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Jetzt sind erstmal die Kitas und Schulen dran

Es gehört zu den bitteren Wahrheiten der Krise: Die Wirklichkeit von Millionen Kindern und ihren Familien war nie die Perspektive der Regierungschefs. Sie lockern die Corona-Einschränkungen immer dort, wo sie den größten Druck verspüren. Zum Glück ist dieser Druck bei Kitas und Schulen jetzt da. Doch wird er reichen?

Ist bald wieder Betrieb auf mehr Schulhöfen und Kita-Spielplätzen? Foto: pixnio - cco.

AM 15. APRIL ging es los mit den Vertröstungen: Bei ihrer Telefonkonferenz vier Wochen nach Shutdown-Beginn beschlossen die Regierungschefs von Bund und Ländern, die Kitas und Grundschulen "erstmal zu" zu lassen, wie Bayerns Ministerpräsident Markus Söder (CSU) es im Anschluss empathiefrei formulierte. Statt einem Zeitplan versuchten Söder und seine Kollegen es mit Zeitspiel. Sie bestellten bei ihren Kultusministern ein Öffnungskonzept, vorzulegen bei der nächsten Telefonkonferenz in zwei Wochen. Die Telefonkonferenz kam, doch rechtzeitig vorher machten die Spitzenpolitiker deutlich, dass es auch am 30. April nichts werden würde mit dem klaren Signal an die Jüngsten und ihre Familien, wann genau es für wen weitergeht. Das versprachen Merkel, Söder und Co diesmal für den 6. Mai. Morgen soll es also – mal wieder – soweit sein. 

 

All die Vertröstungen wären hinnehmbar gewesen, wenn nicht gleichzeitig längst der Start für Friseure, Autohäuser oder Tabakläden beschlossen worden wäre, wenn nicht inzwischen einzelne Landesregierungen sogar schon im Alleingang angekündigt hätten, die Restaurants wieder zu öffnen. Und wenn die Politik parallel auch den Abiturienten gesagt hätte: Ihr müsst nicht zur Prüfung antreten, weil das aus Infektionsgründen zu gefährlich ist derzeit. Denn dann wäre klar gewesen, dass die Spitzenpolitiker sich bei ihren Entscheidungen allein von dem Ziel, die Pandemie möglichst effektiv einzudämmen, hätten leiten lassen. 

 

So aber schien die wirkliche, bis heute gültige Strategie allzu deutlich durch: Die Regierungschefs lockern die Maßnahmen immer dort, wo der gesellschaftliche und wirtschaftliche Druck vermeintlich am größten wird; und sie bleiben rigoros, wo sie vermuteten, dafür nur einen überschaubaren politischen Preis zahlen zu müssen. Wird das morgen erneut gelten?

 

Kein Wort zu den Nöten der
Kinder und ihrer Familien

 

Selbst wenn nicht, so gehört es schon jetzt zu den schmerzhaften Wahrheiten dieser Krise: Die andauernde Schließung von Kitas und Grundschulen war und ist unglaublich bitter für die Kinder und ihre Familien, für die ErzieherInnen und Lehrkräfte, doch die Lebenswelt der meisten Regierungschefs ist so weit von ihnen entfernt, dass der Frust sie lange kaum einmal unmittelbar erreichte. Den ihnen intellektuell vermittelten Warnungen der Bildungsforscher, Sozialwissenschaftlern und Pädagogen konnten sie die ebenso nüchterne Forderung nach der Ausarbeitung von Konzepten durch ihre Ressortminister entgegenstellen. Und ansonsten war es wiederum Bayerns Ministerpräsident Söder, der am 30. April in seiner mitfühlend gemeinten Rede an die "Familie", von der durch den Corona-Shutdown so viel verlangt werde, die einsame Mutter und Großmutter in den Seniorenheimen erwähnte. Dazu auch die Risikogruppen unter den Schülern und Lehrkräften – aber kein einziges Mal das Recht aller Kinder auf Bildung und ihr Bedürfnis nach sozialen Kontakten; kein einziges Mal die Nöte der Eltern, besonders der Mütter in ihrer Zerrissenheit zwischen Kinderbetreuung und Homeoffice. 

