"Wer Zugewanderte isoliert, verschärft das Problem"
20 Prozent der Erwachsenen in Deutschland können kaum lesen und schreiben. Und doch zeigt ein internationaler Vergleich: Während Länder wie Ungarn oder die USA zurückfallen, hält die Bundesrepublik ihr Niveau stabil. Ein Interview mit der Alphabetisierungsforscherin Anke Grotlüschen.
Anke Grotlüschen ist Professorin für Lebenslanges Lernen an der Universität Hamburg und verantwortete mit den "LEO"-Studien 2010 und 2018 die ersten bevölkerungsrepräsentativen Studien zur Alphabetisierung in Deutschland. Ihre jetzt veröffentlichte Sonderanalyse "LEO PIAAC 2023" knüpft daran an und liefert einen internationalen Vergleich. Foto: Uni Hamburg, Rechenzentrum-Medienzentrum / Mentz.
Frau Grotlüschen, zum Weltalphabetisierungstag am 8. September hat ein Wissenschaftlerteam unter Ihrer Führung Daten von PIAAC ausgewertet, der internationalen PISA-Studie für Erwachsene. Mit dem Ergebnis, dass 20 Prozent der über 18-Jährigen in Deutschland als "gering literalisiert" gelten. Was bedeutet das?
PIAAC hat fünf Kompetenzstufen. Die niedrigste, Level One genannt, umfasst Menschen, die längere Texte nur mühsam verstehen und Inhalte kaum schriftlich wiedergeben können. Über eine Postkarte hinaus wird es schwierig. Im Alltag heißt das: Sie können zwar rudimentär lesen und schreiben, brauchen dafür aber sehr viel Zeit und vermeiden es oft.
Spricht man da nicht von "funktionalem Analphabetismus"?
Der Begriff wird heute in der Forschung vermieden, weil er so stigmatisierend wirkt. Wir sprechen hier von einem Bereich noch unterhalb des Level One der PIAAC-Studie: Menschen, die zwar Buchstaben, Wörter und einfache Sätze entziffern können, aber nur mit großen Fehlern. Die deutsche LEO-Studie ("Leben mit geringer Literalität"), die wir 2010 und 2018 durchgeführt haben, fasste die Lesekompetenzen von unter Level One und Level One zusammen. Wir haben das bei der Auswertung der aktuellen PIAAC-Daten auch getan – und kamen so auf die rund 20 Prozent gering Literalisierten.
20 Prozent gering Literalisierte – ist das für ein reiches Land wie Deutschland ein Erfolg – oder ein Versagen am Ende der Dekade der Alphabetisierung, die Bund und Länder ab 2016 für die Bundesrepublik ausgerufen hatten?
Zunächst wirkt die Zahl erschreckend hoch. Im Zeitvergleich zeigt sich aber: Sie ist stabil geblieben. Das ist zwar kein Fortschritt, aber immerhin auch keine Verschlechterung.
"Österreich stieg von 16 auf 27 Prozent –
trotz ähnlicher Zuwanderung, aber anderer Integrationspolitik."
Und im internationalen Vergleich?
Viele Länder haben deutlich schlechtere Ergebnisse im Vergleich zum ersten PIAAC-Durchgang 2012. Etwa die USA, Ungarn oder Israel. Besonders aufschlussreich ist Österreich: Dort stieg der Anteil von 16 auf 27 Prozent – trotz ähnlicher Zuwanderung, aber mit anderer Integrationspolitik. Vor diesem Hintergrund kann man sagen: Die Alphabetisierungsprogramme in Deutschland haben offenbar geholfen, die Lage zu stabilisieren.
Das ist spannend – weil es im Gegensatz zur gegenwärtigen Debatte über die angeblich gescheiterte Integrationspolitik zu stehen scheint, über die negativen Folgen der Einwanderung Geflüchteter. Deutschland schafft es, stabil zu bleiben – während in Ländern, die die Zuwanderung stark begrenzt haben, sich die Literalität teilweise deutlich verschlechtert hat?
Die OECD hat von Anfang an gezeigt: Ja, Zuwanderung erklärt einen Teil der Verschlechterung in vielen Ländern. Aber selbst wenn man Zugewanderte herausrechnet, bleibt ein massives Problem. Entscheidend ist, wie Integration gelingt. Wer Zugewanderte isoliert, ihnen Schulbildung oder Sprachkurse verweigert, verschärft das Problem – und genau das schlägt sich in den Statistiken nieder.
