Migration. Sicherlich nicht für alle AfD-Wähler der ausschlaggebende Grund, hier ihr Kreuzchen zu machen, aber für die große Mehrheit schon. Und Motivation für die Union, Ende Januar ihren "Fünf-Punkte-Plan" und das "Zustrombegrenzungsgesetz" im Bundestag zur Abstimmung zu stellen.

Was aber bedeutet es nun, wenn in Hamburg rund 35 Prozent der Einwohner aus Einwandererfamilien stammen, in Thüringen, wo die AfD mit 38,6 Prozent das beste Bundestagswahl-Ergebnis aller Bundesländer erreichte, aber nur neun Prozent? Provozierend könnte man schlussfolgern, dass diese neun Prozent in Thüringer reichlich viel Ärger machen müssen im Vergleich zu den anteilig viermal so vielen Migranten in Hamburg.

Aber im Ernst: Vielleicht haben die AfD-Wahlerfolge am Ende doch weniger mit real existierenden Missständen zu tun und viel mehr mit den von Rechtsaußen stammenden, aber längst in die Mitte der Gesellschaft eingesickerten Narrativen? Und wenn das so ist, rechtfertigt das eine Reaktion demokratischer Parteien, die so tut, als seien nicht nur die Sorgen der Menschen real, sondern auch die ihnen zugrunde liegenden Narrative?

Jüngere Frauen in Städten wählen nur zu neun Prozent AfD

Die Hamburger Wahlen zeigen, dass gerade dort, wo Menschen täglich mit der Einwanderungsgesellschaft konfrontiert sind, die Ängste vor deren Auswirkungen viel geringer ausfallen. Wie sonst ließe es sich erklären, dass nur neun Prozent der jüngeren Frauen in Städten AfD gewählt haben, obwohl sie doch, stimmten die von Rechtsaußen verbreiteten Stereotype, am meisten unter der Gefährdung leiden sollten? Zum Vergleich das AfD-Wahlergebnis bei älteren Männern auf dem Land: 18 Prozent.

Wenn sich Union und SPD bei ihren Gesprächen über den "richtigen" Umgang mit Migration unterhalten, dann sollten sie daher drei Schlussfolgerungen ziehen. Erstens: Änderungen in der Migrationspolitik an den Stellen, wo sich tatsächlich Probleme feststellen, beschreiben und messen lassen (und die gibt es, vor allem bei der Konsequenz im Verwaltungshandeln). Nebenbei gesagt würden die dann ergriffenen Maßnahmen mit hoher Wahrscheinlichkeit verfassungs- und europarechtskonform sein.

Zweitens: Ein entschiedenes Plädoyer für das Einwanderungsland Deutschland, weil nur mit genügend Einwanderung die wirtschaftliche und soziale Zukunft der Bundesrepublik gesichert ist. In normalen Zeiten würde man zusätzlich den enormen kulturellen und menschlichen Gewinn herausstellen, den Einwanderung für unsere Gesellschaft bedeutet. Und drittens: Massive Investitionen in unsere Kitas, Schulen und Freizeiteinrichtungen, und zwar dort am meisten, wo die sozialen Herausforderungen am größten sind – um Integration nicht nur zu fordern, sondern auch zu fördern. So würde man bei der Einwanderung dem Angst-Narrativ ein Aufbruchs-Narrativ entgegenstellen. Nachdem sich Union und SPD auf eine Reform der Schuldenbremse geeinigt haben, würde ein solches Szenario zumindest am Geld nicht mehr scheitern.

Wem es schadet, wenn das Thema Migration nur eine untergeordnete Rolle spielt

Fast noch wichtiger: Eine Politik, die erfolgreich ist und die Wähler vom rechten Rand zurückholt, ist eine, die Migration nicht als DAS Problem schlechthin behandelt, sondern als ein Thema – Chance und Herausforderung – unter verschiedenen. Denn auch wenn Migration das alles beherrschende Thema im Wahlkampf der Parteien war, in der Wahrnehmung der Bevölkerungsmehrheit waren andere Felder laut ZDF-Politbarometer wichtiger: Frieden/Sicherheit, Wirtschaft, soziale Gerechtigkeit und erst dann – mit weitem Abstand – Flüchtlinge/Asyl. Hinzu kommt: "Es schadet der AfD, wenn Migration nur eine untergeordnete Rolle spielt", kommentierte der Politikwissenschaftler Kai-Uwe Schnapp im Spiegel die Hamburg-Wahl.

Wir sollten nicht vergessen: 79 Prozent der Menschen, 82 Prozent in Westdeutschland und 68 Prozent in Ostdeutschland, haben trotz aller von Weidel, Höcke und Co betriebenen Polarisierung bewusst nicht die AfD gewählt. Für mich bedeutet das: Die allermeisten von ihnen sind offen für Lösungen, die sich an den Fakten orientieren. Vielleicht wäre es wirklich wieder einmal an der Zeit, Politik für die Mehrheit der Menschen in Deutschland zu machen.

Dieser Kommentar erschien zuerst im kostenfreien Wiarda-Newsletter.

Kommentare

#2 -

Leif Johannsen | Fr., 07.03.2025 - 09:31
Ich denke, dass das, was wir in der Wahlkampfzeit auf unruehmliche Weise erlebt haben, die deutsche Variante eines Modus war, den man vom britischen (first-past-the-post) jedoch insbesonders vom amerikanischen (winner-take-all) Wahlsystem her kennt: anders ausgedrueckt eine Fokussierung auf die (mitunter wenig rationalen und mehr emotionalen) Themen der "Wechselwaehler" in den sogenannten "swing states". Als das Narrativ von der "Zuwanderungskatastrophe" Fuss zu fassen schien, hat dann wohl ein Herdentrieb bei CDU/CSU, SPD, GRUENE, FDP eingesetzt (fear-of-missing-out). Als Resultat des vergifteten Diskursklimas sind dann wohl bei einigen besonders labilen Individuen, die sich als Opfer der Debatten fuehlen konnten, beispielsweise geduldete aber ausreisepflichtige Asylbewerber, die "Sicherungen durchgebrannt" mit den bekannten tragischen Konsequenzen (aka complex responsive process). Das kann man dann auch eine "sichselbsterfuellende Prophezeiung" nennen. Dass die AFD diesen Mechanismus der Rueckkoppleung mit immer schrilleren Toenen ausnutzen wuerde, konnte man ausserdem absehen.
P.S.: hinsichtlich des juengsten Vorfalls in Mannheim plaediere ich fuer einen "kill-switch" in allen KFZ, der dafuer sorgt, dass Autos an der Grenze zu Bereichen stehenbleiben, wo sie nicht hin sollen (Fussgaengerzonen etc.; z.B. ueber ein Funksignal). Sollte nicht schwerer zu implementieren sein als moderne Assistenzsysteme.

#4 -

Leif Johannsen | Fr., 07.03.2025 - 11:52
Eine "Orchestrierung" irgendeiner Art schliesst sich ja nicht aus. Ich denke aber weniger in der Form von "instruierten Schlaeferagenten" als in der Form von "nuetzlicher Idiot, dem man die timeline zusch..sst" (pardon my french) bis er ausflippt. Jedenfalls hoffe ich, dass da entsprechende Experten der Sicherheitsbehoerden wachen Auges sind (oder herrscht da auch Fachkraeftemangel?).

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