 

Warum nicht? Weil das nicht seine Perspektive ist. Weil es nicht die Perspektive der meisten Regierungschefs ist. Weil es nicht die Perspektive der Mehrheit der Gesellschaft ist. Die fürchtet bis heute weniger die gravierenden Folgen der Schließungen für die Kinder und ihre Familien und dafür umso mehr das mögliche Aufflammen der Pandemie durch die Öffnungen. Und genau das schien den politischen Preis des Vertröstens all der betroffenen Familien lange so überschaubar zu machen für die Regierungschefs.

 

Zum Glück beginnt sich diese Abwägung zu verändern, ausgelöst durch die Welle der öffentlichen Empörung, die schon in den Tagen nach dem 15. April einsetzte. In den sozialen Medien, in den Kommentarspalten der Tageszeitungen, in Form von Petitionen und Protestbriefen. Zumindest soweit zu verändern, dass die Regierungschefs wissen: Allein mit Vertröstungen kommen sie am 6. Mai nicht mehr durch. Wer für schöne Frisuren und das wirtschaftliche Überleben des Friseurhandwerks die Infektionsgefahr beim Haareschneiden in Kauf nimmt; wer zur Rettung von Restaurantbetreibern riskiert, dass bei feuchtfröhlichen Lokalrunden das Abstandsgebot in Vergessenheit gerät, der kann nicht ernsthaft behaupten, dass die schnellere Rückkehr selbst von Sechs-, Sieben- oder Achtjährigen in locker bestuhlte Klassenräume und entzerrte Hofpausen eine ungleich größere Gefahr für die öffentliche Gesundheit darstelle. 

 

Dass es auf sehr lange Zeit keine Normalbedingungen
gibt, dürfte inzwischen allen klar sein

 

Doch auch die ganz Kleinen, die Kitakinder, verdienen eine faire Perspektive. Man könnte auch sagen: Sie verdienen die gleiche Anerkennung für ihre sozialen Bedürfnisse, die den anderen Altersgruppen auch gegeben wird. Die schnelle Rückkehr auch der Kitas zu dem, was das Maximum unter Corona-Bedingungen sein kann, ist eine Frage der moralischen Fairness. Dass das aufgrund kleiner Gruppengrößen, begrenzten Räumen und coronabedingt massiver Personalknappheit keine Normalbedingungen wie vor der Krise sein werden, und das auf sehr lange Zeit, dürfte inzwischen allen klar sein. Aber alle Kinder haben das Recht, zumindest tage- oder stundenweise in Kitas und Grundschulen gehen zu dürfen. Und zwar jetzt. Nicht irgendwann. 

 

Ganz sicher geht es jedenfalls nicht an, von den Kleinsten weiter einseitige Opfer zu verlangen, während diejenigen, die stärkere Ellbogen haben – Gastronomieverbände, der Einzelhandel, möglicherweise sogar Fußballvereine – Lockerungen gestattet bekommen, die unter Infektionsschutz-Gesichtspunkten ebenfalls ihre Gefahren bergen. 

 

Was bei der Debatte um die Öffnung von Kitas und Grundschulen in den vergangenen Tagen indes nicht geholfen hat: dass ein Mann sich zum öffentlichen Vorkämpfer aller möglichen Lockerungen aufgeschwungen hat, auch der Lockerungen im Bildungswesen, dessen zuletzt irrlichternder Auftritt in einer Talkshow Zweifel an seiner Fähigkeit geweckt hat, die Realitäten der Corona-Pandemie überhaupt intellektuell erfassen zu können. Womit NRW-Ministerpräsident Armin Laschet ausgerechnet jenen, die die Kinder und Jugendlichen hintanstellen wollen, in die Hände spielte.

 

Laschet nähere die Wissenschaftsskepsis, sagen sie zu Recht, er kritisiere Wissenschaftler dafür, dass sie Wissenschaftler sind, wenn er Virologen vorhalte, dass sie zuletzt "alle paar Tage" ihre "Meinung geändert" hätten. Tatsächlich scheint es so, als wolle der CDU-Politiker den wissenschaftlichen Erkenntnisprozess – das Nebeneinander und Aufeinanderfolgen wissenschaftlicher Studien, ihrer Diskussion und das Ziehen vorsichtiger Schlussfolgerungen – diskreditieren, um auf diese Weise zu rechtfertigen, warum er am Ende seine eigenen – rein politisch motivierten – Schlussfolgerungen ziehen müsse. 

