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Wenn das Klassenzimmer zum Ort von Rassismus wird oder: Für die Impressionisten gab es kein Schwarz-Weiß

Was bedeutet es, Lehrerin an einer Sekundarschule in Neukölln zu sein? Ein Gastbeitrag über alltägliche Beleidigungen, das Recht auf Bildung und einen Ausflug zum Potsdamer Museum Barberini. Von Ada M. Hipp*.

Foto: Ada M. Hipp.
Foto: Ada M. Hipp.

VOR EINIGER ZEIT berichtete ich in diesem Blog über die wenig bis gar nicht vorhandenen Leseleistungen meiner 7. Klasse – und wie wir gemeinsam versucht haben aufzuholen, was sich fast nicht mehr aufholen lässt.

 

Nun sind die Schülerinnen und Schüler nach dem Sommer in die 8. Klasse versetzt worden, einige verdientermaßen. Bei anderen hätte man es früher eher als notwendig erachtet, sie die 7. Klasse noch einmal nachholen zu lassen. Bei allem Für und Wider des früheren "Sitzenbleibens": Bei manchen Kindern wäre derartiges schon sinnvoll, vor allem dann, wenn sie des Lesens nur unzureichend fähig sind.

 

Im Laufe dieses 8. Schuljahres kamen neue Kinder hinzu, andere sind an Schulen anderswo in Berlin oder in andere Bundesländer gewechselt. Im Ergebnis stammen immer noch alle Kinder dieser Klasse aus Einwandererfamilien.

 

Rassistisch beleidigen,
rassistisch beleidigt werden

 

Wenn die familiären Wurzeln bei 100 Prozent der Schüler aus Südeuropa oder noch weiter südlich liegen, sollte man annehmen, dass Rassismus eine Sache ist, die sie vermutlich im Laufe ihres Lebens selbst haben erfahren müssen. Dass sie aber deshalb nicht auch noch untereinander rassistische Äußerungen tätigen. Weit gefehlt. 

 

Nach der für sie schlimmsten Beleidigung im Klassenrat gefragt, äußerte die Mehrheit, dass es das "N-Wort" sei. Trotzdem beleidigen sie einander diesbezüglich häufig, sagen das N-Wort in allen möglichen Variationen. Auch die Kinder, die ein dunkelhäutiges Elternteil haben, machen mit. Die ganz besonders.  Die zweitschlimmste Beleidigung für sie war "Hurensohn" bei den Jungen und "Kopftuch-Schlampe" bei den Mädchen. Und dennoch, dennoch beleidigen sie einander genau mit diesen Worten. Mehrfach haben wir im Klassenrat darüber diskutiert, haben die Eltern einbezogen, stellten Verhaltensregeln auf. Immer wieder kommen auch die Beleidigungen bezüglich der Hautfarbe auf.

 

Irgendwann platzte mir der Kragen. Ich wies die Klasse darauf hin, dass bis auf das eine Mädchen mit albanischem Migrationshintergrund, dem anderen Mädchen mit kosovarischem Migrationshintergrund und mir ALLE sich im Klassenraum befindenden Personen "farbig" seien. Farbig in allen nur möglichen Schattierungen. Würden sie sich nach Helligkeit ihrer Hautfarbe beginnend mit den beiden zuvor genannten Mädchen und mir aufstellen, so könnte man diese verschiedenen Hauttöne von ganz hell bis hin zu dunkel sehr gut erkennen. Ich fragte sie, ob sie darunter echtes Weiß oder echtes Schwarz erkennen würden. Sie verneinten dies und lachten lauthals. 

 

Dann fragte ich, wo dies noch so sei. "In der Natur!", riefen sie, "In der Natur gibt es kaum Schwarz und deshalb malten die Impressionisten fast nie mit Schwarz. So wurde es uns doch in Ausstellung bei der Führung erzählt." ‘Prima’, dachte ich, ‘doch was gelernt‘, waren wir doch gemeinsam bei den Impressionisten im Museum Barberini in Potsdam.

