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Große Mehrheit der Studierenden lehnt Aktivismus in der Wissenschaft ab und distanziert sich von der "Letzten Generation"

Konstanzer Hochschulforscher haben erstmals eine Studierendenstichprobe nach ihren politischen Einstellungen und Wahrnehmungen befragt – und würden ihre repräsentative Studie gern regelmäßig wiederholen. Eine überfällige Ergänzung zur langfristigen Sozialerhebung?

DIE ERGEBNISSE DER 22. SOZIALERHEBUNG waren spannend, umfassend und in Teilen bedrückend. Etwa, dass es den Studierenden gesundheitlich schlechter ging als fünf Jahre zuvor. Dass sie mehr Zeit zum Studieren aufwendeten und trotzdem ein Großteil von ihnen jobbte. Und dass der Anteil der studentischen Geringverdiener, die weniger als 800 Euro im Monat hatten, auf 37 Prozent geklettert war – gleichzeitig aber mehr als ein Viertel der Studierenden 1.300 Euro und mehr ausgeben konnte. Die im Mai 2023 von BMBF, Deutschem Studierendenwerk (DSW) und dem Deutschen Zentrum für Hochschul- und Wissenschaftsforschung (DZWH) veröffentlichten Daten hatten nur einen Nachteil: Sie stammten aus dem Jahr 2021.

 

Bis zu welchem Grad aber kann die Politik heute auf der Grundlage fast zwei Jahre alter Daten Entscheidungen treffen, wenn doch wie in diesem Fall dazwischen ein Großteil der Corona-Pandemie, Hochschulen im Distanz-Modus, der Einbruch studentischer Arbeitsmärkte, der Beginn des russischen Angriffskriegs, die Energiekrise und explodierende Preise lagen – deren Auswirkungen die Sozialerhebung nicht berücksichtigen konnte? Das DZHW ergänzte sie deshalb um eine zusätzliche aktuelle Analyse, um die Inflationsfolgen für die Studierenden abzuschätzen. 

 

Und sonst? Muss sich die Bildungspolitik in der sozialwissenschaftlichen Erforschung der Studierenden zwangsläufig irgendwann entscheiden zwischen Schnelligkeit und Tiefe der Ergebnisse? 

 

Ja und nein, sagt Monika Jungbauer-Gans, die wissenschaftliche Geschäftsführerin des DZHW. "Wenn Sie repräsentative Daten wollen über die wirtschaftliche Situation der Studierenden, heruntergebrochen auf Regionen und Teilgruppen, und das Ganze in einer Breite und Detailvielfalt wie bei der Sozialerhebung mit 200.000 Befragten, dann dauert die Aufbereitung und Auswertung." Umgekehrt, fügt Jungbauer-Gans, brauche es durchaus auch "Schnellboote", um rasch Stimmungsbilder unter den Studierenden einzuholen.

 

Machbarkeitsstudie eines

alten Bekannten

 

Von Zeit zu Zeit veröffentlichen Unternehmen oder Verbände Umfragen unter Studierenden zu ihrer Finanz- oder Wohnsituation, meist verbunden mit der Absicht des Selbstmarketings. Das DZHW wiederum hatte zwischen 2002 und 2018 ein "HISBUS" genanntes Online-Panel für aktuelle Fragestellungen. Seitdem fehlt der Bildungsforschung wie der Bildungspolitik ein Umfrageinstrument, das regelmäßig, wissenschaftlich fundiert und doch schnell zumindest ein Stimmungsbild unter den Studierenden zur Verfügung stellt. 

 

Genau das ist der Grund, warum jetzt die AG Hochschulforschung an der Universität Konstanz eine Machbarkeitsstudie zur "Durchführbarkeit und Qualität von rapid response research" vorgelegt hat, Gegenstand: Umfragen bei Studierenden in Deutschland. Die Daten stammen aus dem Mai 2023.

 

Die AG Hochschulforschung ist in der Studierendenbefragung eine alte Bekannte. Über Jahrzehnte hat sie den sogenannten Studierendensurvey verantwortet, der seit 1982 alle paar Jahre Studierende von 25 Hochschulen bundesweit nach ihren Studienbedingungen, Meinungen und politischen Einstellungen befragt hatte. Der Studierendensurvey ging 2021 zusammen mit der Sozialerhebung und weiteren Studien in einer einzigen großen Studierendenbefragung auf – unter Federführung des DZHW.

 

Wodurch die AG Hochschulforschung sich jetzt auf zu neuen Ufern macht. Natürlich hofft sie auf eine Beauftragung durch das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF), die jetzt veröffentlichte Machbarkeitsstudie kann man also getrost auch als Bewerbung verstehen. 

