Die Bürokratie, die wir loswerden müssen
Warum Hochschulen effektiver entlastet werden müssen, ohne rechtsstaatliche Standards zu opfern. Ein Gastbeitrag von Paul R. Melcher, Ulrich Möncke, Karla Neschke und Jochen Struwe.
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ES STIMMT JA: Auch die Wissenschaft, auch die Hochschulen brauchen Bürokratie. Wenn also Jan-Martin Wiarda die Bürokratie als Garant von Fairness und Rechtstaatlichkeit preist, wenn er vor zu viel "Anti-Regulatorik-Enthusiasmus“ warnt, hat er einen Punkt. Nur dürfen Mahnungen wie diese nicht ungewollt zum Ausbleiben dringend nötiger Vereinfachungen führen. Es ist doch offensichtlich, wie sehr Bürokratielasten Forschung an Hochschulen ausbremsen – und warum ein kluges, gezieltes Entbürokratisieren nicht gefährlich, sondern dringend notwendig ist.
Aus ökonomischer Sicht hat Bürokratiebelastung zwei Ursachen, die beide aus fehlerhaften Antworten auf zwei berechtigten Fragen resultieren. Erstens: Machen wir die richtigen Dinge (→ Effektivität)? Zweitens: Machen wir die als richtig erkannten Dinge auch richtig (→ Effizienz)?
Bürokratie wird meist mit der zweiten Frage in Verbindung gebracht. Dabei ist die erste Frage die grundlegendere, die es angemessen zu beantworten gilt. Wenn nämlich schon die "Dinge unrichtig" sind, bringt es vergleichsweise wenig, diese "unrichtigen Dinge" anschließend "richtig", also unbürokratisch umzusetzen. Man könnte heute höchst effizient mechanische Schreibmaschinen bauen, aber wäre das in einer digitalisierten Arbeitswelt noch effektiv?
Effektivität und Effizienz sollte auch bei der Umsetzung bürokratischer Prozesse am Anfang jeder Überprüfung stehen – gleichgültig, welches Problemfeld man angeht.
Ein Schwarzbuch voller unnötiger Bürokratielasten
Verwaltungsverfahren sind in einem Rechtsstaat unverzichtbar. Ihre effiziente Umsetzung birgt jedoch eine Reihe an Fallstricken. Die Fülle der Einsendungen an Bürokratielasten, die in dem "Schwarzbuch Bürokratie an Hochschulen für angewandte Wissenschaften. Probleme – Verursacher – Lösungen" öffentlich zugänglich sind (Open Access, DOI) macht deutlich: Selbst bei klarer Rechtslage passiert es, dass Verwaltungsprozesse ineffizient aufgesetzt werden.
Sie mögen vielen schon begegnet sein – diese hinderlichen umständlichen Phänomene in Verwaltungsverfahren, wie etwa das Erfordernis, fiktive Reisebestandteile in einen Reisekostenerstattungsantrag einstreuen zu müssen, weil die reale Reiseroute im Abrechnungssystem nicht abbildbar ist. Oder dass ein Dienstgang nur von der Hochschule aus (und nicht von zu Hause aus) starten kann. Oder wenn der langwierige Reisekosten-Genehmigungsprozess mit der Nutzung günstiger Ticketpreise kollidiert. Das sollte nicht vorkommen.
Andere Felder sind der politischen Entscheidung nach Zweckmäßigkeit zugänglich: Ein Studienakkreditierungssystem – häufig in den Einsendungen zum Schwarzbuch kritisch genannt – kann man sich geben oder es lassen. Es stellt sich erneut die Frage der Effektivität: Was will man bewirken? Tut man das Richtige? Soweit es für die Studierenden die Freizügigkeit innerhalb Deutschlands und im Raum der europäischen Hochschulen (via ETCS etc.) bewirkt hat, ist das Verfahren zu begrüßen.
