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Akademische Kirchturmpolitik

Das alte Diplom spukt nicht nur in den Köpfen vieler Politiker herum. Auch viele Hochschullehrer romantisieren längst Vergangenes. Ein  Gastkommentar von Jens Rolff.

MIT GROSSEM INTERESSE las ich Jan-Martin Wiardas Kommentar „Da war doch was an der Sorbonne“ in seinem Blog und im Tagesspiegel. Als jemand der von 2000 bis 2012 an der Universität Sheffield in England gearbeitet hat, bin ich immer noch irritiert, wieviel vom alten Diplom nicht nur in den Köpfen vieler Politiker herumspukt, sondern auch in den Köpfen meiner Kolleginnen und Kollegen. Im Prinzip sind viele Kurse nur aus dem Diplom in das neue System übernommen worden, ohne dabei auch die Inhalte zu überarbeiten.

Die Idee der Freizügigkeit in den Wissenschaften ist damit oft nicht gegeben. Die europäischen Ideale, die sie erwähnen, werden oftmals schon beim Übergang vom Bachelor in den Master verletzt. Zulassungsordnungen für Masterstudiengänge sind oftmals so restriktiv, dass nur Studierende aus demselben Fach von derselben Hochschule zugelassen werden. Ein Wechsel oder Quereinstieg, der zum Beispiel in Großbritannien üblich ist, ist damit sehr schwierig.

Diese und andere Beispiele von akademischer Kirchturmpolitik unterlaufen leider die Öffnung der Hochschulen. Es ist auch bedauerlich, dass ein sehr gut funktionierendes Bachelor-/Master-System, nämlich in Großbritannien (und vor allem England) durch die Kombination aus de facto Privatisierung und Brexit unter die Räder kommt. Dies führt zur Mittelkürzung, zur Abwanderung internationaler Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler und vermutlich mittelfristig auch zu einer verringerten Zahl an Studieninteressierten.

Zum Schluss noch eine Beobachtung, die vermutlich das Festhalten am Diplom, wie es Herr Brodkorb propagiert, zumindest teilweise erklärt. Viele Leute romantisieren die Zeit Ihres Studiums. Das mag trivial klingen, aber es begegnet mir sehr oft und auch bei aktiven Hochschullehrinnen und-lehrern.

Jens Rolff ist seit 2012 Professor für Evolutionsbiologie an der Freien Universität Berlin. Vorher war er NERC Research Fellow und Senior Lecturer an der Universität Sheffield.


NÄCHSTE WOCHE KOMMT ES ZU DIPLOM-SHOWDOWN IN DER KULTUSMINISTERKONFERENZ. DANN ENTSCHEIDEN DIE WISSENSCHAFTSMINISTER, OB DER ALTE ABSCHLUSS EINE NEUE AUFWERTUNG ERFÄHRT. DETAILS FINDEN SIE HIER.

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