Der Pessimismus der Apparate
Friedrich Merz rief in Saarbrücken zum Aufbruch auf. Doch schon der Blick in die Bildungspolitik zeigt: Erst wenn die politische Klasse den Glauben an die eigene Wirkmacht zurückgewinnt, kann aus seinem Appell mehr werden als eine Mut-Rede.
Symbolbild: freepik.
ZUR RUCK-REDE fehlten Pathos und Nachdruck – eine Mut-Rede war es aber schon, die Friedrich Merz zum 3. Oktober in Saarbrücken hielt. "Lassen wir uns nicht von Angst lähmen. Wagen wir einen neuen Aufbruch!", rief der Bundeskanzler seinen Zuhörern und dem Land zu. "Erinnern wir uns auch an die Zuversicht, mit der unsere ostdeutschen Landsleute vor 35 Jahren ihren Aufbruch wagten. Erinnern wir uns, wie viel Kraft ein positiver Geist freisetzen kann – und wie viel Energie verschwendet und vergeudet wird durch Pessimismus und Larmoyanz."
Schulen und Hochschulen, Bildung und Wissenschaft kamen gleich mehrfach vor in Merz‘ Beschwörung von Freiheit, Fortschritt und Zusammenhalt. Als Orte, wo die Grundrechte gelebt werden, als Stätten des "dauernden Gespräch miteinander" – und am stärksten ausgerechnet an der Stelle, wo der Bundeskanzler sie nicht einmal explizit nannte: "Wir sind ein Land, das immer stark war im Erfinden. Wir können Technologie. Wir können Qualität. Wir können Innovation."
Und weiter: Alle sollten sich entfalten und ihre Kreativität zeigen können. "Nur daraus wächst wirtschaftliche Stärke und Wohlstand, und nur so gewinnen wir auch die Mittel, um mit den Schwächeren in unserem Land solidarisch zu sein."
Schon an dieser Stelle konnte man ahnen, dass Merz mit seiner Mut-Rede nicht nur ein Gefühl ansprechen wollte, sondern den Anspruch, das Land aus seiner Selbstlähmung zu führen. Doch wer sollte dieses "Wir" eigentlich sein, das den Aufbruch wagt?
Es sind gar nicht die Bürger
Je länger ich dem Bundeskanzler zuhörte, desto stärker drängte sich mir eine Frage auf: Sprach Merz zu den richtigen Adressaten? Oder anders formuliert: Fühlten sich die richtigen Adressaten tatsächlich von ihm angesprochen?
Das präsidiale "Wir" seiner Rede war so umfassend wie unbestimmt. Es richtete sich an die "sehr geehrte(n) Bürgerinnen und Bürger hier im Saal und im ganzen Land". Nur dass ich glaube, dass deren Pessimismus und Larmoyanz gar nicht das eigentliche Problem sind. Das eigentliche Problem begegnet mir in den vielen Gesprächen mit Ministern, Staatssekretären und Ministerialbeamten – nicht nur, aber vor allem in der Bildungspolitik. Ihr Pessimismus ist über weite Strecken derart ausgeprägt, derart verhärtet, dass sie, ohne sich am Riemen zu reißen, nicht in der Lage sein werden, das Land aus der Krise zu führen. Auch nicht im Bildungswesen, wo die lähmende Wirkung dieses Denkens besonders deutlich zutage tritt.
Ich will das anhand der Schulpolitik erklären: Nach einigen Jahren beherzter Reformen nach dem PISA-Schock von 2001 bildete sich ein parteiübergreifender Konsens heraus, man habe Schulen, Lehrkräfte und Familien genug zugemutet – und solle sie besser mal in Ruhe lassen.
Als zu Beginn der Zehnerjahre die bundesweiten Schülerleistungen nach einem zwischenzeitlichen Anstieg zunächst stagnierten und dann in einen Sinkflug übergingen, der bis heute anhält, führte das nicht etwa zu einem Umdenken, sondern zur noch stärkeren Zurückhaltung. Nur nicht an den Grundfesten rühren, keine Gegenwehr riskieren, vor allem nicht im Bildungsbürgertum, lieber beschwichtigen, um den Kern herumreden.