 

Mit seiner Wissenschaftsschelte schadet
Laschet seinen eigenen Zielen

 

Das ist je nach Betrachtungsweise nur auf ärgerliche Weise hilflos oder geradeheraus verwerflich. Und das kein bisschen weniger, nur weil man seine Schlussfolgerungen teilen mag. Denn in jedem Fall schadet er der Wissenschaft und besonders den Virologen, gegen die sich derzeit ohnehin die gesellschaftliche Stimmung dreht, was Laschet bewusst oder instinktiv als Gelegenheit nutzt. Und er schadet auch dem von ihm und seiner Landesregierung verfolgten Ziel: einer weiteren Öffnung von Kitas und Grundschulen – zumindest jenseits von Nordrhein-Westfalen.

 

Denn was der Kandidat um den CDU-Parteivorsitz da treibt, könnte zwei problematische Effekte auslösen. Der erste ist tatsächlich schon eingetreten: Plötzlich bezeichnen auch Leute eine schnellere Öffnung von Schulen und Kitas als verantwortungslos, die dies sonst womöglich nie getan hätten, doch tun sie es aus einem politischen Reflex gegen Laschet heraus. Der zweite: Um nicht des Einknickens vor Laschet bezichtigt zu werden oder auch nur um Laschet in die Schranken zu weisen, könnten andere Regierungschefs bei den diesen Mittwoch anstehenden Bund-Länder-Beschlüssen zu Schulen und Kitas  kräftiger auf die Bremse treten, als sie es vorgehabt hatten. 

 

Womöglich – hoffentlich! – kommt es aber ganz anders, wenn Bundeskanzlerin Angela Merkel, Laschet und die 15 anderen Ministerpräsidenten die Ergebnisse ihrer Telefonkonferenz verkünden werden. Schließlich ist Laschet nicht der einzige Politiker mit Instinkt; auch die anderen spüren, wie sich die öffentliche Meinung gedreht hat, und noch wichtiger: Viele von ihnen sind sich, auch dank der erwähnten Empörungswelle nach dem 15. April, tatsächlich viel bewusster als noch vor einigen Wochen, dass nicht nur das Coronavirus verheerende Schäden an Leib und Leben verursacht, sondern auch einige der härtesten Eindämmungsmaßnahmen, die gegen die Pandemie ergriffen wurden. 

 

Wenn sie aus dieser Erkenntnis heraus politische Handlungsoptionen entwickeln wollen, wenn sie – anders als Laschet – die Wissenschaft dabei nicht diskreditieren, sondern auf der Grundlage ihre Ergebnisse entscheiden wollen, dann werden sie ausgerechnet an einer weitaus entschiedeneren Öffnung der Kitas und Schulen kaum vorbeikommen. 

 

Denn das ist die eigentliche Paradoxie an Laschets Anti-Virologen-Pro-Lockerungs-Vorstoß wie auch an der wochenlangen Vertröstungstaktik der Regierungschefs: Auch wenn es DIE Wissenschaft noch nie und aufgrund ihrer Multidisziplinarität auch gar nicht geben kann; auch wenn es DIE Virologen nicht gibt – in ihrer Gesamtschau legen die Ergebnisse, die die unterschiedlichen wissenschaftlichen Disziplinen bislang zur Corona-Pandemie produziert haben, nahe, dass mit Kindern und Jugendlichen, ihrer Bildung und ihren Lebensperspektiven im weiteren Verlauf der Pandemie ganz anders verfahren werden muss als bislang. Dafür gibt es epidemiologische Gründe und medizinische, außerdem soziologische, psychologische, pädagogische, wirtschaftliche.

