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Was von den Beschlüssen blieb

Vor einer Woche haben die Regierungschefs von Bund und Ländern erste Shutdown-Lockerungen beschlossen. Ihre Pläne für Kitas und Schulen haben teilweise heftige Reaktionen ausgelöst. Wo steht die Debatte jetzt? Eine Zwischenbilanz in drei Punkten.

Angela Merkel bei der Pressekonferenz am 15. April 2020. Screenshot der Fernsehübertragung.

HEUTE VOR EINER WOCHE haben Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) und die Regierungschefs der Länder die schrittweise Lockerung der schärfsten gesellschaftlichen Einschränkungen im Kampf gegen das Coronavirus beschlossen. Mit Blick auf die Schulen und Bildungseinrichtungen hatte ich in meiner ersten Analyse der Entscheidungen noch am selben Abend geschrieben: "Ihrer Mindestverantwortung gegenüber Millionen Kindern und Jugendlichen sind die Regierungschefs damit gerecht geworden. Mehr aber auch nicht." Zentral für die Qualität der beschlossenen Maßnahmen waren für mich erstens ein gemeinsamer Zeitplan, ein ausreichendes Maß an Einheitlichkeit und genügend Vorlauf vor den Öffnungen; kritisch sah ich zweitens die gewählte Priorisierung nach Altersgruppen und Klassenstufen; und drittens die Absage der Spitzenpolitiker an eine Alltagsmaskenpflicht.

 

Was ist seitdem passiert? Haben die Regierungschefs und ihre Kabinette gemerkt, dass sie an den neuralgischen Stellen nachbessern müssen? Zeit für eine Zwischenbilanz.



1. Zeitplan, Einheitlichkeit und genügend Vorlauf

 

Am Anfang stand ein Missverständnis. Die Schulen würden bundesweit vom 4. Mai an schrittweise wieder öffnen, sagte Merkel in der Pressekonferenz. So stand es dann auch auf der Website der Bundesregierung nachzulesen. Das klang nach großer Einheitlichkeit und genügend Vorlauf – zumal die Kultusminister von ihren Chefs aufgerufen wurden, bis zum 29. April, also rechtzeitig vorher, ein Hygiene- und Schutzmaßnahmenkonzept für den Unterricht vorzulegen. Doch als nur Minuten später die ersten Ministerpräsidenten ankündigten, die Abiturienten schon vom 20. April an in die Schulen zu lassen, und als die nächsten den 27. April als Tag der 


Rückkehr für die Abschlussklassen nannten, sah es so aus, als hätte der real existierende Föderalismus alle guten Einheitlichkeits-Vorsätze schon wieder zunichte gemacht. Tatsächlich aber erlaubte der Beschluss der Regierungschefs bei genauerem Nachlesen genau dies. Zunächst stand da nämlich der Satz: "Prüfungen und Prüfungsvorbereitungen der Abschlussklassen dieses Schuljahres sollen nach entsprechenden Vorbereitungen wieder stattfinden können." Und erst danach die Bestimmung: "Der Schulbetrieb soll ab 4. Mai schrittweise wieder aufgenommen werden – zunächst prioritär für Abschlussklassen und qualifikationsrelevante Jahrgänge sowie die letzte Klasse der Grundschule." Die "entsprechenden Vorbereitungen", eine mit Absicht hinreichend unbestimmte Formulierung, ermöglichten also sehr wohl die frühere Rückkehr der Prüflinge – was sogar folgerichtig erscheint angesichts der Tatsache, dass in mehreren Ländern das Abitur und andere Schulabschlussprüfungen entweder noch im April beginnen oder jedenfalls sehr zeitnah.

 

Trotzdem bleibt die verdruckste Kommunikation ärgerlich – und säte Misstrauen. Wie kann es sein, dass die Abiturienten und die Absolventen der mittleren Schulabschlüsse in die Schule sollen, bevor die Kultusminister sich auf das Hygienekonzept geeinigt haben?, fragten vor allem Abiturienten, die ihren Protest gegen die Abiprüfungen trotz Corona zu Tausenden fortsetzten – online und mit Protestschreiben. Dabei hat das Schutzmaßnahmen-Konzept, das die KMK vorlegen soll, mit den Prüfungen gar nichts zu tun – es geht um den Unterricht und die dafür nötige Transportlogistik ab 4. Mai. Die Hygiene-Vorschriften für die Prüfungen müssen die Ministerien natürlich trotzdem rechtzeitig erarbeiten – und haben es zum Teil schon getan, wobei man über die Sinnhaftigkeit etwa der Berliner "Mülltütenvorschrift" (Heike Schmoll in der FAZ) durchaus geteilter Auffassung sein kann. Was die Kultusminister den Regierungschefs am 29. April in ihrem Konzept präsentieren werden und ob die darin enthaltenen Vorgaben den Praxistest bestehen, bleibt abzuwarten. Vorlauf haben die Schulen jedenfalls genug, sich auf den Unterricht unter neuen Corona-Bedingungen einzustellen – im Gegensatz zur Holterdipolter-Rückkehr der Abschlussklassen.

