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Zu viele Kinder auf dem Papier

Hat die KMK sich bei ihrer Schülerprognose massiv verrechnet? Der Essener Bildungsforscher Klaus Klemm warnt: Die Länder lägen schon bei grundlegenden Daten falsch. Das hätte Folgen.
Klassenzimmer mit wenigen Schuelern und einigen freien Plaetzen.

Bald mehr Platz im Klassenraum? Foto: freepik.

ES IST EIN VERTRAUTES RITUAL: Die Kultusministerkonferenz (KMK) veröffentlicht ihre neuen Schülerzahl-Projektionen, und die Bildungsforscher prüfen, wie belastbar die Grundlagen sind. Vor allem einer: der emeritierte Essener Erziehungswissenschaftler Klaus Klemm, der in den vergangenen 20 Jahren regelmäßig statistische Schwächen in den Prognosen der Länder bemängelt hatte. Auch diesmal fällt sein Urteil hart aus: "Im hohen Maße fehlerhaft" sei die neue "Vorausberechnung der Zahlen der Schüler/-innen und Absolvierenden 2024 bis 2040", die von der KMK im November vorgelegt wurde.

Das fange bei der Zahl der Lebendgeborenen an, die die Länder für 2024 angesetzt hätten: 724.534. Dabei seien es, so Klemm, tatsächlich 677.119 Kinder gewesen – fast 47.500 weniger. Besonders pikant: Zur Zeit der Veröffentlichung der jüngsten KMK-Prognose waren die diesbezüglichen Zahlen des Statistischen Bundesamtes längst nachzulesen. Wie kann das sein?

Die Kultusministerkonferenz wehrt sich gegen die Kritik. Ihr Sprecher Michael Reichmann verweist unter anderem auf die Methode hinter der Vorausberechnung; die Prognosen stützten sich nicht ausschließlich auf Geburtenzahlen, sondern auf eine "erweiterte Basisgröße", die Wanderungen und Altersstrukturen berücksichtige.

Unterschiede zwischen Ländern und ihren Zahlen

Dabei handelt es sich keineswegs nur um einen akademisch interessanten Streit, sondern Vorausberechnungen der Länder haben handfeste Folgen. Sie bestimmen maßgeblich den angenommenen Bedarf an Lehrkräften für die kommenden Jahre, sie beeinflussen die Kapazitätsplanungen der Lehramtsstudiengänge – und so indirekt sogar die Studienwahlentscheidungen von Erstsemestern.

Bildungsforscher Klemm zufolge führe allein die Differenz von knapp 50.000 weniger Geburten zur Bundesstatistik im Jahr 2024 dazu, dass 2030 in den Grundschulen rund 2.200 Lehrkräfte weniger gebraucht würden, als es die KMK-Prognose nahelege. Eigentlich eine gute Nachricht, denn so könnte mehr Spielraum für qualitative Verbesserungen entstehen, etwa beim Ausbau der Ganztagsbetreuung, auf die Grundschüler vom Schuljahr 2026/27 an ein Anrecht haben.

Die KMK sammelt für ihre Projektionen die Meldungen der einzelnen Länder ein. Steigt man etwas tiefer in die Daten ein, so fällt auf, dass einige Bildungsministerien deutlich korrekter rechnen als andere. Bayern etwa gibt 114.400 Geburten an und liegt damit fast identisch mit den tatsächlichen Zahlen des Statistischen Bundesamts. Andere dagegen weichen stark ab. Nordrhein-Westfalen zum Beispiel nennt 169.800 Lebendgeborene, offiziell ausgewiesen wurden jedoch nur 152.688.

Klemm betont, dass diese Differenzen anders als von der KMK impliziert nicht zu einem guten Teil durch Wanderungsbewegungen erklärbar seien. Der Abgleich mit den unter Einjährigen zum Jahresende 2024 – einer vom Bundesamt verwendeten Größe, die Geburten und Zu- und Abwanderung bereits integriert – bestätige dies. Zumal außer in Bayern auch in Berlin, Brandenburg, Hamburg, Rheinland-Pfalz und Sachsen-Anhalt nahezu keine Abweichungen aufträten. Besonders negativ sticht dagegen laut Klemm das Saarland hervor. "Es berichtet für 2024 genau 8.000 Lebendgeborene (bei 7.566 real) – und schreibt dann die Zahl 8.000 bis 2035 fort."