 

Und die ist mehr als eine Trockenübung, die beweisen soll, dass eine repräsentative Befragung von 2.000 Studierenden aus ganz Deutschland, innerhalb weniger Wochen ausgewertet und aufbereitet, funktioniert. Tatsächlich liefert die Studie, die mir exklusiv vorab vorlag, nebenher wichtige und vor allem aktuelle Einblicke in das studentische Leben, Meinen, und Empfinden. Und zwar aus dem Sommersemester 2023. Ein paar Beispiele:

 

Kein Niederschreien,
kein Blockieren, 
keine Gewalt

 

Wie stehen Studierende zum sogenannten "De-Platforming", also zu Vorfällen, bei denen Personen mit umstrittenen Meinungen bei Auftritten an Hochschulen durch Protestierer gestört oder gänzlich abgehalten wurden? Die Antworten zeigen, dass eine große Mehrheit solche Aktionen ablehnt, und zwar unabhängig vom Thema. 

 

Geht es in einer Rede oder Veranstaltung um "Migration als Problem", könnten sich etwa 30 Prozent der Befragten allenfalls das Entfernen von Einladungsplakaten und Flyern vorstellen. Alle anderen abgefragten Aktionsformen – das Blockieren anderer Personen beim Betreten einer Veranstaltung, das Niederschreien eines Redners oder gar das Anwenden physischer Gewalt, um eine Rede oder Veranstaltung zu stoppen – finden nur zwischen drei und ein Prozent der Befragten "absolut akzeptabel", weitere acht bis drei Prozent "eher akzeptabel". "Eher und absolut nicht akzeptabel" antworten bei Gewalt 85 Prozent, beim Blockieren 74 und beim Niederschreien 77 Prozent. 


Akzeptable Handlungen gegen Redner an der Universität – Gruppe 1 Migration als Problem

Quelle (alle Grafiken): AG Hochschulforschung Universität Konstanz. 


Kaum anders fallen die Antworten aus, wenn in der Rede oder Veranstaltung die Ansicht transportiert werden soll, dass das biologische Geschlecht nur die Ausprägungen männlich und weiblich kenne. Hier lehnen sogar 88 Prozent physische Gewalt ab. Ebenfalls praktisch die gleichen Antworten gaben die Studierenden für den Fall, dass in einer Rede die positiven Effekte von Einkommensunterschiede auf die Arbeitsmoral betont werden sollen. 

 

Die meisten Studierenden lehnen darüber hinaus Aktivismus in der Wissenschaft klar ab. 78 Prozent der befragten antworten, dass Wissenschaft politisch neutral sein solle – das Gegenteil sagen nur neun Prozent. 63 Prozent der Studierenden finden zugleich, dass Wissenschaft kritisch reflektieren sollte, welche politischen Auswirkungen sie hat. Gespalten sind die Befragten bei der Genderforschung: 37 Prozent sagen, sie sei "oft mehr Ideologie als Wissenschaft", 37 Prozent lehnen eine solche Aussage ab. Allerdings: 25 Prozent sind unentschieden. Da Sozialforscher die Antwort "unentschieden" jedoch oft als bedingte Zustimmung deuten, muss die Einstellung der Studierenden gegenüber der Genderforschung wohl als überwiegend kritisch eingeschätzt werden. Bemerkenswert ist, dass die heutigen Studierenden trotzdem die Bedeutung von Diversität betonen. Nur 18 Prozent stimmen ganz oder teilweise der Aussage zu, dass diversitätsfördernde Maßnahmen schlecht für die Qualität seien. 58 Prozent beharren auf dem Gegenteil. 

 

Während 62 Prozent der Studierenden die Anliegen und Aktionen von "Fridays for Future" eher oder vollends unterstützen, sagen 17 Prozent, sie täten dies "überhaupt nicht", was die AG Hochschulforschung als "gewisse Polarisierung" deutet. Nicht polarisiert, sondern sehr eindeutig fällt die Ablehnung der "Letzten Generation" aus. 42 Prozent sagen, sie unterstützten deren Proteste überhaupt nicht, insgesamt äußerten sich 81 Prozent eher ablehnend, und nur 19 Prozent teilweise bis stark zustimmend. 

