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"Gegen eine Wand"

Droht eine verlorene Generation von Hochschulabsolventen? 
Der Heidelberger Unirektor Bernhard Eitel warnt: Viele hochqualifizierte junge Menschen könnten ins Nichts fallen.

Bernhard Eitel, 60, ist Geograph und Geowissenschaftler und seit 2007 Rektor der Universität Heidelberg. Foto: Universität Heidelberg.

Herr Eitel, Bundesbildungsministerin Anja Karliczek sagte vergangene Woche im Interview, sie sei "nicht so pessimistisch", was den Arbeitsmarkt in der Coronakrise angeht. "Vor einem Vierteljahr haben wir noch in jeder Podiumsdiskussion über den Fachkräftemangel in all seinen Ausprägungen debattiert", sagte sie. "Ich glaube nicht, dass sich das jetzt so schnell so komplett umdreht. Die meisten Betriebe planen langfristiger."

 

Die Ministerin hat sich hauptsächlich auf die berufliche Bildung bezogen, dazu kann ich nichts sagen. Aber was die Absolventinnen und Absolventen von Universitäten und Fachhochschulen betrifft, würde ich vor jeder Gelassenheit warnen. Es besteht die große Gefahr, dass ein Jahrgang, möglicherweise sogar zwei Jahrgänge gegen eine Wand laufen. Wir reden hier von hunderttausenden junger Menschen, und mein Eindruck ist, dass die Politik deren Situation nicht auf dem Schirm hat.

 

Wie meinen Sie das?

 

Die vergangenen Wochen wurde zu Recht über Hilfspakete für die aktuell Studierenden gestritten und viel erreicht. Dafür gebührt allen Verantwortlichen Dank. Aber wer setzt sich für Lösungen für die Absolventen ein? Die bewerben sich, stoßen auf Unternehmen, die in Schockstarre ihre Stellenbesetzungen auf Eis gelegt haben – und fallen ins Nichts. Sie haben in keine Arbeitslosenversicherung eingezahlt, sie können kein BAföG mehr beziehen. Ihnen bleibt nur Hartz IV. Das ist weniger zum Leben, als sie als Studierende hatten. 

 

"Welch gesellschafts- und wirtschaftspolitischer
Unsinn es wäre, wenn die
klügsten
jungen Menschen ohne Perspektive blieben."

 

Überdramatisieren Sie nicht? In ein paar Monaten kann die Situation schon wieder ganz anders aussehen. 

 

Ja, aber es wird sich voraussichtlich nicht nur um einige Monate handeln. Und dann kommt schon die nächste Absolventengeneration aus den Hochschulen, die auch Jobs sucht. Das ist eine bedrohliche Situation. Was wir unbedingt verhindern müssen, ist eine Mediterranisierung unseres Bildungssystems – mit einem hochqualifizierten akademischen Proletariat, das wenig Perspektiven auf dem Arbeitsmarkt hat und sich desillusioniert durch seinen Alltag kämpft. 

 

Was fordern sie?

 

Ein erster Schritt wäre, dass wir überhaupt gemeinsam die Debatte führen. Gerade die jungen Leute brauchen Überbrückungshilfen, sie müssen die Schulden, die jetzt gemacht werden, ja auch abtragen. Dass wir uns klarmachen, welch ungerechter, gesellschafts- und wirtschaftspolitischer Unsinn es wäre, wenn die klügsten jungen Menschen ohne Perspektive blieben. Und das in einer Lebensphase, in der sie ohnehin keine Zeit zu verlieren haben. Ende 20 ist man in dem Alter, in dem man mit der Karriere durchstartet, in der man eine Familie gründet und sich eine Zukunft baut. All das droht für die nächste Generation von Absolventinnen und Absolventen in Frage zu stehen.  

 

Anja Karliczek sagt, "zum Glück" sei die Lage ganz anders als zu Zeiten der Rekordarbeitslosigkeit Anfang der 2000er Jahre. "Die Wirtschaft weiß, dass in den nächsten Jahren die geburtenstarken Jahrgänge in Rente gehen und dass sie dann junge Leute brauchen."

 

Darum differenziere ich: Ich rede nicht von den Hochschulabsolventen der Zukunft insgesamt, ich rede von den nächsten beiden Jahrgängen. Die wird es treffen, selbst wenn die Konjunktur wieder anspringen sollte, weil dann die noch Jüngeren auf den Markt kommen und mit ihnen konkurrieren. In einem hat die Ministerin ja Recht: Das ist eine Generation von Akademikern, die ihr Studium begonnen haben in der Erwartung einer Art von Generationentantieme mit Vollbeschäftigung. Die Enttäuschung, aus einer solchen Flughöhe abzustürzen, ist nochmal heftiger. Doch nimmt das bislang kaum jemand wahr, denn diese Gruppe der Absolventen ist hochdifferenziert und hat keine wortstarke Lobby. Wie mich überhaupt stört, dass in der Corona-Bildungsdebatte einige Perspektiven fehlen.

 

"Bei den Nachwuchswissenschaftlern
tickt eine Zeitbombe."

 

Welche denn noch?