Doch selbst wenn es gelingt, die Vergleichbarkeit der Studienleistungen herzustellen und damit die Effektivitätsfrage mit einem Ja zu beantworten, bleibt dennoch die Frage nach der Effizienz der Akkreditierungsverfahren. Wenn ein Landesrechnungshof zur Akkreditierung von Studiengängen fragt: "Gütesiegel oder Geschäftsmodell?" und in geradezu liebevoller Weise den damit verbundenen Aufwand pro Akkreditierung auf Professorenseite benennt, ist der Handlungsbedarf offensichtlich. Aufgrund des fehlenden Mittelbaus an den Hochschulen für angewandte Wissenschaften liegt der Aufwand allein auf den Schultern der Professorinnen und Professoren, deren ohnehin knappe Zeitressourcen neben den 18 Semesterwochenstunden Lehrverpflichtung weiter zusammenschmelzen und für anwendungsorientierte Forschung und Transfer verloren sind. Die Balance zwischen Grundfinanzierung und Finanzierung durch wettbewerbliche Drittmittelförderung kann man ebenfalls politisch bestimmen. Auch sie ist erst einmal eine Frage der Effektivität. Hat man sich schließlich "pro Förderverfahren" entschieden, ist deren Effizienz zu sichern.
Wo Bürokratie nötig ist – und wann sie zum Ärgernis wird
In den vorgenannten Feldern besteht Spielraum für politische Entscheidungen. Es gibt jedoch auch Prozesse, die die Grundrechte und Grundfreiheiten von Personen unmittelbar berühren und daher weniger Spielraum bieten, die Auswahl von Professorinnen und Professoren etwa. So muss jede Berufung einer Professorin, eines Professors im verfassungsrechtlich gebotenen Verfahren der Bestenauslese fair verlaufen und ist daher durch gewisse Formalismen mit Fristen und der Dokumentation aller Vorgänge und Entscheidungen abzusichern. Schleichen sich Fehler ein, hat das womöglich die erneute Stellenausschreibung zur Folge, was zusätzliche, doppelte Arbeit in der akademischen Selbstverwaltung verursacht. Daher müssen die Berufungsverfahren von vornherein rechtssicher gestaltet werden.
Wie der Spagat zwischen Erfordernis und Effizienz gelingt, ist hier die Herausforderung. Eine Reihe von Hinweisen aus der Praxis deutet darauf, dass die Steuerung durch Richtlinien überhandnehmen kann, an anderen Hochschulen wiederum rechtliche Hilfestellungen fehlen. Noch ein Beispiel: Studierende haben einen Anspruch auf korrekte Ermittlung der verfügbaren Studienplätze ("Numerus-clausus-Bürokratie") – es geht um ihre ebenfalls verfassungsrechtlich gesichert Chance auf Bildung und Berufszugang. Es gibt also Vorgänge, in denen eine gewisse Bürokratie unvermeidlich und sogar hilfreich in Bezug auf das Ziel ist.
Und es gibt Bürokratie, die nicht nur verzichtbar, sondern ein Ärgernis ist: Über 70 Professorinnen und Professoren an HAW haben gemeinsam in einer Arbeitsgruppe Beispiele überbordender Bürokratie aus dem Hochschulalltag zusammengetragen. Viele der Probleme bestimmen ihren Alltag. Dabei ist diese Aufzählung nur ein Ausschnitt aus dem gesamten Spektrum der Bürokratielasten. Ursachen dafür finden sich in beiden Bereichen – dem der Effektivität wie dem der Effizienz. Der geschätzte jährliche Bürokratieaufwand für die 190 erfassten Beispiele liegt bei 20.450 Arbeitsstunden pro HAW durchschnittlicher Größe allein auf der professoralen Seite.
Wird dieser Zeitaufwand mit einem definierten Stundensatz von 100 Euro multipliziert, so summieren sich die Aufwendungen auf jährlich 2,045 Millionen Euro. Für die erforderliche Bürokratiebewältigung durch Hochschullehrende gäbe es kostengünstigeres Verwaltungspersonal, wenn auf diese Bürokratie nicht sogar komplett verzichtet werden könnte. Kurioserweise nimmt die Anzahl der Verwaltungsstellen überproportional zu der Anzahl der Stellen der Professorenschaft zu und trotzdem wird – oder vielleicht gerade deshalb – mehr Bürokratieverwaltung von der Professorenschaft verlangt.
Die Verwaltung verdient Respekt für ihre Arbeit, aber man darf auch erwarten, dass sie sich zeitgemäß selbst organisiert, digitalisiert und, wo nötig, zentralisiert und sich dabei auf die Kernaufgaben von Hochschulen in der Lehre und in der Forschung ausrichtet. Eine spürbare Entlastung von bürokratischen Aufgaben ist entscheidend, um mehr wissenschaftliches Arbeiten an Hochschulen für angewandte Forschung zu ermöglichen. Verwaltung, Politik und Parlamente sind gefordert, diese Freiräume zu schaffen.