 

Wer die Wissenschaft ernstnimmt, kann die Kitas
und Grundschulen nicht hintanstellen

 

Die epidemiologischen und medizinischen Gründe: Bis heute ist unklar, welche Rolle Kinder und Jugendliche in der Verbreitung des Coronavirus spielen. Weshalb sich pauschale Forderungen nach dem Motto: "Auf jeden Fall Kitas und Grundschulen zulassen!" ebenfalls verbieten. Dass sie, wie Charité-Virologe Christian Drosten vergangene Woche per Twitter verkündete, im Falle einer ausgebrochenen COVID-19-Erkrankung ähnlich viele Viren im Rachen tragen wie Erwachsene, sagt für sich allein jedenfalls genommen weniger aus, als manche Kommentatoren es danach dargestellt haben. Und wahrscheinlich auch weniger, als Drosten es selbst hatte nahelegen wollen. Zumindest lässt sich so sein Tweet einen Tag später erklären, indem er eine chinesische Studie als "wichtiges Gegenstück zu den gestrigen Daten" bezeichnete – eine Studie, derzufolge das Infektionsrisiko bei Kindern nur ein Drittel so hoch wäre wie bei Erwachsenen. 

 

Noch komplexer wird die Studienlage dadurch, dass sich Kinder zwar womöglich seltener anstecken, dafür aber nach Argumentation der chinesischen Forscher deutlich mehr und engere soziale Kontakte und damit wiederum mehr Möglichkeiten als Erwachsene hätten, andere Personen anzustecken. US-Forscher der Harvard-Universität haben demgegenüber jedoch in einer anderen Studie die Altersgruppe zwischen 15 und 34 (und besonders zwischen 20 und 24) für einen messbar größeren Anstieg der Infektionszahlen verantwortlich gemacht, in dieser Altersgruppe – und nicht bei den Jüngsten –  referierte gestern der Tagesspiegel, sei das Risiko der Weiterverbreitung signifikant am höchsten – womöglich weil sie sich seltener an das Kontaktverbot hielten. 

 

Insgesamt ist die Studien- und Datenlage damit immer noch so widersprüchlich, dass kaum eindeutige Aussagen möglich sind. So sind in Dänemark die Neuinfektionen seit der Wiederöffnung der Schulen bislang nicht gestiegen. Island nähert sich der Null bei den Neuinfektionen, obwohl die Schulen und Kitas die ganze Zeit über zumindest teilweise offenblieben. Das Robert-Koch-Institut (RKI) wiederum bezeichnete Kinder noch Ende April als "Multiplikatoren im Infektionsgeschehen", dafür sprächen verschiedene Faktoren und Studien. Womöglich kann eine Studie aus Baden-Württemberg bald weiteren Aufschluss geben, da sie deutschlandweit zum ersten Mal speziell das Corona-Infektionsgeschehen bei Kindern zum Gegenstand hat.  

 

Nebenbei gesagt lässt sich an der Kommunikation Christian Drostens (von wegen "heute so, morgen so") das Dilemma der Wissenschaft in der Krise verdeutlichen: Drosten stellt aus rein wissenschaftlichem Interesse ein spannendes Studien-Ergebnis zur Diskussion – doch gerät das Ergebnis sofort in einen Betrieb aus Medien und Politik, der damit ganz anders umgeht als die Wissenschaft. Klar: Drosten hätte das wissen können – aber soll und kann man einem Wissenschaftler vorwerfen, dass er noch immer nicht gleich politisch denkt?

 

Die Wissenschaft tut ihren Job, die
Frage ist: Tut die Politik ihn auch?

 

Politisch denken aber müssen Politiker – und das heißt vor allem: dass sie die wissenschaftlichen Erkenntnisse, die ihnen vorliegen, in ihrer Komplexität zur Kenntnis nehmen, gegeneinander gewichten, auch disziplinübergreifend, und dann eine politische Entscheidung treffen. Die bisherige Strategie: Lockerungen der Eindämmungsmaßnahmen, wo der öffentliche Druck am größten ist, mag nachvollziehbar sein; Ausdruck politischer Stärke ist sie nicht.

 

In Bezug auf Kitas und Grundschulen bestünde ein erster mutiger Schritt der Regierungschefs in der öffentlichen Anerkennung der Tatsache, dass eben nicht abschließend geklärt ist, wie groß der epidemiologische Schaden ist, den die Wiederöffnung von Kitas und Schulen verursacht, dass es jedoch politische Top-Priorität sein sollte, dies herauszufinden.