 

Das Schweigen der

Nicht-Akademikerkinder

 

Besorgniserregend ist, dass 41 Prozent angeben, sie würden sich gelegentlich in Seminaren oder Vorlesungen nicht zu Wort melden, obwohl sie es eigentlich möchten. Weitere 18 Prozent sagen sogar, dies komme häufig vor. Wobei das in den meisten Fällen nicht mit der inhaltlichen oder politischen Richtung der eigenen Meinung zu tun hat. So äußern 35 Prozent die Befürchtung, ihr Beitrag klinge nicht klug genug. 23 Prozent stimmen der Begründung zu, dass sie sich nicht so gut ausdrücken können wie andere. Beide Aussagen, analysiert die AG-Hochschulforschung, würden häufiger von Befragten geäußert, die aus Nicht-Akademikerhaushalten stammen. Ein Ergebnis, das den Hochschulen zu denken geben sollte. Außerdem sagen 19 Prozent, sie würden sich nicht zu Wort melden, weil sie sich nicht ausreichend vorbereitet hätten. Und 14 Prozent ("immerhin", wie die Forscher betonen) fürchten, für ihre Aussage kritisiert zu werden. 


Unterdrückte Wortmeldung Seminar/Vorlesung - Gründe


74 Prozent der Studierenden erwarten, dass die Künstliche Intelligenz den Unterricht an den Hochschulen in den kommenden Jahren wesentlich verändern wird. "Auf keinen Fall", antworten nur drei Prozent. Gleichzeitig nehmen 64 Prozent den Einsatz von KI an Hochschulen als Chance wahr, 25 Prozent eher und weitere sechs Prozent eindeutig als Gefahr. Ebenfalls 64 Prozent sagen, sie hätten ChatGPT bereits selbst ausprobiert. Und 61 Prozent meinen, die traditionelle Hausarbeit habe sich durch ChatGPT nicht erledigt. 

 

Und schließlich zur Krisenwahrnehmung von Corona und Inflation. Zwölf Prozent der Studierenden geben an, dass sich ihre finanzielle Situation durch die Pandemie verbessert habe. Aber 45 Prozent sagen, dass sie etwas oder deutlich schlechter dastünden. Wobei bei Studierenden aus Nicht-Akademikerhaushalten nochmal schlechter dran sind. Sagen nur zehn Prozent aller Befragten, dass sich ihre finanzielle Lage deutlich verschlechtert haben, sind es bei den Nichtakademiker-Kindern 15 Prozent. 

 

Dramatischer noch ist der Einfluss der Inflation seit 2022: 75 Prozent geben eine leichte oder deutliche Verschlechterung ihrer wirtschaftlichen Lage an. Nur drei Prozent berichten eine Verbesserung. Unterdessen sagen neun von zehn Befragten sie hätten die 200-Euro-Energiepauschale bereits erhalten, beantragt oder wollten dies tun. Erstaunlich ist, dass jeweils nur ein Prozent der Studierenden entweder auf die Nothilfefonds von Hochschulen oder der Studierendenwerke zurückgreifen. Der mit über neun Prozent Zinsen dotierte KfW-Studienkredit erweist sich in der Umfrage als ungeeignet: Mit zwölf Prozent der Befragten, die ihn haben oder beantragen wollen, liegt er gleichauf mit privaten Krediten. 


Finanzierungsquellen


Eines der vieldiskutierten Themen

in der Sozialforschung

 

Die Frage nach nach Schnelligkeit versus Tiefe, sagt DZHW-Chefin Monika Jungbauer-Gans,  gehöre zu den vieldiskutierten Themen momentan in der Sozialforschung. Der RatSWD, der die Bundesregierung zur Forschungsdateninfrastruktur berät und dem Jungbauer-Gans vorsitzt, habe sich bei einem Workshop gerade intensiv damit auseinandergesetzt. Wenn die Politik ein solches schnelles Umfrage-Tool zu den Studierenden wolle, könne das DZHW dies natürlich auch jederzeit liefern, auf der Grundlage von 50.000 befragungsbereiten Studierenden aus der Studierendenbefragung in Deutschland.

 

Die Konstanzer Hochschulforscher haben ihre Machbarkeitsstudie derweil gerade im BMBF vorgestellt. Sie würde ihre Umfrage gern häufiger durchführen, idealerweise ein, bis zweimal pro Jahr. Es sei "mit verhältnismäßig geringem Aufwand möglich ist, eine hinreichend große Anzahl an Studierenden über laufende Online-Access-Panel zu rekrutieren, sie in kurzer Zeit zu befragen und die entsprechenden Datenaufbereitungen zu leisten", versichert Thomas Hinz von der AG Hochschulforschung. Als Bewerbungsschreiben jedenfalls beeindrucken die Ergebnisse ihrer Machbarkeitsstudie. 