 

 

2. Fragwürdige Prioritäten bei der schrittweisen Öffnung

 

Vergangene Woche schrieb ich, bei der Reihenfolge der Altersgruppen hätten sich die Regierungschefs "für den vermeintlich einfacheren Weg entschieden": die Älteren zuerst und und als allererstes diejenigen, die dieses oder nächstes Jahr Abschlussprüfungen absolvieren müssen. Kitas, kündigten mehrere Bundesländer später an, sollten sogar gleich ganz bis August geschlossen bleiben. Der vermeintlich einfachere Weg sei das, schrieb ich, weil die Spitzenpolitiker davon ausgingen, dass sich diese Art der Lockerung am ehesten in der Öffentlichkeit verkaufen lasse. "Nicht nur wegen der anstehenden Prüfungen. Älteren Schülern wird auch zugetraut, dass sie sich an die nötigen Hygiene- und Abstandsregeln halten können." Hinzu komme das Bauchgefühl vieler Menschen, das besage: "Kleine Kinder sind die größten Virenschleudern" – obwohl dies bei der Corona-Pandemie gar nicht belegt ist und, im Gegenteil, Studien sogar teilweise das Gegenteil nahelegen.  

 

Doch haben sich die Regierungschefs möglicherweise verschätzt. Seit vergangenem Mittwoch hagelt es Proteste und Offene Briefe. So forderten namhafte Wissenschaftler, Bildungsexperten und Schulpraktiker in einem Offenen Brief an die Kultusminister, die sozial benachteiligten Schüler zu priorisieren. Zuerst müssten bei der Öffnung diejenigen Kinder und Jugendliche an der Reihe sein, die in den bisherigen Wochen der Schulschließungen aus unterschiedlichen Gründen durch die Lernangebote der Schulen zu Hause nicht oder kaum erreicht worden seien. Parallel schnellte die Online-Petition "Kinder brauchen Kinder: Öffnung der Kindertagesstätten und Grundschulen" innerhalb von zwei Tagen auf fast 15.000 UnterstützerInnen hoch. Besonders die Absicht vieler Bundesländer, Kitakinder drei Monate länger zu Hause zu lassen, empört viele Leute. Die Leserkommentarspalten in verschiedenen Online-Medien erzählen Geschichten tiefer Frustration in zahllosen Familien, so auch unter meinem Artikel "Die Politik lässt die Kinder in der Krise allein", den ich am Freitagfrüh veröffentlichte. 

 

Und die Politik reagiert. Nachdem am Montag die eilig eingesetzte Arbeitsgruppe "AG-Kita" der Jugend- und Familienminister von Bund und Ländern zum ersten Mal per Telefon konferiert hatte, sagte Bundesfamilienminister Franziska Giffey, noch im laufenden Kita-Jahr müssten Lösungen zur schrittweisen Öffnung der Einrichtungen gefunden werden. Es sei keine Lösung, die Kitas bis August zu schließen."Für mich ist ganz klar: Das Wohl der Familien muss eine hohe Priorität beim schrittweisen Wiedereröffnen haben." Die SPD-Politikerin fügte hinzu: "Eine pauschale Aussage, die Kitas bleiben bis zum Sommer zu, führt bei vielen Familien zu noch mehr Stress und kann nicht die einzige Antwort sein." Eltern, Kinder, Erzieherinnen und Erzieher bräuchten eine Perspektive – abgewogen vor dem Hintergrund des Infektionsgeschehens. Im RBB forderte Giffey gestern zudem eine "Spielplatzdebatte". Auch auf Spielplätzen solle es Lockerungen geben, sagte sie. Das Kindeswohl müsse grundsätzlich in der Corona-Krise eine größere Rolle spielen: "Kinder leiden darunter, sich nicht frei bewegen zu dürfen, nicht ihre Freunde sowie Opa und Oma sehen und auf Spielplätze gehen zu dürfen."