 

Und selbst wenn etwa die Ergebnisse besagter baden-württembergischen Studie den Kindern eine gleich große Ansteckungsgefahr attestieren sollten, der zweite Schritt bliebe für die Regierungschefs der gleiche: die Gewichtung. Die Schäden durch offene Kitas und Schulen, die hoffentlich bald besser zu taxieren sind, stehen auf der einen Seite. Wie aber sieht es mit den Schäden aufgrund der Schließungen aus? An der Stelle sind die Erkenntnisse, siehe oben, schon jetzt ziemlich eindeutig und von vielen WissenschaftlerInnen und Bildungspraktikern in den vergangenen Wochen eindrücklich beschrieben worden.

 

Soziologisch und psychologisch: Die Kinder und ihre Eltern geraten unter Druck; die Kinder, weil sie ihre sozialen Kontakte vermissen; die Eltern, weil sie die Doppelbelastung aus Kinderbetreuung, Homeschooling und Beruf nicht dauerhaft stemmen können, was vor allem die gesellschaftlichen Nachteile von Frauen verstärkt. Der Stress in den Familien steigt, die psychische Belastung wird grenzwertig, es droht die Gefahr von Gewaltausbrüchen. In der häuslichen Abschottung bleiben Fälle von Misshandlung und Missbrauch womöglich länger unentdeckt. 

 

Pädagogisch: Die Bildungsungleichheit wächst dramatisch, weil manche Kinder im Homeschooling eine optimale Unterstützung erhalten, andere dagegen völlig auf sich allein gestellt sind, ihnen zusätzlich auch die technische Ausstattung fürs digitale Lernen fehlt. Die frühkindliche Bildung durch die Kitas fehlt vor allem Kindern aus bildungsfernen Elternhäusern, was ihren Einstieg in die Schule erschweren dürfte. 

 

Und wirtschaftlich: Je länger es keine zumindest zeitweise Betreuung in Kitas und Schulen für alle Kinder gibt, desto länger fehlt der volle Beitrag von Eltern zum Erwerbsleben, wodurch nicht nur ihre persönlichen Karriereaspirationen geschmälert werden, sondern angesichts von Millionen arbeitenden Vätern und Müttern auch die Wirtschaftsleistung insgesamt. 

 

Werden die Kinder einmal
mehr zum Bauernopfer?

 

Die Gewichtung der Schäden durch die Öffnung der Kitas und Schulen, selbst wenn sie sich als massiver herausstellen sollten als erhofft, gegen die in jedem Fall ebenfalls massiven Schäden durch ihre fortgesetzte Schließung lässt für eine auf Teilhabe und Chancengerechtigkeit ausgerichtete Gesellschaft eigentlich nur eine politische Schlussfolgerung zu: die entschiedene, planvolle und doch zügige Rückkehr zu einem Betrieb für alle – unter Corona-Schutzbedingungen, den derzeit unvermeidbaren personellen und räumlichen Einschränkungen und begleitet von wissenschaftlichen Studien und einem genauen Monitoring.

 

Zügig sollte die Rückkehr auch deshalb sein, weil, wie Forscher der Universität Bayreuth und der Medizinischen Hochschule Hannover in einer gemeinsamen Stellungnahme betonten, die befürchteten epidemiologischen Risiken im September noch dieselben sein werden wie heute. Jedes weitere Vertrösten wäre also nur eine Verschiebung der Thematik – mit den bekannten gesamtgesellschaftlichen und individuellen Folgen für die Kinder und ihre Familien. Hinzu komme, sagen die Mediziner aus Würzburg und Hannover: "Bei sorgsam umgesetzter wissenschaftlicher Begleitung wird die Verfolgbarkeit möglicher Infektionsketten nach Öffnen von Kitas/Schulen sehr viel eher möglich und kontrollierbar sein als nach dem Öffnen von Grenzen, Hotels oder Restaurants."