Welche Länder zeigen diesen Zusammenhang besonders deutlich?
Wenn man auf Staaten mit lang anhaltend rechten Regierungen schaut – USA, Israel, Ungarn, Polen, Italien –, dann sieht man dort parallele Entwicklungen: Rechtsruck und sinkende Literalität. Österreich hatte ich schon genannt. Ungarn und Israel stechen besonders hervor, die USA ebenso. Der Trend ist klar: Gesellschaften mit restriktiver Integrationspolitik und starkem Rechtsdrall verlieren auch an literalen Kompetenzen.
Was genau hat Deutschland demgegenüber besser gemacht?
Das Geflüchteten-Panel zeigt, dass die Integration in Arbeit und Wohnungsmarkt vergleichsweise gut gelungen ist. Viele Geflüchtete konnten schon nach zwei Jahren eigene Wohnungen beziehen, und auch die Einbindung in Beschäftigung funktioniert. Ein Grund war die Reform des Aufenthaltsrechts: Wer eine realistische Bleibeperspektive hatte, durfte früh Integrationskurse besuchen und arbeiten – das hat sich ausgezahlt.
Auch das hören wir derzeit anders. CDU-Generalsekretär Carsten Linnemann sagte kürzlich in der Neuen Osnabrücker Zeitung: "Seit 2015 sind 6,5 Millionen Menschen zu uns gekommen und weniger als die Hälfte ist heute in Arbeit – ich finde das, gelinde gesagt, nicht zufriedenstellend."
Die tatsächlichen Zahlen sind deutlich besser, nach acht Jahren sind 68 Prozent der Geflüchteten in Arbeit, die Quote der Deutschen liegt bei 77 Prozent. Das Geflüchtetenpanel zeigt, daß Wohnen und Arbeit gelingt, aber Schriftsprache braucht mehr Zeit: Der Anteil neu Zugewanderter unter den gering Literalisierten ist zwischen 2012 und 2023 um 18 Prozentpunkte auf 46 Prozent gestiegen. Immerhin bleibt die Beschäftigungsquote auf hohem Niveau stabil bei derzeit 63 Prozent. Allerdings arbeiten in Deutschland gering Literalisierte fast ausschließlich in einfachen Tätigkeiten. In der Schweiz dagegen finden sie häufiger besser bezahlte Jobs, weil der Arbeitsmarkt dort insgesamt besser ist. Aber auch, weil dort vor allem Arbeitsmigration dominiert, etwa aus Italien oder Portugal, während Syrer und Ukrainer vor allem nach Deutschland und Österreich kamen.
Und was war innerhalb der von Bund und Ländern ausgerufenen Alpha-Dekade besonders wichtig?
Dass es in den Alphabetisierungskursen nicht nur ums Lesen- und Schreibenlernen ging, sondern auch um politische, finanzielle, gesundheitliche und digitale Grundbildung. Gerade die digitale Dimension ist entscheidend: Fake News erkennen, Werbung von seriösen Informationen unterscheiden, Bubbles verstehen. Politische Grundbildung heißt, Informationen selbst recherchieren, eine eigene Haltung entwickeln. Wer nicht gut lesen kann, läuft Gefahr, sich an andere dranzuhängen, die ihm vorgeben, was er denken soll – und genau das nutzen Populisten aus.
Wenn 18 Prozent der Bevölkerung in Deutschland Zugewanderte der ersten Generation sind, ihr Anteil unter den gering Literalisierten aber inzwischen bei 46 Prozent liegt: War diese Entwicklung unvermeidbar, weil viele von ihnen aus wenig entwickelten Bildungssystemen einwandern? Oder hat Deutschland hier auch Fehler gemacht?
Im ersten Schritt war es völlig richtig von der Politik, den Fokus auf Arbeit und Wohnungsmarkt zu legen. Wer nach der Flucht schnell eine eigene Wohnung beziehen und einer Arbeit nachgehen kann, gewinnt Stabilität – das hat die Integration insgesamt gestützt. Aber gleichzeitig hat sich gezeigt: Auf der Bildungsseite haben wir zu wenig getan. Die Daten unserer LEO-Studie waren schon 2018 eindeutig: Selbst viele der Menschen, die an einem Deutschkurs teilgenommen haben, bleiben bei der Schrift im Bereich geringer Literalität hängen. Und gleichzeitig berichten sie von einem sehr hohen Bedürfnis nach mehr Unterricht und einer großen Bereitschaft, weiterzulernen. Das heißt: Die Alphabetisierung muss bunter werden, muss Lesen und Schreiben einerseits und Sprachlernen andererseits heute zusammenbringen. Wer sagt, die Bildungsintegration erledige sich von allein mit der zweiten Generation, schreibt die Zugewanderten der ersten Generation im Grunde ab. Das ist nicht nur unfair, sondern verschenkt Potenzial.