Keine Gegenwehr riskieren: Vor über 20 Jahren ging es beherzt los mit dem ersten milliardenschweren Ganztagsschulprogramm. Doch anstatt das weltweit nahezu einzigartige Halbtagsschulsystem der deutschsprachigen Länder durch eine möglichst flächendeckende Ganztagsvariante zu ersetzen, wurde seitdem mit kaum qualitätsgesicherten offenen Ganztagsangeboten gekleckert.
Beschwichtigen: Das auf acht Jahre verkürzte Gymnasium wurde vielerorts auf wieder auf neun verlängert, obwohl laut Bildungsforschung keinerlei Evidenz für die Sinnhaftigkeit einer solchen Maßnahme existierte.
Um den Kern herumreden: Dass vor allem viele Einwandererkinder zu den Bildungsverlierern gehörten, wurde anerkannt und diskutiert, aber die eigentliche Ursache ausgeblendet. Ein Schulsystem, das darin versagte, bessere Leistungen zu erzeugen, und es zugleich kaum schaffte, sozial inklusiver zu werden.
Die verlorene Überzeugung der Bildungspolitik
So entstand ein Politikstil, der Risiken meidet und lieber den Status quo verwaltet, als neue Wege zu suchen.
Und während die ganze Problemfülle gekippter Sozialräume in die Schulen hineinwirkte, brachten Bund und Länder zwar ein Startchancen-Programm auf den Weg, das erstmals, obgleich nur in Ansätzen, bildungsbenachteiligte Schüler stärker fördert. Das Ganze allerdings begleitet von einem föderalen Gefeilsche, das die Großartigkeit dieses Ansatzes gleich wieder hinter dem üblichen Klein-Klein verbarg.
So oft die Politik zuletzt die Bedeutung bildungswissenschaftlicher Erkenntnisse betonte und sie zur Grundlage ihres Handelns erklärte, so selten verfuhr sie praktisch danach. Wie sonst wäre etwa zu erklären, dass die allermeisten Maßnahmen der Kinder-, Jugend- und Schulpolitik immer noch beschlossen, beibehalten oder abgeschafft werden, ohne sie je vernünftig evaluiert zu haben? Und dass der Übergang von Kita zur Schule entscheidend ist für Bildungskarrieren, mag jetzt nach vielen Jahren immerhin dazu führen, dass Vorschulkinder überall zum Sprachtest müssen, aber wo sind abseits davon die institutionenübergreifenden Strategien und Konzepte?
Eine kurze Aufzählung nur, aus der vor allem eines riecht: die verlorengegangene Überzeugung weiter Teile der Politik von ihrer eigenen Wirkmächtigkeit. Die Verantwortlichen glauben seit Jahren immer weniger daran, wirklich etwas Tiefgreifendes ändern zu können. Schlimmer noch: Mit den zunehmenden Wahlerfolgen von Rechtsaußen nahm die Ängstlichkeit weiter zu. Nur keine Flanke aufmachen. Doch eine solche Haltung ist die gefährlichste Flanke von allen.
Deutschland verstößt mit seinem Sonderschul-System fortwährend gegen die UN-Behindertenrechtskonvention – trotzdem werden weiter neue Förderschulen gebaut, wie sollte es auch anders gehen? Mit massiven Investitionen ins Bildungssystem zur Weltspitze aufstoßen – woher in einer alternden Gesellschaft das Geld nehmen? Und überhaupt: Dafür wäre doch gar nicht das Personal da.
Und was das leidige Ganztagsschul-Thema angeht: Alles richtig, sagt ein Kultusminister, aber die Initiative dafür müsse von anderen kommen.
Vielleicht sind einige Bildungspolitiker vor dem Hintergrund ganz froh, dass sich die Öffentlichkeit kaum noch für die alltägliche Schieflage an den Schulen zu interessieren scheint, solange es dort keine Gewalt, keinen Aufruhr gibt – und lieber über mögliche Social-Media-Verbote für Minderjährige diskutiert, die pädagogisch so zweifelhaft wie praktisch nicht durchsetzbar wären.
