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Der traurige Tod der Experimentierfreude

Wissenschaftliche Erkenntnis lebt vom Ausprobieren. Doch geht es um die Hochschulpolitik, werden die meisten Wissenschaftler plötzlich zu Fundamentalisten und rufen: Bloß keine Experimente! Schade eigentlich. Ein Gastbeitrag von Stefan Winter.

Foto: Max Pixel

WIE KOMMT DER Mensch zu Erkenntnissen? Er pflückt eine unbekannte Beere und probiert sie. Wenn er tot umfällt, macht er das nicht wieder. Seine Horde auch nicht. Irgendwann isst einer aus der Horde eine andere unbekannte Beere. Da nicht alle Beeren giftig sind, gibt es heute Lammschulter mit Rosmarin und Johannisbeeren. Lecker!

 

Nun ist zu konstatieren, dass die Techniken des Experimentierens seit der Zeit der ersten Johannisbeeren sehr viel ausgefeilter geworden sind. Ob in der Physik, beim Testen von Medikamenten oder in der Psychologie: Wir experimentieren, um zu neuen Erkenntnissen zu kommen. Ich kann das zwar nicht beweisen, aber ich vermute doch, dass von allen Methoden der Erkenntnisgewinnung das Experiment das erfolgreichste Verfahren der Menschheit ist. Dabei sollte man den Begriff des „Experiments“ nicht zu eng fassen. Es geht nicht unbedingt um statistische Evidenz auf Basis hinreichender Fallzahlen. Auch der Bau eines Prototyps ist ein Experiment. Wenn der neue Flieger vom Himmel fällt, stimmt was nicht und gegebenenfalls muss man die Stelle der Testpiloten neu ausschreiben. Wenn der Flieger nicht vom Himmel fällt, geht’s zwei Jahre später damit nach Mallorca. 

 

Und was passiert in der Hochschulpolitik? Keiner will experimentieren, keiner will Prototypen testen! Stattdessen toben allenthalben die Schlachten von Ideenfundamentalisten, von denen jeder absolut sicher ist, Recht zu haben. Für mich besonders deprimierend ist, dass sich an diesen Schlachten stets auch Wissenschaftler beteiligen. In ihren eigenen Disziplinen würden die den Skeptikern einfach sagen: „Machen wir doch ein Experiment, dann sind wir hinterher schlauer“. Aber kaum verlassen sie ihr Fachgebiet, werden sie selbst zu Fundamentalisten, die keinesfalls mehr experimentieren wollen. Wozu auch, als Fundamentalist hat man ja schließlich Recht. 

 

Wir haben die Diplomstudiengänge abgeschafft. Es gab Gründe dafür und Gründe dagegen. Wären wir wirklich an Erkenntnissen interessiert gewesen, hätten wir uns Gedanken darüber gemacht, nach welchen Kriterien wir die Systeme „Diplom“ vs. „BA/MA“ bewerten wollen und wie wir die Ausprägungen dieser Kriterien hinterher messen. Dann hätten wir noch versucht, Selbstselektionseffekte der Studierenden herauszurechnen. Und am Ende hätten wir sagen können, was besser ist. Diese Aussage wäre aufgrund der Vielzahl möglicher Einflussgrößen nicht perfekt. Aber sie wäre um Welten besser als eine Entscheidung auf Basis fundamentaler Vorurteile in der einen oder der anderen Richtung. Der Mangel an Experimentierfreude beschränkt sich natürlich nicht auf den Hochschulbereich. Die Debatte um G8/G9, die Debatte um Inklusion? Fast nirgends wird erstmal ausprobiert, wie man etwas machen sollte. Vor allem: Wie man es richtig machen könnte.

 

An der Beerdigung der Experimentierfreude nimmt unsere Gesellschaft Tag für Tag mit großer Hingabe teil. Das schönste Format der Trauerfeier ist sicherlich die Talkshow. Hier haben immer alle gleichzeitig uneingeschränkt Recht. Und am Ende schließt sich jeder Zuschauer der einen oder anderen Position an und hat ab dann auch uneingeschränkt Recht. Ich habe Jahrzehnte darauf gewartet, dass mal einer sagt: „Lasst es uns doch ausprobieren“, und alle anderen hätten dann freudig erregt voller Neugier auf die Wahrheit zugestimmt. Ach, was wäre das ein Fest gewesen. Eine gute Flasche Rotwein, zur Abwechslung mal aus Freude! Aber es hat nicht sein sollen. Daher, liebe Anne, liebe Sandra, ich kann Euren Trauerfeiern nicht mehr beiwohnen. Ich feile vielmehr sogar schon an meiner Karriere als Nichtwähler.

 

Mit der Weigerung, selbst zu experimentieren, ist es jedoch nicht getan. Selbst dort, wo in der Hochschulpolitik Experimente laufen, ignoriert man dann die Ergebnisse. Das bedrückendste Beispiel sind die Studiengebühren. An den staatlichen Hochschulen sind sie überall wieder abgeschafft worden. Die Abschaffung wurde allenthalben mit sozialer Selektion, Ungerechtigkeit und Abschreckung begründet. Was aber sagt das Experiment? Das Experiment sagt, dass Privathochschulen seit mehr als anderthalb Jahrzehnten rasant wachsen und damit Studiengebühren auf dem Vormarsch sind. Das Ergebnis dieses Experiments ist, dass es massenhaft Menschen gibt, die bezahlen können und dazu offensichtlich auch bereit sind. Vermutlich gibt es auch welche, die das nicht können. Von ersteren könnte man problemlos Geld nehmen, von letzteren sollten wir es lassen. Das wissen wir, weil wir experimentiert haben. Aber Schlussfolgerungen ziehen wir daraus nicht, wie leben lieber mit Unterfinanzierung, überfüllten Hörsälen und NC.

 

Das nächste Nichtexperiment kommt auch schon wieder in Sicht. Je nach Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Medizin-NC muss vermutlich demnächst die Hochschulzulassung neu geregelt werden. Dabei wird es dann in der Politik nicht darum gehen, etwas gegen die Mangelwelt des Numerus Clausus zu unternehmen, sondern den Mangel nur nach neuen Kriterien zu verteilen. Abinote versus Zulassungstest wird dann eines der nächsten Schlachtfelder der Fundamentalisten. Hätten wir vor 20 Jahren das einfach mal ausprobiert, dann wüssten wir heute, ob wir mit oder ohne Zulassungstests die besseren Ärzte hätten. Ich wette aber, dass wir uns das Ausprobieren auch diesmal ersparen werden. Wozu auch, es gibt ja Experten, die es absolut sicher wissen.

 

Stefan Winter ist Professor für Betriebswirtschaftslehre an der Ruhr-Universität Bochum.

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Kommentare: 1
  • #1

    Greisler (Dienstag, 12 September 2017 10:50)

    Bei aller Sympathie für die Grundthese, die beschriebenen Beeren sind alle schon oft probiert worden. Fehler und Erfolge lassen sich überall auf der Welt studieren. BA/MA gibt es an vielen Orten, Studiengebühren auch in allen Varianten, 12 Jahre Schule auch, Zulassungstests auch. In keinem der Fälle ist das Bildungssystem zusammengebrochen, also im übertragenen Sinn, der Tester an der Beere gestorben. Ob die Beeren jedem schmecken, ist eine andere Frage. Experimentiert wird jetzt gerade mit digitaler Lehre. Da kann noch etwas Neues herauskommen. Da passt die These. Daran sollten wir uns beteiligen.