"Das ist spektakulär, ich hätte das
vor wenigen Jahren noch undenkbar gefunden."
Der wahrscheinlich positivste Befund der PIAAC-Studie lautet unterdessen: In der zweiten Generation fallen Zugewanderte beim Thema geringe Literalität statistisch kaum noch auf.
Das ist spektakulär – ich hätte das vor wenigen Jahren noch undenkbar gefunden. Lange hieß es, die zweite Generation hänge hinterher, sei abgehängt, ausgeschlossen, ghettoisiert. Jetzt zeigt sich: Gerade in Deutschland haben bildungspolitische Maßnahmen gegriffen. Zentral ist der Ansatz, die Schwächsten mitzunehmen – Kinder und junge Erwachsene mit Inklusionsbedarf, mit Lernschwierigkeiten, aus armutsbetroffenem Kontext, ebenso Menschen mit Sprachförderbedarf oder mit zugewanderten Familien. Wenn diese Gruppen gezielt unterstützt werden, hebt das den Gesamterfolg des Bildungssystems. Genau das ist passiert.
Auch das ausnahmsweise eine positive Perspektive auf ein Bildungssystem, dem ansonsten ständig eine Überforderung durch all die Integrations- und Inklusionsaufgaben bescheinigt wird. Sie sprechen dabei sowohl von Armut als auch von Migration als Risikofaktoren.
Schaut man genauer hin, ist Migration selbst nicht der ausschlaggebende Faktor. Rechnet man statistisch alles gegeneinander, bleibt Armut als der zentrale Prädiktor. Ökonomischer Status entscheidet darüber, ob Menschen ihren Bildungsstand verbessern können oder nicht. Viele Zugewanderte sind betroffen, weil sie häufig in schlecht bezahlten Jobs landen. Aber die Ursache ist nicht die Herkunft, sondern die ökonomische Lage. Bildungspolitisch brisant ist: Rechtspopulistische Parteien stellen sich sowohl gegen Inklusion als auch gegen armutsorientierte Förderung und Zuwanderung, und auch deutlich gegen Grundbildung und Alphabetisierung von Erwachsenen. Damit lassen sie die Schwächsten fallen – und riskieren, dass sich genau jene Erfolge, die wir jetzt sehen, wieder ins Gegenteil verkehren.
Was folgt daraus für die Zeit nach 2026, wenn die Alpha-Dekade endet? Im schwarz-roten Koalitionsvertrag wird nur vage eine Weiterführung in Aussicht gestellt.
Die nächste Phase muss deutlich integrativer ansetzen. Es reicht nicht, Lesen und Schreiben isoliert zu fördern. Nötig sind Angebote, die breiter aufgestellt sind – politische, finanzielle, gesundheitliche und digitale Grundbildung gehören genauso hinein. Und: Die Förderlogik sollte sich stärker an den PIAAC-Niveaus orientieren, also an Level 1, statt an den ganz unteren Stufen der LEO-Studie. Das würde helfen, mehr Menschen einzubeziehen, die heute noch knapp über der formalen Schwelle durchs Raster fallen, und es würde zugleich Stigmatisierung abbauen. Alphabetisierungszentren sind Orte, wo sich Deutsche mit kleinem Lohn oder kleiner Rente, Geflüchtete mit großen Träumen und Menschen mit Krisenerfahrungen begegnen und einander anerkennen. Das verhindert, dass sich arme Leute gegen genauso arme Zuwanderer aufhetzen lassen. In den Kursen und Projekten entsteht Verständigung, weil es alle kennen, in der Nachtschicht oder in Leiharbeit zu stecken. In der Grundbildung begegnen sie sich Wunsch, richtig lesen und schreiben zu lernen.
Tatsächlich stagniert die Weiterbildungsquote unter gering Literalisierten, ob zugewandert oder nicht, seit vielen Jahren bei etwa 25 Prozent.