Jochen Struwe ist Professor für Unternehmensführung, Rechnungswesen und Controlling und war Vizepräsident der hlb-Bundesvereinigung. Paul R. Melcher lehrt als Professor im Masterstudiengang Integrierte Managementsysteme an der Hochschule Bonn-Rhein-Sieg und beschäftigt sich seit langem mit der Vereinfachung von Verwaltungsschritten. Karla Neschke begleitet als Stellvertretende Geschäftsführerin der hlb-Bundesvereinigung hochschulpolitische Entwicklungen. Ulrich Möncke ist Professor für Informatik an der Hochschule für angewandte Wissenschaften München, war ihr Vizepräsident und gehörte über zehn Jahre dem Senat an.
Kommentare
#1 - Erwartungsmanagement
"Die Verwaltung verdient Respekt für ihre Arbeit, aber man darf auch erwarten, dass sie sich zeitgemäß selbst organisiert [und[ digitalisiert"
Das kann man natürlich erwarten, erfahrungsgemäß werden diese Erwartungen aber bitter enttäuscht. Keine der zentralen Universitätsverwaltungen, die ich erlebt habe, ist dazu in der Ganzheit gleichzeitig sowohl willens als auch fähig.
Oft hört man, Digitalisierungsprojekte würden der Verwaltung "übergestülpt", jetzt wird wieder System X eingeführt, was in den ohnehin schon überlasteten Verwaltungsabteilungen zu noch mehr Mehrarbeit führt, denn man solle sich ja an der Einführung beteiligen, diese mitgestalten, und das neben der ohnehin schon überbordenden täglichen Arbeit. Die Erkenntnis, dass gerade bei aktivem Einbringen in solche Projekte und bei kritischer Betrachtung der eigenen Prozesse sowie - idealerweise - auch der Bereitschaft, diese zu verändern und zu optimieren, solche Projekte zu einer langfristigen Reduktion der eigenen Arbeitsbelastung führen können, vermisst man schmerzlich.
Indem Arbeitsschritte wegfallen oder beispielsweise das falsche und unvollständige Ausfüllen von Formularen schlicht nicht mehr möglich ist, werden auch die eigenen Leute entlastet. So weit reicht der Blick oft leider nicht.
Natürlich gibt es auf der anderen Seite oft, entgegen den Versprechungen der Hersteller, nicht eine sofort passende Softwarelösung, die 100% der Probleme ausräumt. Auch auf Seiten "der IT" (wir betrachten diese hier mal als monolithischen Block, der Kürze des Kommentars wegen) darf nicht die Vorstellung herrschen, alle Probleme seien einfach mit einer digitalen Plattform zu lösen.
Die Lösung ist dagegen zunächst - eigentlich - simpel: die Verwaltungseinheiten müssen ihre eigenen Prozesse optimieren, erst einmal "auf der grünen Wiese", gerne auch unterstützt von Menschen mit Expertise im Change Management und der Prozessoptimierung, bevor an die technische Seite herangetreten wird, und geschaut, wie sich diese neuen, idealen Prozesse digital abbilden lassen. Dann gibt es ein paar Iterationen, da nicht alles digital wie analog funktioniert, man passt beiderseits an, bevor man eine funktionierende, wenn auch nicht 100%ige Lösung hat ("perfect is the enemy of good"...), die technisch betreubar ist und auf Verwaltungsseite Effizienz schafft.
In vielen kleineren Digitalisierungsprojekten an Unis, deren Teil ich war, funktioniert das. Leider scheint es nicht zu skalieren, was oft an den Persönlichkeiten der Entscheider:innen liegt...
#1.1 - Um sich selbst zu digitalisieren, braucht es flexible Software
Dieser Kommentar beinhaltet eine gewisse Menge Frust aus Verwaltungsperspektive, aber mein zunehmender Eindruck ist leider, dass vorhandene Softwarelösungen in der Mehrzahl schlicht nicht dafür geeignet sind, dass sich eine Verwaltung durch sie selbst digitalisiert. Solange Verwaltungseinheiten darauf angewiesen sind, ihre Prozesse und Anforderungen einer (internen oder gar externen) IT-Abteilung zu erklären, wird die Umsetzung kurzfristig immer hinter der Flexibilität von Papierlösungen und digitalen "Lösungen", die Papierprozesse simulieren, zurückstecken. Der Reibungsverlust durch knappe Ressourcen und zusätzlichen Kommunikationsbedarf ist sonst einfach zu groß.