Ein Muster über alle Politikfelder hinweg
Die Gründe für den fehlenden Glauben der Bildungspolitik an die eigene Selbstwirksamkeit mögen vielfältig sein, doch der Föderalismus gehört nicht dazu. Denn in anderen Politikfeldern, etwa der stärker durch Bund-Länder-Zusammenarbeit geprägten Wissenschaftspolitik oder gar der Innovationsförderung, sieht es kaum besser aus.
Beispiel Ministeriumsumbau: Der schwarz-rote Koalitionsvertrag hatte mutig die Neuordnung der Zuständigkeiten zwischen dem Forschungs- und Wirtschaftsministerium vorgegeben. Doch angeführt von Neu-Wirtschaftsministerin Katherina Reiche (CDU) verhandelten die Ministerialbeamten den Umbau so lange klein, bis von der Vereinigung der Wissenschafts-, Technologie- und Innovationspolitik im neuen BMFTR nur ein Rumpf übrig blieb – und die vage Hoffnung, über eine neue interministerielle Arbeitsgruppe den Aufbruch organisieren zu können – jenen Aufbruch, den Bundeskanzler Merz so emphatisch forderte, und den er zugleich beim Umbau der Ministerien durch fehlende Führungsstärke selbst blockierte.
Am Ende stelle man sich vor, die Bürgerinnen und Bürger wollen den mutigen Umschwung, sie wollen die Veränderung. Doch die Politik, die ihn liefern müsste, traut sich diese längst nicht mehr zu – aus Angst vor den Protesten einzelner Interessengruppen, gefangen in eingefahrenen Gedankenschablonen, Verfahren und Strukturen. Zu sehr beschäftigt mit den immer gleichen Revierkämpfen, ausgetragen zwischen einem Silo und dem nächsten. Wie könnten, wie können wir da rauskommen?
Ich glaube, nur durch einen Dreiklang:
Erstens Selbsterkenntnis: Wer Verantwortung trägt in Bund, Land und Kommunen, muss sich seiner eigenen Beschränkungen bewusst sein, aber auch der eigenen Selbstblockade. Und dann anfangen, statt nach Ausreden nach Gelingensmöglichkeiten zu suchen. Viele tun das bereits. Viele aber eben auch nicht.
Zweitens der große Wurf: Aufbruch gelingt nur dem, der große Würfe verfolgt und für möglich hält. Dazu gehört der Mut, öffentlich ambitionierte Ziele zu formulieren und zu ertragen, wenn es Spott und Gegenwehr gibt. Wer der Wissenschaft zuhört, wird nicht nur in der Bildungsforschung genug große Würfe mit Realisierungspotenzial finden.
Drittens schnelle Erfolge: Es braucht Flaggschiffprojekte, ausgestattet mit Meilensteinen, die rasch zeigen, dass man sich auf den Weg gemacht hat, dass der Mut zur Veränderung funktioniert.
Auch das ist der Politik durchaus bewusst, und genau solche Projekte glaubte ich etwa in den Grundzügen der "Hightech-Agenda Deutschland" von Forschungsministerin Dorothee Bär zu erkennen. Umso frustrierender, dass sie sich mit dem in Teilen gescheiterten Ministeriumsumbau wichtige Instrumente aus der Hand nehmen lassen. Aber hier sind, so hoffe ich immer noch, das Narrativ und der Ehrgeiz der Ministerin am Ende größer als die Widerstände. Wir werden sehen.
Der Mut zur eigenen Wirkmacht
An anderer Stelle scheint der Ressortumbau besser zu gelingen, und genau das löst bei mir eine gewisse Hoffnung aus. Das neue Bundesministerium für Bildung, Familie, Senioren, Frauen und Jugend – BMBFSFJ – führt erstmals frühkindliche und schulische Bildung unter einem Dach zusammen. Wie passend, dass der Koalitionsvertrag eine Erweiterung des Startchancen-Programms auf die Kitas versprach. Jetzt muss sie nur auch kommen. Wenn der politische Wille anhält, könnte Schule so erstmals als Teil eines größeren Sozialraums gedacht und der Ganztag aus einer Hand organisiert werden.