Ein zentraler Grund ist die enge Bindung von Weiterbildung an Erwerbstätigkeit. Wer in gut bezahlten Jobs arbeitet, bekommt häufiger Angebote. Wer dagegen in einfachen, oft körperlich belastenden Tätigkeiten steckt, hört selten: "Mach doch mal eine Fortbildung." Da gibt es höchstens verpflichtende Sicherheitsschulungen. Dabei wissen wir aus der LEO-Studie: Gering Literalisierte würden solchen Empfehlungen durchaus folgen – wenn ihr Vorgesetzter sie ausspricht. Aber sie sind in Berufen, in denen Eigeninitiative nicht vorgesehen ist, man tut, was einem gesagt wird.
Was müsste sich ändern, um mehr Menschen zu erreichen?
Zum einen braucht es eine stärkere Verantwortung der Unternehmen: Vorgesetzte haben eine Schlüsselrolle, wenn es darum geht, Beschäftigte für Weiterbildung zu gewinnen. Zum anderen müssen wir die Formate variabler machen. Nicht jeder fühlt sich von "Kursen" oder "Workshops" angesprochen – manchmal hilft es schon, von "Veranstaltung", "Projekt" oder "Festival" zu sprechen. Und wir wissen: Aufsuchende Grundbildung, also Angebote direkt im Quartier oder im Betrieb, hat große Wirkung. Sie ist aber schwer zu organisieren, weil man Lernsettings buchstäblich in Stadtteile oder Betriebe tragen muss, mit allen logistischen Problemen – passende Räume, ungewöhnliche Uhrzeiten, Lehrkräfte, die bereit sind, morgens um sieben Reinigungskräfte im Betrieb zu schulen. Genau diese Flexibilität bräuchte es, wenn man die Menschen erreichen will, die bisher außen vor bleiben.
"Hier ist etwas spezifisch Deutsches im Spiel,
das wir noch genauer erforschen müssen."
2012 beschrieben sich noch 77 Prozent der gering Literalisierten in Deutschland als gesund, 2023 sind es nur noch 58 Prozent. Eine dramatische Verschlechterung, die wir in anderen Ländern wie den USA oder Österreich nicht sehen.
Dass sich geringe Literalität, Armut und schlechte Gesundheit gegenseitig verstärken, ist seit Langem bekannt und auch durch die LEO-Studien belegt. Wer nicht gut lesen und schreiben kann und zugleich wenig Geld hat, landet häufiger in körperlich harten oder psychisch belastenden Jobs, wohnt beengt, hat keinen Park in der Nähe. Das gibt es in Österreich oder den USA genauso. Umso irritierender ist, dass der Wert in Deutschland so stark abgesunken ist.
Haben Sie eine Erklärung?
Eine Erklärung könnte ein kultureller Wandel sein: In Deutschland wird heute offener über schlechte Gesundheit gesprochen. Es ist akzeptierter geworden, Rückenschmerzen oder Burnout zu benennen und Unterstützung einzufordern. Das könnte die Selbsteinschätzungen verändern, wenn in anderen Ländern gesundheitliche Probleme stärker tabuisiert bleiben. Möglich ist auch ein Corona-Effekt: Die PIAAC-Erhebungen begannen, als Deutschland sich teilweise noch in Lockdowns befand, mitunter mit massiven Einschränkungen, während andere Länder da schon lockerer waren. Zudem gibt es bei der Wahrnehmung der eigenen Gesundheit möglicherweise Unterschiede zwischen früheren Ostblock- und westlichen Staaten. In Deutschland gehen diese Unterschiede quer durchs Land, sie könnten auch hier eine Rolle spielen. Generell brauchen wir weitere Forschung, um solche Faktoren besser zu verstehen. Sicher ist aber: Mit der Zuwanderung hat der Befund nichts zu tun – sonst müsste man denselben Effekt auch in Österreich sehen. Hier ist etwas spezifisch Deutsches im Spiel, das wir noch genauer erforschen müssen.
Auffällig ist auch: Der Männeranteil unter den gering Literarisierten ist in Deutschland von 48 auf 54 Prozent gestiegen – obwohl Männer insgesamt weniger als die Hälfte der Bevölkerung stellen. Warum trifft es zunehmend die Männer, was sagt das über unser Bildungssystem?
