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Die Entscheidung

Die Schulen sollen vom 4. Mai an schrittweise öffnen, haben heute die Regierungschefs von Bund und Ländern beschlossen. Ihrer Mindestverantwortung gegenüber Millionen Kindern und Jugendlichen sind sie damit gerecht geworden. Mehr aber auch nicht.

DEN GANZEN NACHMITTAG ÜBER sickerten erste Details aus der Videokonferenz der Regierungschefs nach draußen, und je länger die Kanzlerin und die Ministerpräsidenten verhandelten, je mehr sich die angekündigten Pressestatements nach hinten schoben, desto umfangreicher wurden die Meldungen, was da alles angeblich bereits beschlossen worden sei. Dass davon noch längst nicht alles so sicher war, wie einige Medien berichteten, hätte man schon aus der Tatsache ableiten können, dass Angela Merkel und ihre 16 Kollegen aus den Ländern sich überhaupt so viel Zeit nahmen. Schließlich ging es um viel: um das Demonstrieren föderaler Einigkeit im Kampf gegen das Coronavirus. Um das Absichern der erreichten Pandemie-Eindämmung und zugleich um eine der Lage angemessene schrittweise Lockerung der schärfsten gesellschaftlichen Einschränkungen. Kurzum: Es ging um Deutschlands Weg nach vorn,  um den allmählichen Einstieg in eine neue Corona-Normalität.

 

Haben die Regierungschefs mit dem, was Merkel, Vizekanzler Olaf Scholz (SPD), Bayerns Ministerpräsident Markus Söder (CSU) und Hamburger Erster Bürgermeister Peter Tschentscher (SPD) schließlich verkündeten, die in sie gesetzten Erwartungen erfüllt? Mit Blick auf die Schulen und Bildungseinrichtungen lässt sich sagen: Ja. Aber. Und nein.

 

Ja: Es gibt "eine gemeinsame Linie", wie Merkel betonte. Auch gibt es jetzt einen grundsätzlichen Zeitplan zur vorsichtigen Öffnung der Schulen vom 4. Mai an. Was, wenn die föderale Einigkeit hält, bedeutet, dass Kultusminister wie Yvonne Gebauer (FDP) aus Nordrhein-Westfalen, die mit der Ankündigung, schon am Montag erste Schulklassen zurückzuholen, Furore gemacht hatte, Kleinbei geben und in den Geleitzug zurückkehren müssten. Allerdings gibt es bereits Anzeichen, dass doch einzelne Länder vor dem 4. Mai loslegen wollen.

 

Dabei sind der gemeinsame Zeitplan, die Einheitlichkeit und der Vorlauf in der Tat wichtig, denn nun haben die Schulen, die Eltern, Kinder und Lehrkräfte etwas, auf das sie sich einstellen können. Und es bleibt Zeit, um die nötigen Hygienemaßnahmen an den Schulen vorzubereiten. Die Kultusministerkonferenz soll laut Beschluss der Regierungschefs bis zum 29. April ein Konzept für weitere Schritte vorlegen, "wie der Unterricht unter besonderen Hygiene- und Schutzmaßnahmen, insbesondere unter Berücksichtigung des Abstandsgebots durch reduzierte Lerngruppengrößen, insgesamt wieder aufgenommen werden kann". Es gehe um Unterricht in kleinen Gruppen, sagte Merkel, ein Schulbuskonzept müsse her, ein Pausenkonzept, das werde "ein hoher logistischer Aufwand sein", fügte die Kanzlerin hinzu – womit sie Recht hat. Für diesen Aufwand können die Schulen die nächsten Wochen nutzen. 

 

Aber: Die Regierungschefs haben sich für den vermeintlich einfacheren Weg entschieden. Die Älteren sollen zuerst gehen: als allererstes diejenigen, die jetzt oder nächstes Jahr Abschlussprüfungen absolvieren müssen. Weshalb das der einfachere Weg ist? Weil sich diese Art der Lockerung am ehesten verkaufen lässt. Nicht nur wegen der anstehenden Prüfungen. Älteren Schülern wird auch zugetraut, dass sie sich an die nötigen Hygiene- und Abstandsregeln halten können. "Die Kitas und Grundschulen bleiben erstmal zu", verkündete deshalb Söder – mit Ausnahme der vierten (Übergangs-)Klassen. 