Optimistische Prognosen – und was sie bedeuten

Denn die Abweichungen zwischen Prognose und Realität beziehen sich nicht nur auf das Jahr 2024: Die KMK geht davon aus, dass die Geburtenzahlen bundesweit bis 2030 nicht unter 725.000 sinken werden und selbst 2040 noch über 710.000 liegen. Klemm widerspricht auch für 2025 deutlich: In den ersten sieben Monaten 2025 seien bundesweit 3 Prozent weniger Kinder geboren als im Vorjahreszeitraum. "Hochgerechnet aufs Gesamtjahr 2025 wären das rund 657.000 Geburten" – satte 77.500 weniger, als die KMK annimmt. Erneut mit den entsprechenden Folgen für den Lehrkräftebedarf.

Die Zahl der geburtenstarken Frauen sinke deutlich, fügt Klemm hinzu. Etwa bei den 30-Jährigen, die statistisch die meisten Kinder bekämen. "Folgt man den KMK-Projektionen, so muss davon ausgegangen werden, dass die Zahl der Kinder pro Frau deutlich ansteigen wird." Dafür gebe es keinerlei empirische Belege.

KMK-Sprecher Reichmann führt dagegen weiter aus, für die Vorausberechnung werde nicht nur die Zahl der Geburten eines Jahres herangezogen, "sondern die erwartete Entwicklung der Kinder im relevanten Altersbereich. Abweichungen zu den reinen Geburtenzahlen des Statistischen Bundesamtes können daher entstehen, weil wir eine modellierte Größe nutzen, die über die reine Geburtenstatistik hinausgeht." Hinzu komme, dass die Prognose auf einer früheren Datenbasis erstellt worden sei und zwischenzeitlich aktualisierte Ist-Zahlen vorlägen.

Nur dass sie dies eben schon zur Zeit der Veröffentlichung im November längst taten. Die gewohnte Langsamkeit der KMK – mit langfristigen Folgen? Nicht Reichmann zufolge: Das Vorgehen sei "notwendig, um nicht nur die demografische Ausgangslage, sondern auch die Dynamik durch Zuwanderung und regionale Unterschiede realistisch abzubilden. Diese Unterschiede werden in der nächsten Fortschreibung angepasst."

Klemm sagt, auch dann bleibe die Frage bestehen, warum manche Länder nahezu vollständige Übereinstimmungen zeigten und andere große Differenzen. Seine Kritik zielt weniger auf die Modellierung als auf deren uneinheitliche und teilweise offensichtlich ungenaue Anwendung.

Ein Muster mit Folgen

Der Bildungsforscher hatte bereits im Frühjahr 2025 eine Studie vorgelegt, derzufolge es im Jahr 2025 bundesweit über 500.000 weniger Kinder im Grundschulalter geben könnte als 2023 – und sogar 664.000 weniger Kinder im Krippen- und Kita-Alter. Während die KMK schon zu dem Zeitpunkt ebenfalls einen Rückgang erwartete – aber einen deutlich geringeren.

Vielleicht haben die Bildungsminister schlicht kein Interesse an zu genauen Zahlen, wenn diese einen stärkeren Schülerrückgang nahelegen? Weil sie dann schlechtere Argumente den Haushaltspolitikern gegenüber hätten, die auf den Geburtenrückgang schon jetzt mit Mittelverschiebungen von den Kitas weg reagieren?

Klemm warnt, der absehbare demografische Rückgang dürfe nicht als Argument genutzt werden, die Lehrkräftebildung zurückzufahren. Den sinkenden Schülerzahlen stünden große Aufgaben gegenüber: der Rechtsanspruch auf ganztägige Betreuung im Grundschulalter, das Startchancenprogramm, die Verringerung der Zahl Jugendlicher ohne Abschluss.

So bleibt es das vertraute Ritual: Die KMK prognostiziert, Klemm kritisiert, die KMK erklärt – und am Ende bleibt offen, ob ihre Zahlen diesmal wirklich tragen.

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