 

Giffey gehörte zu jenen PolitikerInnen, die schon vor der Videokonferenz der Regierungschefs hinter den Kulissen für stärkere Lockerungen geworben hatten – dass sie sich jetzt umso lauter zu Wort meldet, zeigt den zunehmenden öffentlichen Druck auf die Ministerpräsidenten.

 

Eine Rückkehr-Perspektive für alle Kitakinder hatte bereits vergangene Woche auch Grünen-Chef Robert Habeck angemahnt, gestern legte die grüne Bildungspolitikerin Margit Stumpp nach und forderte "Visionen und Ideen" für die schrittweise Öffnung auch der Kitas. "Eltern von Kleinkindern brauchen eine Perspektive, zumal, wenn sie in der Stadt wohnen und kaum Möglichkeiten zum Aufenthalt im Freien haben", sagte Stumpp. Als erste Schritte nannte sie die 

Ausweitung der Notbetreuung für Familien, die bereits vom Jugendamt betreut würden. Als nächstes könnte die stundenweise Betreuung in Kitas für Kleingruppen in fester Zusammensetzung kommen, damit die Kontakte nachvollziehbar und das Infektionsrisiko möglichst klein blieben. "Uns Grünen ist es dabei wichtig, gerade benachteiligten bzw. bildungsfernen Kinder und Jugendlichen zeitnah eine Perspektive zu schaffen, um die Bildungsungerechtigkeit nicht noch zu vergrößern." 

 

FDP-Bildungspolitiker Thomas Sattelberger legte sogar noch eine Schippe drauf und forderte, dem Beispiel Dänemarks zu folgen, das seine Kitas diese Woche bereits wieder für eine Art Corona-Regelbetrieb geöffnet hat. "Für uns als Freie Demokraten gehören zur dosierten Wiederöffnung der Gesellschaft die Bildungseinrichtungen genauso dazu wie die Unternehmen." Es gehe eben nicht nur um die Möglichkeit für berufstätige Mütter und Väter, mit geregelter Kinderbetreuung wieder zur Arbeit gehen zu können oder den auf Dauer "unzumutbaren Doppelbelastungen" im Homeoffice zu begegnen – sondern "auch und vor allem um das Kindeswohl. Kinder brauchen den sozialen Kontakt zu ihresgleichen wie ein Lebenselixier."

 

Die Linken-Chefin Katja Kipping sagte dagegen, sie halte "nichts von einem Wettlauf über die schnellsten Lockerungen" in den Kitas. Jeder müsse sich der Gefahr bewusst sein, dass ein infiziertes Kind das Virus an alle anderen weitergeben könne. Die Betreuung kleinerer Kinder sollte man "vielleicht erstmal im privaten Rahmen" organisieren. Zudem müsse über "materielle Hilfen" für betroffene Eltern und eine Erweiterung der Notbetreuung nachgedacht werden, sagte Kipping im ZDF-Morgenmagazin. 

 

Wie solche materiellen Hilfen für die Eltern während der Kitaschließungen aussehen könnten, haben einen Tag nach der Konferenz der Regierungschefs zwölf ÖkonomInnen des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW), darunter die Kita-Expertin Katharina Spieß, ausbuchstabiert. Sie forderten eine Corona-Elternzeit und ein Corona-Elterngeld, konkret: "einen Rechtsanspruch auf Arbeitszeitsreduzierung mit entsprechendem Kündigungsschutz und... eine Einkommensersatzleistung." Alleinerziehende und Familien, in denen beide Eltern gemeinsam mehr als 40 Stunden pro Woche arbeiteten, sollten davon profitieren. Und: "Um die Geschlechtsunterschiede nicht zu verschärfen, könnte die Leistung bei Paaren an die Bedingung geknüpft werden, dass beide Elternteile ihre Arbeitszeit reduzieren."

 

Die Zwischenbilanz eine Woche nach den Corona-Beschlüssen der Regierungschefs lautet also in Sachen Kitas und Schulen: Die vereinbarte Linie wackelt. Berlins Regierender Bürgermeister Michael Müller (SPD) kassierte bereits den Beschluss seiner Bildungssenatorin, die Kitas erst im August zu öffnen, nannte ihn laut Tagesspiegel intern "inakzeptabel" und sagte öffentlich: "Wir wollen schneller sein." Auch NRW-Ministerpräsident Armin Laschet (CDU) forderte, weitere Öffnungen im Mai müssten auch Kindertagesstätten, Spielplätze und Schulen betreffen. Laschet kritisierte, dass die Lebenswirklichkeit vieler Kinder durch die Corona-Politik aus dem Blick geraten sei. Allerdings zur Erinnerung: Beide – Müller und Laschet (letzterer zwar besonders unwillig) hatten die Entscheidungen am 15. April mitgetragen.