 

Das Problem ist indes, dass die sozialen und gesellschaftlichen Kosten der Schließungen, worauf die Leopoldina zu Recht in ihrem Gutachten hingewiesen hat, bei den Kita- und Grundschulkindern am höchsten sind. Doch lässt man sie länger zu Hause, weil das so plausibel erscheint. Ist es aber womöglich gar nicht: Studien deuten darauf hin, dass Unter-10-Jährige viel seltener krank werden, also das Virus auch viel seltener weitergeben können. Vor diesem Hintergrund hätte die Priorisierung eine andere sein können, womöglich unter Abwägung aller unterschiedlichen Risiken sein müssen. Nur waren die Regierungschefs offenbar nicht bereit, diese schwerer zu verkaufende, da gegen das Bauchgefühl vieler Menschen (="Kleine Kinder sind die größten Virenschleudern") gehende Entscheidung zu tragen. Immerhin: Den Arbeitsauftrag an die KMK kann man so verstehen, dass sie bis 29. April auch sagen soll, wann und unter welchen Bedingungen die anderen Klassenstufen dran sind. 

 

Nein: Während man den Kleinsten und ihren Familien weiter die größte soziale Last aufbürdet, konnten sich die Regierungschefs nicht einmal auf eine absolut grundlegende Maßnahme zum Infektionsschutz einigen: die Schutzmasken-Pflicht. Das Tragen von "Alltagsmasken" in der Öffentlichkeit werde nur "dringend empfohlen", sagte Merkel. Warum? Hatten die Regierungschefs Angst,  in der öffentlichen Meinung vorgeführt zu werden nach dem Motto: "Ihr führt eine Maskenpflicht ein, dabei gibt es gar nicht genug hochwertige Masken"? Dass selbstgeschneiderte Masken  als fast ebenbürtige Alternative gelten, wenn alle sie tragen – dieses Argument für eine Pflicht ins Feld zu führen, auch dazu fehlte zu vielen der Ministerpräsidenten offenbar der politische Mut. Eine gefährliche Hypothek, viel gefährlicher, als wenn man bei der Öffnung der Schulen schon etwas weitergehende Schritte nach dem 4. Mai vereinbart hätte. 

 

Geradezu lächerlich ist es, dass Friseure, deren Arbeit die ultimative physische Nähe erfordert, in der Prioritätenliste der anstehenden Öffnungen um Längen höher stehen als die Beschulung jüngerer Grundschulkinder: Sie dürfen ihre Läden vom 4. Mai an zwar mit Auflagen, aber grundsätzlich aufmachen. Das kann mit Infektionsschutz keiner erklären.

 

Die Kultusminister dürften
nicht unzufrieden sein

 

Heute Abend noch waren die Kultusminister zu einer eigenen Schaltkonferenz verabredet, um erste Schlussfolgerungen aus den Arbeitsaufträgen ihrer Chefs zu ziehen. Sie dürften nicht unzufrieden sein, worauf zum Beispiel die Äußerungen von Baden-Württembergs CDU-Kultusministerin Susanne Eisenmann ("Die Schulen haben durch diese Entscheidung nun ausreichend Zeit") hindeuten. Die Abiturprüfungen werden sie, so sich die Infektionskurve weiter abflacht,  jetzt mit Zustimmung der Ministerpräsidenten durchziehen können – so, wie sie es  am 25. März vereinbart hatten.