 

Für alle Kinder war es die 

erste Zugfahrt in ihrem Leben

 

Schon allein die Zugfahrt mit der Regionalbahn dorthin war bereits ein Erlebnis, in vielerlei Hinsicht. Erstens: Für ALLE Kinder war es das erste Mal, mit einem Zug zu fahren. Nun ist dies allerdings KEIN Alleinstellungsmerkmal für Kinder mit Migrationshintergrund. In der heutigen Familie wird eher mit dem Auto gefahren oder aber, bei weiteren Strecken, geflogen. So ist es auch bei Kindern in Neukölln. Eine Zwei- bis Dreitagesfahrt mit dem Auto in den südlichsten Winkel der Türkei via Bulgarien ist da keine Ausnahme, auch nicht ein bis zu sechsstündiger Aufenthalt an einer der dortigen Grenzen. In den Libanon wird zumeist geflogen. Aber mit dem Zug, mit dem Zug geht es für sie nirgendwohin.

 

Zweitens berichtete mir meine begleitende Kollegin, dass sie andere Mitreisende im Zug beim Vorbeigehen unserer Klasse auf der Suche nach Sitzplätzen gehört habe, wie diese einander zuraunten: "Alles Ausländer. Gibt’s denn nur noch Ausländer? Ah, da sind ja noch zwei Deutsche." Gemeint waren wir beide.

 

In der Klasse gibt es EIN Kind ohne deutschen Pass, und dieses war an diesem Tag krankgemeldet und somit gar nicht zugegen. Hätte ich diese Situation selbst mitbekommen, so hätte ich mich garantiert mit den Mitreisenden angelegt. Es wäre nicht das erste Mal. Immer wieder komme ich mit unseren Schulklassen in die unschöne und unfreiwillige Situation, "meine" Kinder gegen den Rest der Welt zu verteidigen. Verbale Beleidigungen, anfeindende Blicke, negative Äußerungen sowie ungefragte Mitleidsbekundungen ob meines grässlichen Jobs mit "solchen" Kindern stehen nicht nur für mich an der Tagesordnung. Gerade dieser Tage wurde eine Kollegin im Bus von einem Mitreisenden mit dem Spruch "Augen auf bei der Berufswahl" abgefertigt.

 

Im Museum selbst wurden einige Schülerinnen und Schüler von fünf Jugendlichen regelrecht verfolgt. Wir trugen unsere Schul-T-Shirts. Auf ihnen steht der Name unserer Schule sowie der Stadtbezirk, aus dem wir kommen: Neukölln. Wir trugen diese Shirts erstens, um eine Übersicht über den Verbleib der Kinder im Museum zu haben; zweitens, damit andere Museumsbesucher sehen, zu wem die Kinder gehören, und drittens, um nach außen ein Zeichen zu setzen, dass Schüler aus Neukölln sich durchaus zu benehmen wissen.

 

Ein verdammtes
Recht auf Bildung

 

Die fünf Jugendlichen tuschelten sehr auffällig miteinander, beobachteten uns und sprachen in ziemlich verkorkstem Englisch: "Crazy students. They come from Neukölln. They are so crazy". Nach einem ersten "Don’t" und dann einem rigorosen: "Stop it!" ließen sie davon ab, uns weiter zu belästigen.

 

Muss ich mir als Lehrerin tatsächlich vorher überlegen, wo ich mit meiner Klasse hingehe? NEIN! Das werde ich nicht tun. Meine Schülerinnen, Schüler und ich haben ein verdammtes Recht darauf, alle sich bietenden Möglichkeiten zur Bildung zu nutzen! Wenn sich die Gesellschaft eine allgemein gebildete Jugend wünscht, muss sie Allgemeinbildung zulassen - auch, wenn es sich um eine Jugend mit Migrationshintergrund handelt. Diese Kinder werden in ihrer Heimat Deutschland bleiben. Es liegt an uns, dass sie dies als verantwortungsvolle und arbeitende Bürger tun (können).