Wir sehen hier vermutlich eine Entwicklung, die sich aus der Schule ins Erwachsenenalter fortschreibt. In PISA schneiden Mädchen beim Lesen regelmäßig besser ab als Jungen – und zwar international. Das wird häufig mit Geschlechtsstereotypen erklärt: Lesen gilt als "Mädchensache", ist für Mädchen positiv besetzt, während Jungen es eher meiden. Bisher war das ein Jugendphänomen, das sich später auswuchs. Jetzt sieht es so aus, als ob es im Erwachsenenalter stärker sichtbar bleibt.
Heißt das, wir haben es mit einer dauerhaften Verschiebung zu tun?
Das ist eine der großen offenen Fragen. PIAAC erfasst auch Lesegewohnheiten, aber die Daten sind nach Geschlecht noch gar nicht ausgewertet. Die jetzige LEO-PIAAC-Auswertung ist eine Art Aufschlag – ohne eigenes Budget durchgeführt. Sie wirft mehr neue Fragen auf, als sie beantworten kann. Genau da müssen wir weiterforschen: Ob Lesegewohnheiten, Geschlechterrollen oder andere Faktoren die Unterschiede erklären – und ob Bildung genug tut, um gerade Jungen beim Lesen stärker mitzunehmen.
"Rechtspopulisten gelingt es, Menschen mit geringer Literalität
einzureden, sie würden von rechts gut vertreten.
In Wahrheit lassen diese Parteien die Schwächsten fallen."
Vor allem abgehängte Männer wenden sich verstärkt rechten Parteien zu. Auch die PIAAC-Daten zeigen: Gering Literalisierte haben deutlich weniger soziales Vertrauen als die übrige Bevölkerung (23 statt 46 Prozent) und halten sich häufiger für politisch machtlos (17 statt 33 Prozent). Muss man sagen: Das ist gefährlich für die Demokratie?
Ja, absolut. Rechtspopulisten gelingt es, Menschen mit geringer Literalität einzureden, sie würden von rechts gut vertreten. Schaut man auf Länder mit starken populistischen Bewegungen, sieht man, wie das Institutionenvertrauen insgesamt sinkt. Besonders paradox: Gerade die am schlechtesten Literalisierten haben dort das höchste Vertrauen in rechte Regierungen – weil sie glauben, diese täten etwas für sie. In Wahrheit lassen diese Parteien die Schwächsten fallen.
Wie weit ist Deutschland davon entfernt?
In Deutschland sehen wir diese Entwicklung noch nicht so stark, aber die Gefahren sind da. Österreich, Frankreich und die USA sind schon deutlich weiter, in Ungarn und Polen ist es massiv. Dort richten sich rechte Parteien gezielt an arme, gering gebildete, gering literalisierte Bevölkerungsschichten – und holen sie ab. Aus der LEO-Studie wissen wir: In diesem Segment liegt der Nichtwähleranteil bei fast 20 Prozent. Genau hier erzielt die AfD besonders große Erfolge, indem sie diesen Menschen ein Schein-Angebot macht. Das ist hoch riskant für die Demokratie.
Wird das von der Politik erkannt? Die Genese Ihrer Studie ist ja selbst bemerkenswert: 2010 und 2018 gab es eigenständige LEO-Untersuchungen. Diesmal hatten Sie die PIAAC-Daten zur Verfügung und haben die zu einer Art "LEO 3" umgerechnet. Sie sprechen in Ihrem Ergebnisband von einem "No-Budget"-Projekt.
Das war es auch, und Sie sehen es schon an der Titelseite – ohne Förderlogo, ohne finanzielle Unterstützung. Unter der letzten Bundesregierung war das Thema schlicht nicht gewollt. Vor allem die FDP setzte stärker auf die Selbstverantwortung der Betroffenen. Das hatte zur Folge, dass die Alpha-Dekade ausgebremst wurde und Forschungsgelder versiegten. Dabei ist PIAAC ein unglaublich reicher Datensatz, der dringend weiter ausgewertet werden müsste. Andere Länder machen es vor: Die nordischen Staaten haben einen PIAAC-Hub gegründet, finanzieren weitere Forschung dazu und lassen sich beraten. In Deutschland dagegen herrschte Fehlanzeige. Wir hoffen, dass die aktuelle Ministerin das Thema wieder aufgreift.