 

Dabei könnte man die Prüfungs-Priorität unter mehreren Gesichtspunkten durchaus nochmal hinterfragen: Die meisten Schulen werden nur mit einem Rumpfpersonal starten, da ältere Lehrkräfte, Schwangere und solche mit Vorerkrankungen bis auf Weiteres zu Hause bleiben. Wenn dann auch noch aus Infektionsschutzgründen deutlich kleinere Gruppengrößen nötig sind – ist unter solchen Umständen das personalaufwändige Durchziehen vor allem der Abiturprüfungen, die zudem eine hohe emotionale Belastung für die Abiturienten bedeuten, bildungspolitisch wie ethisch überhaupt zu rechtfertigen? Nicht nur, weil, wie der Bildungsjournalist Christian Füller twitterte, der KMK nun ein "Klagesturm" bevorstehe?  Sondern auch und vor allem, weil diese Priorisierung logischerweise dazu führt, dass viele andere Schüler viel länger gänzlich auf regulären Unterricht verzichten müssen.

 

Doch werden die Kultusminister sich solchen Fragen nicht mehr stellen wollen. Dafür ist die symbolische Aufgeladenheit des Abiturs im vom Gymnasium geprägten deutschen Bildungsbewusstsein immer noch zu hoch, auch das Abweichen von der einmal getroffenen Entscheidung wird man tunlichst vermeiden wollen. 

 

"Über den jeweiligen Zeitpunkt der Aufnahme des Unterrichts der jeweiligen Klassenstufen und der Betreuung in Kindergärten berät die Bundeskanzlerin mit den Regierungschefinnen und -chefs der Länder vor dem Hintergrund der Entwicklung der Infektionszahlen", hieß es in der heutigen Erklärung. Klingt nicht so, als ob die Kultusminister da viel mitzureden hätten. Am 30. April will die Runde die nächste Bestandsaufnahme machen.




Öffnen Kitas durch die Hintertür? Und: Spürbare Lockerungen für die Hochschulen

Die gesellschaftlich besonders umstrittene Öffnung der Kitas könnte, so scheint es, durch die Hintertür kommen. Im Beschluss der Regierungschefs heißt es: "Die Notbetreuung wird fortgesetzt und auf weitere Berufs- und Bedarfsgruppen ausgeweitet."

 

Mit Bedarfsgruppen sind, obwohl dies nicht genauer spezifiziert wird, vermutlich besonders Kinder gemeint, die in sozial schwierigen Verhältnissen aufwachsen. Sie würden, warnen Bildungsforscher, zu Hause vielfach kaum gefördert, noch dazu sei bei ihnen das Risiko, häusliche Gewalt zu erfahren, höher.

 

Da schon in der Vergangenheit die Notbetreuung Stück für Stück ausgeweitet wurde, dürften die Gruppen in den Kitas und, solange die Grundschulen zu sind, in den Horts in den nächsten Wochen also spürbar wachsen – was auf fast dasselbe hinausliefe wie eine schrittweise Öffnung. Doch ersparen sich die Regierungschefs die gesellschaftlichen Widerstände einer expliziten Entscheidung.

Der Vorlesungsbetrieb der meisten Hochschulen soll am 20 April beginnen. Seit heute steht nun auch offiziell fest, dass der Semesterstart ein digitaler sein wird, denn reguläre Präsenzveranstaltungen bleiben untersagt. Aber es gibt Ausnahmen: Neben der Abnahme von Prüfungen, haben die Regierungschefs bestimmt, könnten auch "bestimmte Praxisveranstaltungen, die spezielle Labor- und Arbeitsräume an den Hochschulen erfordern, unter besonderen Hygiene- und Schutzmaßnahmen wieder aufgenommen werden".

 

Auch Bibliotheken und Archive dürfen – ähnlich wie kleinere Geschäfte – unter Auflagen wieder öffnen. Beide Maßnahmen sind in der Praxis als erheblicher Fortschritt zu werden. Wie schnell sie umgesetzt werden können, bleibt abzuwarten. Erste Länder kündigen bereits an, zunächst die Ausleihe und Abgabe in den Bibliotheken wieder öffnen zu wollen. Viele Hochschulen befinden sich derweil schon seit Wochen im digitalen Vorlesungsbetrieb.