 

Der Museumsbesuch ist beendet, und wir treffen uns auf dem Vorplatz. Links von uns der Potsdamer Landtag, rechts das Geschichtsmuseum und geradezu die St. Nikolai Kirche. Auf dem Vorplatz (Alter Markt) stehen drei größere Einsatzwagen der Polizei. Zwei Polizisten stehen dazwischen. Zunächst denke ich: Ach ja, der Landtag. Doch dann fallen mir Figuren auf, die auf dem Vorplatz verteilt bunt durchmischt stehen. Es sind Abbilder von Personen in Echtgröße. Die erste, dem Museum zugewandte Person steht in einer bizarr wirkenden Haltung da. Bei näherer Betrachtung stellt sich heraus, dass es sich um einen Boxer in der für Boxer typischen Haltung handelt. Ein Boxer aus längst vergangener Zeit. 

 

Ich ahnte nun, worum es sich handelt: Alle Personen waren Juden, die wohl einst in Potsdam wohnten. Ich ertappte mich bei dem Gedanken, ob ich die noch weiter entfernt stehenden Schülerinnen und Schüler heranrufen und ihnen diese Ausstellung jüdischer Bürger zeigen und sie darauf hinweisen sollte. Schließlich ist eine Reihe von ihnen palästinensischer Herkunft. 

 

Der Ausflug fand zwei Wochen nach den Ereignissen in Israel am 7. Oktober statt. Auf den Berliner Straßen liefen pro-palästinensische Proteste, unter anderem auch auf der Sonnenallee, in der viele meiner Schülerinnen und Schüler wohnen.

 

"Ja, wieso, ist
doch interessant"

 

Die Schülerinnen und Schüler näherten sich der Ausstellung. Sie folgten mir so, wie sie es bei Ausflügen gewohnt sind. Die zwei Polizisten bewegten sich auf mich zu, gingen an mir vorbei zu den Schülerinnen und Schülern. Was mich unmittelbar dazu brachte, mich umzudrehen mit dem Gedanken: Was haben sie angestellt, was eventuell zerstört, wofür muss ich mich verantworten?

 

Doch die Polizisten baten nur in aller Ruhe darum, sich möglichst vorsichtig die Ausstellung anzusehen, da die Ausstellungsstücke leicht beschädigt werden könnten.

 

Die Schülerinnen und Schüler sahen sich die Ausstellung an, lasen sich die Biographien durch. Auf meine vorsichtigen Fragen hin, ob sie denn wüssten, dass es sich um jüdische Sportler handelt, antworteten sie mir mit leichter Verständnislosigkeit in der Stimme: "Ja, wieso, ist doch interessant." 

 

Meine Sorgen waren wie weggeblasen. Offenbar haben wir einiges richtig gemacht. Rassismus, Anfeindungen, Antisemitismus sind real im Alltag unserer Schülerinnen und Schüler. Aber in unserem Klassenraum haben sie keinen Platz mehr. Und die Jugendlichen sehen Schattierungen, die vielen von uns Erwachsenen verlorengegangen sind. 

 

*Der Name wurde geändert.


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Kommentare: 3
  • #1

    ein Leser (Freitag, 01 Dezember 2023 10:14)

    Danke für diesen Beitrag und für die bewundernswert empathische und engagierte Haltung!
    Solche Lehrer*innen braucht das Land. Und solche Lehrer*innen brauchen Anerkennung und vor allem Rahmenbedingungen, die es ihnen ermöglichen, auch weiter für ihre Kinder zu brennen, ohne dabei Gefahr zu laufen, selbst auszubrennen!

  • #2

    Peter Lindner (Freitag, 01 Dezember 2023 17:33)

    Vielen Dank für diese tollen Einblicke in den Schulalltag. Ich bin sehr dankbar, dass es in Deutschland so engagierte Lehrkräfte gibt. Hoffentlich gibt es ganz viele davon. Denn alles, was wir haben, sind Köpfe und die sollten vernünftig genutzt und gebildet werden.

  • #3

    Eine Leserin (Mittwoch, 06 Dezember 2023 09:45)

    Danke für Ihre Arbeit, Ihr Herzblut und diese Einblicke! "Ihre" Kinder werden sich ein Leben lang an Sie als tolle Lehrerin erinnern - und hoffentlich auch an die Dinge, die Sie vermittelt haben. Alles Gute!