Was eigentlich ein Selbstläufer sein sollte: Wenn die Alpha-Dekade 2026 offiziell endet, müssten Bund und Länder doch die Wirksamkeit all ihrer Maßnahmen überprüfen wollen?
Natürlich, das Evaluations-Argument ist längst im Raum. Die Zuständigkeit für die Alphabetisierung wechselt gerade das Ressort: vom bisherigen Bildungs- und Forschungsministerium ins Haus der neuen Bildungs- und Familienministerin Karin Prien. Im Moment gibt es noch keine klaren Strukturen, aber eine Hoffnung: Es wäre ein starkes Signal, wenn die Ministerin den Weltalphabetisierungstag als Anlass nehmen würde, um den Stand der Literalisierung in Deutschland einzuordnen und Perspektiven für die Zeit nach der Alpha-Dekade aufzuzeigen. Wir werden sehen. Hauptsache, das Thema wird im Herbst ein solides Stück vorangebracht.
Kommentare
#1 - Nichtwähleranteil
"Dort richten sich rechte Parteien gezielt an arme, gering gebildete, gering literalisierte Bevölkerungsschichten – und holen sie ab. Aus der LEO-Studie wissen wir: In diesem Segment liegt der Nichtwähleranteil bei fast 20 Prozent."
Was soll das wohl bedeuten, wo bei Bundestagswahlen eine Wahlbeteiligung von 80 % als "hoch" eingestuft wird und bei der letzten Landtagswahl in NRW die Wahlbeteiligung bei nur 55,5 % lag? So gesehen sind 20 % Nichtwähler nicht viel, sondern wenig. Hat Frau Grootlüschen vielleicht was ganz anderes gemeint? Um die Kompetenz in Sachen Prozentrechnung steht es wohl noch schlechter als um die Literalität. Das hat auch was mit der (Un-)Präzision der Sprache zu tun.
#1.1 - Rund 20% der gering Literalisierten sind Nichtwähler
Danke für die Rückfrage - wir haben in LEO 2018 gesehen, dass Erwachsene mit geringer Literalität zu 20% Nichtwählende sind, alle anderen Werte waren eher vergleichbar mit der Gesamtbevölkerung.
Aus der Triggerpunkte-Studie von Mau et al. wird deutlich, dass die extreme Rechte besonders den Nichtwählenden ein Angebot macht.
Das waren die Eckpfeiler meines Arguments :-)
#1.1.1 - Nichtwähleranteil
Eckpfeiler meiner Verwunderung sind folgende:
1. Den weniger Gebildeten Angebote zu machen, gilt nicht grundsätzlich als schlecht. Die SPD war lange eine Arbeiterpartei und nicht eine für Politikwissenschaftler. Die taz schreibt sogar: "Von der CDU bis zur Linkspartei experimentieren alle mit neuen Beteiligungsformaten, im Internet wie in der Fußgängerzone. Die SPD setzt im Wahlkampf auf Hausbesuche, die Linkspartei versucht mit einfachen Botschaften gezielt Ungebildete zu adressieren." Hier steht's:
https://taz.de/Kommentar-Wahlbeteiligung/!5065078/
2. Was sind denn "20 % Nichtwählende"? Ich wundere mich über den (nicht plausiblen, aber von Ihnen vermittelten) Eindruck, dass die besser Gebildeten offenbar mehr Nichtwähler in ihren Reihen haben, denn anders sind Wahlbeteiligungen von nur 60-70 % bei "normalen" Wahlen nicht zu erklären, wenn die mit geringer Literalität zu 80 % wählen. Im Bericht zur LEO-Studie 2018 steht es allerdings auf Seite 34 unten anders. Auch die Friedrich-Ebert-Stiftung schreibt dazu: "Die Wahlbeteiligung ist in den letzten Jahrzehnten nicht nur gesunken. Sie ist auch ungleicher geworden. Dabei sticht ein Muster deutlich hervor: Je ärmer ein Stadtteil oder Wahlkreis, desto weniger Wahlberechtigte machen von ihrem Wahlrecht Gebrauch. Das korreliert mit den Wahlergebnissen der Parteien: Linkspartei, SPD und AfD erzielen die besten Ergebnisse dort, wo die Wahlbeteiligung niedrig ist." Hier steht's:
https://www.fes.de/presse/aktuelle-pressehinweise/studie-wer-sind-deutschlands-nichtwaehlerinnen
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