 

Nachbesserungen sind also schon da oder werden zumindest wahrscheinlicher – zum einen bei der Priorisierung zuungunsten der jüngeren Schüler und noch dazu unabhängig vom sozialen Hintergrund. Hier könnten die Kultusminister ihren Chefs über das angeforderte Konzept weitere wichtige Impulse geben – auch wenn diese sich die Entscheidung "über den jeweiligen Zeitpunkt der Aufnahme des Unterrichts der jeweiligen Klassenstufen und der Betreuung in Kindergärten" explizit selbst vorbehalten hatten. Zum anderen, versprach Franziska Giffey nach der ersten "AG-Kita", die dort diskutierten Vorschläge zur Lockerung der Einschränkungen für die Kleinsten würden einfließen in die nächste Beratungsrunde von Merkel mit den Ministerpräsidenten am 30. April – auch im Sinne einer schrittweisen Wiederöffnung der Kitas. Vielleicht auch für eine bessere finanzielle Unterstützung der betreuenden Eltern in der Krise? Hier zumindest könnte der Bund selbst mehr tun. Bei der Frage der Öffnungen ist hingegen klar, dass die Länder erneut das letzte Wort haben werden.

 

 

3. Schutzmasken: Eine Pflichtfrage

 

Die Jüngsten langfristig von Schulen und Kitas fernhalten zu wollen, obwohl der Nutzen dieser Maßnahme wissenschaftlich unklar ist, gleichzeitig aber eine absolut grundlegende Maßnahme zum Infektionsschutz nicht zu ergreifen, das war für mich die kritikwürdigste Entscheidung der Runde der Regierungschefs am 15. April. Denn Merkel und die Ministerpräsidenten konnten sich nicht auf eine Schutzmasken-Pflicht einigen. Das Tragen von "Alltagsmasken" in der Öffentlichkeit werde nur "dringend empfohlen", sagte Merkel. Schlug hier die Angst durch, den Unmut der Bevölkerung auszulösen, weil gar nicht genug hochwertige Masken vorhanden sind? Dabei, schrieb ich vergangene Woche, könnten die Politiker getrost das Argument ins Feld führen, dass selbstgeschneiderte Masken  als fast ebenbürtige Alternative gelten, wenn alle sie tragen. Die Masken-Laxheit ist "eine gefährliche Hypothek, viel gefährlicher, als wenn man bei der Öffnung der Schulen schon etwas weitergehende Schritte nach dem 4. Mai vereinbart hätte."

 

Eine Woche später ist klar: Die Regierungschefs können ihren fragwürdigen Pflichtverzicht zum Glück nicht durchhalten. Und wie es schon so oft bei föderalen Entscheidungen im Umgang mit Corona war: Erst scherte ein Land aus, dann folgte schnell eines nach dem anderen. Sachsen machte diesmal den Anfang, dann kamen Mecklenburg-Vorpommern, Bayern und Thüringen. Bis zum Mittwochmorgen hatte bereits die Mehrheit der Bundesländer eine Maskenpflicht beschlossen – natürlich, wiederum bundesrepublikanisch typisch, jeweils mit etwas anderen Regeln: manchmal nur in öffentlichen Verkehrsmitteln und ohne jede Kontrolle der Pflicht (Berlin), anderswo auch in Geschäften oder auch auf Wochenmärkten. 

 

Eine sehr positive Entwicklung, doch kann auch diese nur ein Zwischenstand sein. Wer die Schulen möglichst bald möglichst weit öffnen will, muss auch dort das Tragen der Masken unter bestimmten Bedingungen zur Pflicht machen. Gut möglich, ja zu hoffen, dass die Kultusminister genau das den Regierungschefs vorschlagen werden. 



Nachtrag am 22. April, 16.40 Uhr:

 

Wie die Kollegin Susanne Vieth-Entus vom Tagesspiegel gerade über Twitter meldet, hat Berlins Bildungssenatorin Sandra Scheeres (SPD) die schriftlichen Prüfungen zum Mittleren Schulabschluss abgesagt und diese Entscheidung den Schulleiterverbänden mitgeteilt. Nur Präsentationsprüfungen sollen demzufolge stattfinden. Das von mir unter 1) beschriebene Holterdipolter bei der Rückkehr der Abschlussklassen fällt damit in Berlin etwas geringer aus. Die Abiturprüfungen finden auch in der Hauptstadt weiterhin – wie geplant und in der Kultusministerkonferenz vereinbart – statt.

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