Ohne Reallabore läuft die KI an Hochschulen ins Leere
Nicht Technik entscheidet über den Lernerfolg, sondern die Art, wie sie erforscht, erprobt und verantwortungsvoll eingeführt wird. Ein Gastbeitrag von Marcus Specht und Stefan Stürmer.
Marcus Specht (rechts) ist Professor für Learning Sciences in Higher Education am Forschungszentrum CATALPA an der FernUniversität in Hagen. Er ist außerdem Professor für Digitale Bildung an der Technischen Universität Delft.
Stefan Stürmer (links) ist Sozialpsychologe und seit März 2025 Rektor der FernUniversität in Hagen. Derzeit verantwortet er das von der Stiftung Innovation in der Hochschullehre geförderte Projekt "LEAD:FUH – Learning Empowerment through Analytics and Data". Fotos: Fernuniversität Hagen.
DIE KÜNSTLICHE INTELLIGENZ bestimmt zunehmend den Alltag – auch den an Hochschulen. Studierende und Lehrende nutzen KI-Tools, von Textgeneratoren bis zu intelligenten Lernplattformen. Doch noch herrscht weitgehend Unklarheit darüber, welche Folgen diese Technologien für Lernprozesse, Bildungsqualität und Chancengerechtigkeit haben. Meist wird KI lediglich als technisches Add-on verstanden, ihre bloße Bereitstellung gilt oft schon als Fortschritt. Doch das greift zu kurz.
Die Herausforderungen sind vielschichtig: Die Integration von KI wirft grundlegende Fragen auf, die weit über den rein technischen Einsatz hinausgehen. Es geht um die Skalierbarkeit, Datenschutz und ethische Standards, aber auch um die politische Steuerung eines Bildungssystems, das mit zunehmender Digitalisierung gerecht und wirksam bleiben soll.
Hier zeigt sich die Bedeutung von Reallaboren. Diese wissenschaftlichen Innovationsräume verbinden Forschung und Praxis eng miteinander und ermöglichen es, KI-Anwendungen nicht nur zu entwickeln, sondern auch lernpsychologisch, technisch und ethisch fundiert zu prüfen. Werkzeuge wie selbstgehostete Open-Source-Modelle, die in Lernplattformen integriert sind, dienen als Beispiele, wie Datenschutz und wissenschaftliche Reproduzierbarkeit gewahrt werden können. An der FernUniversität in Hagen verfolgt das Forschungszentrum CATALPA – das Center of Advanced Technology for Assisted Learning and Predictive Analytics – diesen Reallabor-Ansatz. Unter dem Titel "Ohne Reallabore kein Fortschritt. Warum KI in Hochschulen ins Leere läuft" veranstaltet CATALPA demnächst ein Symposium in Berlin.
Die bildungspolitische Relevanz von Reallaboren
Reallabore bieten Orientierung und die Möglichkeit schnell, sehr praxisnah und dennoch wissenschaftlich untermauert Lernprozesse mit KI-gestützten Bildungstechnologien zu verbessern und hierbei von einem klar definierten Problem auszugehen. Hierbei durchlaufen KI-Anwendungen einen Reifeprozess, der von der Bewertung der technischen Machbarkeit, über die Wirkungsforschung bis hin zur Übersetzung in den Regelbetrieb geht. So können Lerninnovationen niedrigschwellig den wissenschaftlichen Transfer in die Lehrpraxis ermöglichen und als eine Art Inkubator für neue Lernlösungen fungieren.
Wichtige Komponenten bei der Entwicklung und Implementation von Reallaboren lassen sich aus der Innovations-, Evaluations-, und aktueller Hochschulforschung ableiten.
- Geschützte Innovationsräume: Innovationen brauchen Raum zum Experimentieren ohne den Druck unmittelbarer Markteinführungen. Reallabore schaffen geschützte Bedingungen für die Erprobung von KI-Anwendungen im realen Hochschulkontext, reduzieren Risiken und ermöglichen eine iterative Qualitätsentwicklung. Die Entwicklung von Lerntechnologie zeigt auch, dass eine Annäherung zwischen technologischen Möglichkeiten und pädagogischer Praxis zentral ist. Lehren müssen die Möglichkeit haben in „ihrer Sprache“ und mit ihren Fragen diese Technologien gestalten zu können beispielsweise durch Design-Thinking.
- Interdisziplinäre und iterative Entwicklung: Um zu KI-Anwendungen zu kommen, die Lehrende wirksam entlasten und gleichzeitig Studierende erfolgreicher machen, ist eine enge Zusammenarbeit von Fachdisziplinen wie Informatik, Pädagogik, Psychologie und Soziologie notwendig. Nur so können technische Funktionalität, Usability und Lernwirksamkeit in mehreren Entwicklungsphasen wissenschaftlich fundiert bewertet und laufend verbessert werden. Studien zeigen, dass der Austausch zwischen Disziplinen entscheidend ist, um unterschiedliche Perspektiven – von der technischen Machbarkeit bis zur pädagogischen Relevanz – zu integrieren.
- Verbindung von Theorie und Praxis: Erfolgreiche KI-Integration basiert auf einer systematischen Rückkopplung zwischen Nutzenden, Forschenden und Entwickelnden. Kontinuierliches Monitoring, Feedbackschleifen und evaluationsbasierte Anpassungen sind grundlegende Voraussetzungen für die nachhaltige Wirkung dieser Technologien. Nur so lassen sich rationale Schlussfolgerungen über den tatsächlichen Nutzen ziehen. Ein Beispiel ist hier das NOLAI Lab an der Universiteit Nijmegen in den Niederlanden, in dem Lehrende mit Softwareentwicklern und Forschern zusammen an Lösungen und Erkenntnissen arbeiten – ein Modell, das auch für deutsche Hochschulen Vorbildcharakter haben könnte.
- Bildungspolitische Gestaltungskraft und Strukturwandel: Die Digitalisierung der Hochschullehre ist nicht nur ein technologisches, sondern vor allem ein strukturelles und politisches Projekt. Reallabore sind wichtige Instrumente, um evidenzbasierte Entscheidungen zu treffen und Lernprozesse inklusiv und gerecht zu gestalten. Sie unterstützen die Anpassung der Bildungsinfrastruktur an neue Anforderungen und fördern einen bewussten Umgang mit technologischen Risiken und Chancen.
- Fragen der Technologiehoheit und Nachhaltigkeit: Bildungspolitik darf die ökologische Dimension nicht vergessen. KI-Systeme sind energieintensiv, und ihre globalen Ökosysteme werden von wenigen Monopolisten beherrscht. Reallabore bieten die Möglichkeit, nachhaltige und unabhängige Technologien zu fördern und politische Rahmenbedingungen zu gestalten, um eine demokratische Technologieentwicklung zu sichern. Der Aufbau einer lokalen Infrastruktur, Datenmanagement, und Forschungskompetenzen ist hierbei ausschlaggebend, eine kluge Steuerung durch Bildungspolitik wirkt sich hierbei auch direkt auf die Kontrolle über Bildungsprozess in Schulen und Hochschulen aus.
Diese Punkte zeigen: Bildungspolitik steht vor einer fundamentalen Weichenstellung. Reine Technologieverteilung genügt nicht, wenn es um die die Zukunft des Lernens geht. Stattdessen gilt es, gemeinsam mit Wissenschaft und Praxis verantwortungsvolle Innovationsprozesse zu etablieren.
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