 

Die der jungen Nachwuchswissenschaftler zum Beispiel. Wirtschaftlich sind viele zunächst noch abgesichert, weil sie über Drittmittelverträge beschäftigt sind, aber auch da tickt eine Zeitbombe, wenn ihre Beschäftigungsverhältnisse auslaufen und viele von ihnen normalerweise in Unternehmen wechseln würden. Und in der Wissenschaft zu bleiben, wird durch die Krise für sie auch schwieriger. 

 

Weil die Wissenschaftsfinanzierung leiden wird?

 

Das wissen wir noch nicht, ausgeschlossen ist auch das leider nicht. Schauen Sie auf die Diskussion um die ERC-Forschungsförderung in Europa. Aber aktuell meine ich etwas Anderes: Junge Wissenschaftler sind besonders abhängig von Reisetätigkeiten, von der Teilnahme an Konferenzen und Meetings. Die älteren Forscher haben schon ihre Netzwerke aufgebaut, die können ihre Kontakte eine Weile lang nur mit Videokonferenzen  aufrecht erhalten. Aber die Jungen müssen ihre akademischen Netzwerke erst noch aufbauen, und das geht nun einmal vorrangig persönlich. Dadurch haben sie eine akademische Karrierehürde, die, je länger die Beschränkungen dauern, massive Auswirkungen haben kann. LKW-Fahrer dürfen die Grenzen überqueren, weil sie systemrelevant sind. Wissenschaftler müssten nach einem Auslandsaufenthalt erstmal vierzehn Tage in Quarantäne. Um dies zu vermeiden, braucht es die Schnelltests, vielleicht so, wie sie am Flughafen in Wien angeboten werden.

 

"Die Politik macht sich unglaubwürdig, wenn
sie die Bedeutung der Außenwissenschaftspolitik
betont, sie aber nahezu unmöglich macht." 

 

Die Debatte über Grenzöffnungen läuft doch längst.

 

Im Moment sehe ich nur Politiker, die die Grenzen zum Nachbarland öffnen wollen, um das Leben der Anwohner zu normalisieren. Hier geht es um viel mehr. Universitäten sind international. Ich finde es hoch problematisch, dass, ohne jede Differenzierung zwischen weniger oder mehr von der Pandemie betroffenen Regionen, jegliche europäische Mobilität völlig abgeschnürt ist. Der Erasmus-Austausch, der Aufbau der Europäischen Universitäten, all das kann nicht nur online laufen. Die Politik macht sich unglaubwürdig, wenn sie die Bedeutung der Außenwissenschaftspolitik für Europa betont, sie aber de facto nahezu unmöglich macht. 

 

Was kann die Politik denn tun?

 

Wir brauchen zumindest jetzt sofort eine Diskussion über die Frage, wann und wie wir wieder die internationale Mobilität der Wissenschaft ermöglichen wollen. Vieles kann man digital abfedern, aber nicht alles. Wir werden wohl im Wintersemester viel weniger internationale Studierenden haben. Stellen Sie sich vor, was das an besonders international ausgerichteten Universitäten bedeutet, in Heidelberg aber auch für die Universitäten  in München oder Berlin. Was macht das fehlende Erfahrungswissen mit der Mentalität der Menschen, mit ihrer Einstellung zu Europa und dem Rest der Welt. Hier drohen Langzeitfolgen, die wir nicht wollen können.



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Kommentare: 3
  • #1

    MF (Mittwoch, 13 Mai 2020 10:09)

    Eigentlich spricht Herr Prof. Eitel hier zwei wichtige Punkte an. Wenn aber von "Mediterranisierung unseres Bildungssystems" die Rede ist wird ein unpassendes Klischee transportiert, das inhaltich auch schlichtweg falsch ist. Und auch die Forderung nach Aufhebung der Reisebeschränkung ist zu kurz gedacht. Die Fachkonferenzen und Kongresse werden weiterhin ausfallen oder online abgehalten, weil das Risiko von derart vielen Menschen aus unterschiedlich betroffenen Regionen auf engem Raum viel zu hoch ist.

  • #2

    McFischer (Mittwoch, 13 Mai 2020 10:36)

    Manches gute Argument. Aber das 'Problem', dass junge Wissenschaftler stark eingeschränkt sind, weil sie nicht mehr auf internationale Konferenzen fahren können... nicht wirklich. Die meisten Konferenzen sind ein ziemlich ergebnisloses Schaulaufen, etwas, das man sich in den Lebenslauf schreibt ("paper/poster presented at the XX World Conference on YY"), aber das kaum nachhaltige Wirkung für die Karriere hat. Meiner Erfahrung sind es gerade die Etablierten, die dann mit 'keynote speaches' sich präsentieren können oder bei privaten Abendessen ihre schon bestehenden Netzwerke vertiefen. Für junge Wissenschaftler/innen eher verzichtbar.

  • #3

    Andreas Villwock (Mittwoch, 13 Mai 2020 13:53)

    Ich kenne allein aus meinem direkten privaten Umfeld drei junge Hochschulabsolventen, die jetzt völlig perspektivlos sind, weil niemand mehr einstellt und sie jetzt Grundunterstützung beantragen müssten, wenn Familie sie nicht auffängt. Wir zerstören gerade die Perspektiven von tausenden von jungen Menschen. Ist das gerecht, ethisch vertretbar? Vielleicht sollten wir auch diese Perspektiven mal in die breite öffentliche Debatte bringen.