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"Vorsicht an der Bahnsteigkante!"

Bundesbildungsministerin Anja Karliczek über die Kritik an ihrer Studierenden-Nothilfe, die neue Wirklichkeit in den Schulen und ungerechtfertigte Kritik an der Wissenschaft: ein Interview.

Die CDU-Politikerin Anja Karliczek: Heute geht ihr Corona-Paket ins Bundestagsplenum.  
Fotos: BMBF/Laurence Chaperon.

Frau Karliczek, als Sie vergangene Woche Ihre Corona-Überbrückungshilfe für Studierende präsentierten, berichteten Sie von den vielen Schreiben betroffener Studierender, die Ihnen "in dieser Ausnahmesituation ihre Not geschildert" hätten. Das klang fast so, als hätte Sie diese Not überrascht?

 

Diese Pandemie hat für viele Studentinnen und Studenten in den vergangenen Wochen ganz erhebliche finanzielle Auswirkungen gehabt – und hat sie vielfach sicher noch. Gerade in der Gastronomie sind von einem Tag auf den anderen praktisch alle Jobs wegfallen. Ich kenne die Branche ja recht gut. Aber auch anderswo war der Verdienst von Studierenden plötzlich weg. Schon Mitte März haben wir begonnen, zunächst BAföG-Regelungen der Situation anzupassen – und hatten auch weitere Hilfen immer im Blick. Ich sehe die Schreiben übrigens positiv. Sie zeugen doch von dem Vertrauen in die Politik, dass sie Argumenten zugänglich und bereit ist, sich Diskussionen zu stellen.  

 

"Einen Zuschuss für Studierende in
Notlagen habe ich nie ausgeschlossen."

 

Vielleicht auch mehr von der Verzweiflung über die Politik? Nachdem Sie am 12. April ein Nothilfe-Paket angekündigt hatten, schon damals ziemlich spät, wie viele fanden, dauerte es nochmal über zwei Wochen, bis Sie Vollzug gemeldet haben. 

 

Die Ausgestaltung des Pakets in all seinen Details war nicht einfach. Jetzt haben wir ein gutes Ergebnis. Für die Studierenden, die kein BAföG beziehen können, gibt es nun eine schnelle Überbrückungshilfe. 

 

Ihr Koalitionspartner, die SPD, wollte das BAföG für die Zeit der Krise für alle öffnen, mit der bewährten Mischung aus zinslosem Darlehen und Zuschuss. Ihre Länderkollegen forderten das auch. Sie aber wollten auf keinen Fall ans BAföG ran und am Anfang auch ausschließlich einen Kredit. Warum eigentlich?

 

Einen Zuschuss für die, die in wirklichen Notlagen sind,  habe ich nie ausgeschlossen. Das BAföG ist aber aus guten Gründen eine Studienunterstützung für die Erstausbildung. Sie ersetzt die Unterhaltsleistung der Eltern, wenn diese das Studium der Kinder nicht finanzieren können. An diesem Grundsatz wollte ich auch jetzt festhalten, aber dennoch denen helfen, die nicht BAföG-berechtigt sind und ihren Unterhalt in normalen Zeiten durch Arbeit verdienen. Sie können nun eine Überbrückungshilfe bekommen –Studierende in nachweislich besonders akuten Notlagen in Form eines Zuschusses über die Studierendenwerke oder in allen anderen Fällen in Form eines Darlehens über die die Kreditanstalt für Wiederaufbau. Damit ist auch sichergestellt, dass die Hilfe schnell und unbürokratisch kommt. Es müssen jetzt nicht erst lange neue Prüfverfahren zur Bedürftigkeit der einzelnen Studierenden entwickelt werden.


Anja Karliczek, 49, ist CDU-Politikerin und seit März 2018 Bundesministerin für Bildung und Forschung. Vorher war sie parlamentarische Geschäftsführerin in ihrer Fraktion.


Man konnte zwischendurch den Eindruck bekommen, Sie hätten weniger Sorge um die Studierenden als darum, dass Ihnen irgendwann vorgeworfen werden könnte, Sie hätten die Studierenden zu sehr gepampert. 

 

Wer wirklich Not leidet, dem soll geholfen werden, keine Frage. Es ist aber auch legitim, etwaige Mitnahmeeffekte gering halten zu wollen. 


Das Paket, das Sie jetzt aufgelegt haben, kostet vielleicht 150, 160 Millionen Euro, doch hunderte Millionen Euro BAföG-Gelder vom vergangenen Jahr sind noch übrig. Warum zeigen Sie sich nicht großzügiger und legen auf den Nothilfe-Zuschuss noch was drauf?

 

Mit einem früheren Finanzminister kann ich nur sagen: Vorsicht an der Bahnsteigkante. Viele Studierende werden jetzt erstmals BAföG beantragen. Andere können per Aktualisierungsantrag mehr Ausbildungsförderung bekommen. Das Einkommen vieler Eltern ist in diesen Tag geschrumpft, weil sie vielleicht ihre Stelle verloren haben, in die Kurzarbeit gerutscht sind oder ihr Betrieb nicht gut läuft. Wir werden also mehr BAföG-Berechtigte haben. Wir können über jeden Puffer froh sein, den wir haben.  

 

Der grüne Bildungspolitiker Kai Gehring sprach dennoch von einer "kaltschnäuzigen Fehlentscheidung" und warf Ihnen ideologische Verbohrtheit vor. Studierendenverbände fordern Ihren Rücktritt

 

Gerade in einer Krise werden Sorgen manchmal sehr zugespitzt formuliert. Es ist legitim, als Opposition die Dinge anders zu sehen. Aber manchmal vereinfacht die Opposition auch etwas zu sehr. Als Regierungspolitiker muss man das hinnehmen. 