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Kommentare: 6
  • #1

    Oliver Locker-Grütjen (Mittwoch, 15 April 2020 20:46)

    Und die Hochschulen: Geht NRW einen eignen Weg?
    Was bei der Leopoldina schon gar nicht und bei Frau Merkel auch nicht so klang, klingt bei Herrn Laschet so:
    „(...) in den Hochschulen können neben der Abnahme von Prüfungen jetzt auch wieder bestimmte Praxis- und Lehrveranstaltungen unter Berücksichtigung besonderer Hygiene- und Schutzmaßnahmen und Abständen stattfinden.“
    Wirklich? Ab Montag wieder öffnen?
    Das ist kaum zu glauben und zumindest grob irreführend...

  • #2

    Jan-Martin Wiarda (Mittwoch, 15 April 2020 20:59)

    @ Oliver Locker-Grütjen: Habe hierzu eben etwas im Kasten geschrieben.

  • #3

    Sabine Husemeyer (Mittwoch, 15 April 2020 21:08)

    Nun, dann dürfen wir in NRW mal gespannt sein, was das konkret heißt. In seiner Pressekonferenz sagte Herr Laschet vorhin, dass die Schülerinnen und Schüler der Abschlussklassen bereits nächste Woche - unter bestimmten Voraussetzungen - wieder in die Schule gehen können.
    Soviel zum Thema der einheitlichen Beschlüsse. ...
    Quelle: Armin Laschet/ Facebook Pressekonferenz ab 11.40.

    Gespannt sein darf man auch, wie konkret die Hinweise der Kultusminister zur Fortsetzung des Unterrichts sein werden.
    Kleine Gruppen bei reduziertem Personalstand und Pausenregelungen, die dann dafür sorgen sollen, dass ein Mindestabstand gewahrt wird, sind illusorisch. Ach, nicht zu vergessen, dass es im Ganztag unmöglich sein wird, ein Essensangebot zur Verfügung zu stellen.
    Wie auch immer: wir werden das Beste daraus machen. Im Interesse unserer Schülerinnen und Schüler, die es verdient haben.

  • #4

    Helge Schulenberg (Mittwoch, 15 April 2020 21:31)

    Vielen Dank Herr Wiarda, endlich sagt einmal jemand deutlich, wie unsinnig die Priorisierung der Öffnung von Schulen und Kitas ist. Bitte schreiben Sie dies auch in der Zeitung.

  • #5

    Charlotte Schubert (Donnerstag, 16 April 2020 09:36)

    Lieber Herr Wiarda, so sehr ich Sie und Ihren Blog schätze, möchte ich doch nachdrücklich protestieren: Jeder, der die Sanitäreinrichtungen an Schulen oder Kitas einmal aufgesucht hat, weiß doch, wie illusorisch es ist, in Schulen (und an den Unis ist es nur unwesentlich besser) auch nur ein Mindestmaß an Hygiene einzuhalten! Schulen und Unis sind tatsächlich Virenschleudern - und gar nicht so sehr die Menschen dort (ob groß oder klein). Und gerade die Kleinsten jetzt wieder hinauszuschicken, wäre m.E. wirklich unverantwortlich. Grundsätzlich muß doch immer Richtschnur sein, die Verletzlichsten zu schützen: die Alten und (!) die Kleinen.
    Beste Grüße
    Charlotte Schubert

  • #6

    Susanne Reich (Donnerstag, 16 April 2020 12:39)

    Was die Abiturjahrgänge betrifft, finde ich es auch sehr bedenklich, dass Ihnen alle Pflichten und Anstrengungen des Abiturs unter widrigen Bedingungen zugemutet werden, während die psychisch erbaulichen Aktivitäten, wie feiern, Mottowoche, Abiball entfallen. Das sind auch psychologisch ganz andere Voraussetzungen als sonst und für Schüler mit weniger guten Noten wahrscheinlich überproportional negativer als für die Einserkandidaten.