Den politischen Willen kann man BMBFSF-Hausherrin Karin Prien nicht absprechen, ebenso wenig ihre günstige Startposition: Als frühere Landesbildungsministerin verfügt sie über gute Drähte in die Länder. Auch da wird der Honeymoon irgendwann vorbei sein, siehe etwa die schwierige Genese des Digitalpakts 2.0. Aber helfen könnte, dass bereits Anfang des Jahres drei Landesministerinnen mit ihrem vielbeachteten Impuls "Bessere Bildung Bildung 2035" genau die ambitionierten Ziele für einen großen Wurf in der Bildung formuliert hatten. Eine von ihnen war Karin Prien. Was allerdings noch fehlt, ist die konkrete Strategie, dorthin zu kommen. Und hier hängt die Ministerin wieder von der empfundenen Selbstwirksamkeit der Apparate – ihres eigenen eingeschlossen – ab.
Denn am Ende gilt: Die Muster ähneln sich – egal ob in der Bildung, der Wissenschaft oder anderswo.
Was wir jedenfalls nicht mehr brauchen, und das gilt für die Bildung, Wissenschaft und für alle anderen Politikbereiche, sind Ministerialbeamte und Minister, die sagen, so schlecht sei die Lage ja nun auch wieder nicht. Die erklären, dass die Dinge halt so hochkomplex heutzutage seien und die Stellschrauben so mannigfaltig, dass man nur noch in kleinen Schritten vorankomme. Denn diese kleinen Schritte waren in den vergangenen Jahren allzu oft Stillstand – weil das große Ziel dahinter fehlte.
"Lassen wir uns nicht von Angst lähmen": Merz‘ Rede in Saarbrücken klang wie ein Appell an die Nation. Tatsächlich aber wäre es schon ein Fortschritt, wenn die Politik selbst sich von dieser Angst befreite.
Kommentare
#1 - Der Sinn von G8/G9
"Das auf acht Jahre verkürzte Gymnasium wurde vielerorts auf wieder auf neun verlängert, obwohl laut Bildungsforschung keinerlei Evidenz für die Sinnhaftigkeit einer solchen Maßnahme existierte."
Welche Evidenz gab es denn für die Verkürzung von neun auf acht Jahre, und das bei Beibehaltung der neun Jahre in den Gesamtschulen? Die KI von Google schreibt dazu:
"Die Gründe für die Einführung des G8-Modells waren hauptsächlich ökonomischer Natur: Es sollte eine internationale Wettbewerbsfähigkeit hergestellt und Abiturienten einen früheren Berufseinstieg ermöglichen, um die sozialen Sicherungssysteme zu entlasten."
Wie mag die KI von Google darauf kommen (abgesehen von sprachlichen Mängeln) ? Der SWR sah das ähnlich:
https://www.swr.de/swrkultur/wissen/g8-g9-verkuerztes-abitur-forschung-102.html
Der frühere bzw. spätere Berufseinstieg hat übrigens auch etwas mit der Wehrpflicht zu tun, die jetzt wieder so heiß diskutiert wird. International ist es in den meisten Ländern so, dass auch Gesamtschulen insgesamt nur 12 Schuljahre haben. Die insgesamt 13 Schuljahre an deutschen Gesamtschulen waren daher auch ein Sonderweg. Welche Evidenz gab es dafür? Das Gymnasium war ursprünglich auf neun Jahre konzipiert (Sexta, Quinta, Quarta, ...), man hatte bis 1920 aber nur drei Schuljahre VOR dem Gymnasium, insgesamt also die heute international üblichen 12 Schuljahre. Die Verlängerung der Grundschulzeit im sog.Weimarer Schulkompromiss wiederum hatte politische Gründe, keine bildungswissenschaftlichen.
Dumme Frage: Was eigentlich soll die Inklusion mit einem "Vorstoßen zur Weltspitze" im ökonomischen Sinne zu tun haben? Auch ist Gerechtigkeit nicht offensichtlich in ökonomische Prosperität ummünzbar.
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