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Kommentare: 7
  • #1

    Günter M. Ziegler (Mittwoch, 27 September 2023 13:12)

    Vielen Dank für den erhellenden Bericht!
    Mir fällt aber auch auf, dass die Geschwindigkeit der Studie zu fehlender Sorgfalt bei den Graphiken führt, die nicht nur voller Tippfehler sind ("blokiert", "azeptabel") und auch lückenhaft ("Weil ich fürchte, wegen Vorurteilen nicht richtig zuhört") - war das die im Survey vorgegebene/vorgeschlagene Antwort?

  • #2

    Wie bitte? (Mittwoch, 27 September 2023 13:18)

    Zitat: "Kaum anders fallen die Antworten aus, wenn in der Rede oder Veranstaltung die Ansicht transportiert werden soll, dass das biologische Geschlecht nur die Ausprägungen männlich und weiblich kenne. Hier lehnen sogar 88 Prozent physische Gewalt ab."

    Die "Ansicht"?? Lieber Herr Wiarda, hier handelt es sich nicht um eine Ansicht, sondern um Fakten. Biologische Geschlechter gibt es genau zwei, und dieselben sind durch die Größe der Geschlechtszellen (Gameten) definiert: Spermien und Eizellen. Ich will mir gar nicht vorstellen, dass Sie diese biologischen Grundtatsachen hier implizit anzweifeln.

  • #3

    Hoffnung (Mittwoch, 27 September 2023 13:27)

    Zwei Ergebnisse herausgegriffen, die zeigen, dass die Studenten überwiegend vernünftig sind und gleichzeitig zeigen, dass die sog. Stud.vertretungen alles mögliche vertreten, aber nicht die große Mehrheit der Studenten.
    Bleibt zu hoffen, dass die Vernunft siegt.

    "... muss die Einstellung der Studierenden gegenüber der Genderforschung wohl als überwiegend kritisch eingeschätzt werden."

    und
    "Große Mehrheit der Studierenden lehnt Aktivismus in der Wissenschaft ab und distanziert sich von der "Letzten Generation""

  • #4

    Jan-Martin Wiarda (Mittwoch, 27 September 2023 14:33)

    Lieber Herr Ziegler,

    danke für Ihr Lob! Und was die Fehler in den Grafiken der AG Hochschulforschung angeht: Da haben Sie einen Punkt! Das sind Stellen, an denen man sieht, dass es schnell gehen musste. Ich persönlich kenne das allerdings auch manchmal aus meiner Arbeit hier im Blog: lange recherchiert, dann aufgeschrieben, und dann sind da ärgerliche (Tipp-)Fehler drin. Im Anhang des Studienberichts (im Artikel verlinkt) sind die Fragen und Antwortmöglichkeiten vollständig aufgelistet, da lautet die von Ihnen zitierte Antwort: "Weil ich fürchte, dass man mir wegen Vorurteilen nicht richtig zuhört."

    Beste Grüße
    Ihr Jan-Martin Wiarda

  • #5

    Chris Lasse Däbritz (Samstag, 30 September 2023 13:49)

    Vielen Dank für den schönen Beitrag und die spannenden Ergebnisse.

    Liebe*r Wie Bitte,
    wenn Sie von Fakten sprechen, dann nehmen Sie bitte auch zur Kenntnis, dass Ihre Definition („ Biologische Geschlechter gibt es genau zwei, und dieselben sind durch die Größe der Geschlechtszellen (Gameten) definiert: Spermien und Eizellen“) eben kein Fakt ist, sondern eine von vielen möglichen Definitionen. Auch die Biologie ist da breiter und kann Geschlecht aus unterschiedlichen Perspektiven definieren.

  • #6

    Jan-Martin Wiarda (Sonntag, 01 Oktober 2023 16:24)

    Liebe Leserinnen und Leser,

    bitte beachten Sie, dass weitere Kommentare zu diesem Artikel nur mit Klarnamen veröffentlicht werden.

    Besten Dank für Ihr Verständnis
    Ihr Jan-Martin Wiarda

  • #7

    Fred Schaper (Montag, 16 Oktober 2023 12:49)

    Also Biologe empfehle ich: "Ein Tisch ist ein Tisch" von Peter Bichsel und die Erkenntnis, dass Fakten nur so lange Fakten bleiben, bis sie verdreht werden.

    aber auch das Zitat von Bertrand Russell (Philosoph und Mathematiker, Nobelpreis Literatur 1950):
    „Die Tatsache, dass eine Meinung vielfach geteilt wird,
    ist kein Beweis, dass sie nicht völlig absurd ist.“