 

Es bleibt eine politische Entscheidung, die die Regierungschefs treffen müssen. Doch wäre die zügige Öffnung von Kitas und Grundschulen zugleich keine Entscheidung gegen die Wissenschaft, sondern eine Entscheidung auf der Grundlage der Wissenschaft in ihrer Multiperspektivität. Die Frage ist also nicht, ob die Wissenschaft ihren Job richtig macht, wie Laschet es zu Unrecht und aus erkennbarem Kalkül in Frage stellt. Die Frage ist: Tut es auch die Politik? 

 

Zuletzt waren wieder stärkere Zweifel angebracht. Denn die vielbeschworene (und nie ganz real existierende) Einigkeit von Bund und Ländern im Kampf gegen Corona ist in den vergangenen Tagen zerbrochen. Seit NRW-Familienminister Joachim Stamp (FDP) ankündigte, die Öffnung der Kitas im notfalls im Alleingang zu vollziehen. Seit Niedersachsen mit einem Gesamtplan für Wirtschaft, Schule, Kita und Kultur an den Start gegangen ist, Sachsen-Anhalt mit einer Lockerung der Kontaktregeln und Hamburg sowie Mecklenburg-Vorpommern mit Wiedereinstiegsplänen für Gastronomie und Hotelgewerbe. Hier geht es erkennbar wieder nach dem größten Druck, nicht nach den Grundlagen, die die Wissenschaft bereitstellt. 

 

Das schlimmste Szenario wäre das folgende: dass die Länder die Lockerungen für die Gastronomie aufwiegen durch Strenge in der Bildung. Dass die Mehrheit der Länder mit Ausnahme Nordrhein-Westfalens den berechtigten Vorwurf der Vielstimmigkeit und des "Vorpreschens" einzelner kontert durch gleichzeitige demonstrative Einigkeit bei Kitas und Schulen. Einigkeit in der Zurückhaltung wohlgemerkt. Einmal mehr wären es die Kinder und Familien, die für das politische Kalkül das größte Opfer bringen müssten. Ausgeschlossen? Nun ja: Niedersachsens Ministerpräsident Stephan Weil (SPD) hatte zuletzt angekündigt, dass er seinen Stufenplan zum Wiedereinstieg als Diskussionsgrundlage ansieht. Mit einer Ausnahme: Restaurants und Gaststätten, sagt Weil, sollten auf jeden Fall am Montag aufmachen. 



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Kommentare: 3
  • #1

    Oliver Locker-Grütjen (Dienstag, 05 Mai 2020 09:48)

    Herzlichen Dank, ein sehr wichtiger Beitrag.
    Hoffentlich sieht die Politik sehr schnell den immensen Schaden, der durch das "Herunterfahren" des Bildungssystems unserer Gesellschaft jetzt schon greift.
    Andere sind da klüger: So wollen z.B. die Niederlande ab dem 11. Mai mit der Öffnung von Grundschulen und Kindergärten beginnen, die Mitte März wegen der Coronavirus-Pandemie geschlossen worden waren.
    Dies wurde bereits am 20.4. mitgeteilt als mit genügend Vorlauf und entsprechender Planung. So kann es auch gehen.
    Und ein weiterer Punkt: Vielleicht sollte unsere Gesellschaft (der Dichter und Denker...) endlich einmal darüber nachdenken und eine Diskussion anstoßen (gerne auch hier im Blog), was eigentlich SYSTEMRELEVANZ bedeutet.
    Autokonzerne und Banken, Friseure und Baumärkte...?

  • #2

    Working Mum (Dienstag, 05 Mai 2020 13:34)

    Herzlichen Dank für dieses ausgewogene und engagierte Plädoyer! Dass jetzt ernsthaft auch nur darüber nachgedacht wird, Biergärten vor Kindergärten zu öffnen, macht mich fassungslos. Man sollte meinen, die politischen Entscheidungsträger*innen würden immerhin noch den Versuch unternehmen, zu verschleiern, wer in diesem Land eine Lobby hat (Autokonzerne bspw.) und wer nicht (Familien, vor allem Mütter, Kinder). Aber nichts dergleichen. Noch nie zuvor habe ich mich von der Politik so ganz persönlich im Stich gelassen gefühlt.

  • #3

    Iso Propyl (Dienstag, 12 Mai 2020 08:52)

    Wow! Seite spät entdeckt: Intelligent, umfassend, wichtig! Bleibt am Ball!