Hochschulen, Behörden und vergleichbare Einrichtungen brauchen aus meiner Sicht dringend Software, die mit möglichst wenig Coding-Expertise möglichst beliebige Verwaltungsprozesse abbilden kann. Wahrscheinlich verlange ich damit die Quadratur des Kreises. Doch in einer Zeit, in der immer mehr "digital natives" auch in die Verwaltungen kommen, sehe ich in der Nutzung deren Software-Kenntnisse einen Schlüssel zu einer effektiven und effizienten Digitalisierung der Verwaltung.
#1.1.1 - Schöner Gedanke, aber...
Ich halte den grundsätzlichen Gedanken – mit möglichst wenig Coding beliebige Verwaltungsprozesse abzubilden – für sehr sympathisch. Gleichzeitig stimme ich zu: In Teilen ist das die Quadratur des Kreises und in der Praxis schwer umsetzbar.
Denn: (ganz) ohne Kommunikation zwischen Fachabteilungen und IT geht es nicht. Auch digitale Lösungen, die in einer Fachabteilung mit vermeintlich hoher IT‑Kompetenz entstehen, müssen sauber in die bestehende zentrale IT‑Landschaft der Einrichtung integriert werden. Allein schon Identitäten, Rollen und Rechte erfordern in der Regel Schnittstellen zum Personalsystem, damit Nutzer:innen und Berechtigungskonzepte konsistent, sicher und wartbar bleiben. Diese Interoperabilität lässt sich nicht wegautomatisieren.
Außerdem: „Digital natives“ sind starke Anwender – nicht automatisch Systemgestalter. Auf der Anwenderebene bringen viele Kolleg:innen heute deutlich höhere IT‑Kompetenzen mit, das ist korrekt, und das sollten wir auch nutzen. Ob sich diese Kompetenzen aber auch auf die Gestaltung von Systemen, Architekturentscheidungen und Programmierung übertragen lassen, wage ich zu bezweifeln. Gerade hier braucht es weiterhin klare Rahmenwerke, Standards und die Expertise der Kolleg:innen aus der IT.
Kurz gesagt: Low‑/No‑Code kann helfen, Reibung zu reduzieren und die Fachnähe zu erhöhen. Aber ohne abgestimmte Schnittstellen zu den zentralen Systemen und ohne strukturierte Zusammenarbeit zwischen Fachbereichen und IT wird es weder effizient noch nachhaltig. In diesem Spannungsfeld liegt die Herausforderung – und eben auch der Grund, warum die vollständige Selbstdigitalisierung der Verwaltung durch „Werkzeuge allein“ schwierig bleibt.
#2 - Kein Grundsatzwiderspruch...
... aber: Das "Bürokratieverwaltung von der Professorenschaft" verlangt wird, hat zu einem Teil auch mit der Rolle als Personalverantwortliche, Führungskräfte und Verbeamtete zu tun. Vielleicht würde auch hier das Department-Modell Wunder wirken?
#3 - Faktenbasis
Wir müssen die Bürokratiekosten der Akkreditierung stets kritisch abwägen - das sage ich als Geschäftsführer der Stiftung Akkreditierungsrat.
Dafür ist es jedoch nötig, sich auf Faktenbasis über diese Kosten zu verständigen. Hier habe ich ein Problem mit dem Schwarzbuch des hlb. Die Akkreditierungsperiode wird darin meistens als fünf Jahre beschrieben (mal drei, mal sieben, aber meistens fünf) - in Wirklichkeit sind es acht Jahre, schon seit 2018. Diese Verlängerung haben die Länder seinerzeit bewusst vorgenommen, um Lasten zu reduzieren.
Darüber hinaus trifft das Schwarzbuch Annahmen über die internen Kosten von Akkreditierungen. Dabei wurden bestehende Untersuchungen nicht zur Kenntnis genommen, insbesondere nicht solche der Landesrechnungshöfe, die auf deutlich geringere Summen kommen. Vgl. etwa https://ordnungderwissenschaft.de/wp-content/uploads/2020/03/31_2017_04_janz_Zahlen_bitte_odw.pdf
Beide Fehler zusammengenommen multiplizieren sich, und damit liegen die im Schwarzbuch postulierten Bürokratiekosten um den Faktor 4 bis 5 höher im Vergleich zu Rechnungen, die auf der geltenden Rechtslage und auf Rechnungshöfen basieren.
Oder, pointiert zugespitzt: Die Bürokratiekosten sind im Vergleich zu den Schwarzbuch-Annahmen bereits um 75 bis 80 Prozent reduziert worden.
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