 

"Ich finde unsere Corona-Strategie
doch recht deutlich."

 

Gibt es eigentlich so etwas wie eine Gesamtstrategie hinter all den Notpaketen der Bundesregierung?

 

Ich finde die Strategie wird doch recht deutlich. Zunächst wollen wir notleidenden Menschen helfen, damit sie durch die Krise kommen. Und zugleich versuchen wir in der Wirtschaft Strukturen zu erhalten, damit das Land bald wieder durchstarten kann. Im nächsten Schritt werden wir in der Bundesregierung Konjunkturprogramme zur Wirtschaftsbelebung auflegen, die auch kluge Anreize für zukunftsweisende Innovationen setzen sollten. Da schauen wir auf Technologien für den Klimaschutz wie den Grünen Wasserstoff, aber auch die Sicherung unserer technologischen Souveränität. 

 

Wörter wie "Überbrückungshilfe" suggerieren, dass die Krise in absehbarer Zeit wieder vorbei ist. Werden so nicht völlig falsche und überzogene Erwartungen geweckt?

 

Wir werden noch eine ganze Weile in einer neuen Wirklichkeit leben, die – das müssen wir ganz klar so sagen – trotz aller Lockerungen eine ganz andere sein wird als die, die wir gewohnt waren. Die Phase wird solange dauern, bis ein Impfstoff gefunden ist. In dieser sogenannten neuen Wirklichkeit wird es für Schulen, für Hochschulen, für Kitas, das gilt im Grunde für unsere ganze Gesellschaft, immer noch viel anders sein als vor der Pandemie. Es kann sogar sein, dass wir Lockerungen wieder zurückführen müssen, wenn die Infektionszahlen wieder steigen sollten.

 

Was heißt das für die Kitas und Schulen?

 

Gehen wir mal vom günstigsten Fall aus, dass wir ab nächstem Sommer der Bevölkerung einen Impfstoff anbieten können. Bis dahin wird der Unterricht vermutlich weiter nur unter Pandemiebedingungen stattfinden können. Es wird also eine Mischung zwischen Präsenzunterricht und Lernen zu Hause geben. Dabei gehe ich davon aus, dass Kinder genauso ansteckend sind wie Erwachsene, was aber noch nicht abschließend geklärt ist. Es würde aber bedeuten, dass wir weiter streng die Hygiene- und Abstandsregeln einhalten müssen. Das Ziel muss sein, dass auch in den nächsten Monaten unter diesen Bedingungen Schulbildung so gut wie möglich angeboten wird. Die Schulen organisieren sich gerade neu. Viele hoffen vielleicht auf eine kurze Übergangsphase. Diese Übergangsphase wird aber noch wenigstens bis ins nächste Schuljahr andauern. Darauf müssen wir uns einrichten. 

 

"Der Schulbesuch kleinerer Kinder
bleibt eine enorme Herausforderung."

 

Das ist eine Botschaft, die man so von den Kultusministern lange nicht hörte. Die konnten sich bis vor ein paar Tagen gerade eimal zu der Ansage durchringen, dass es bis zum Ende des laufenden Schuljahres keinen normalen Zustand mehr geben wird und dass jedes Kind trotzdem zumindest irgendwann noch einmal vor den Sommerferien zur Schule gehen soll. 

 

Die Debatte läuft doch längst. Wir wissen doch, dass es noch dauert, bis ein Impfstoff verfügbar ist. Und wir müssen uns vor Augen führen, dass der Schulbesuch gerade kleinerer Kinder eine enorme Herausforderung bleibt, weil die Hygiene- und Abstandsvorschriften weiter eingehalten werden müssen. Hinzu kommen personelle Engpässe, weil viele Lehrkräfte zur Risikogruppe gehören, und auch Räume an den Schulen knapp sind. 

 

Viele Schulen fühlen sich in dieser Situation von der Politik alleingelassen. 

 

Die Politik muss die Schulen bestmöglich unterstützen – und das tut sie auch. Dennoch wird auch jede Schule für sich den neuen Alltag organisieren müssen. An jeder Schule und in jeder Region ist die Situation eine andere, weswegen jede Schule ihr eigenes Konzept braucht. Das ist ein bisschen so wie beim Digitalpakt. Auch dort muss jede Schule ein Konzept entlang der eigenen Bedingungen entwerfen. Die Kultusminister und Regierungschefs können Rahmenbedingungen abstecken – und das haben sie getan. 

 

Reicht das?

 

Die Leitlinien der Kultusminister sind eine gute Grundlage für die Schulöffnungen. Dieser rote Faden ist von den Regierungschefinnen und Regierungschefs von Bund und Ländern nun bestätigt worden. Wir brauchen aber auch Flexibilität, weil schon in jedem Land das Schuljahr anders abläuft. Die Schulferien beginnen in Deutschland unterschiedlich.  

 

"Wir wollten jetzt keine überflüssigen Diskussionen
über verkürzte Sommerferien führen."

 

Sollte zu gemeinsamen Leitlinien auch gehören, dass Samstagsunterricht eingeführt wird oder die Sommerferien dieses Jahr kürzer ausfallen?

 

Wir sollten jetzt keine überflüssigen Diskussionen führen. Die über eine mögliche Verkürzung der Ferien ist so eine. Ich kenne viele Familien, die wünschen sich nach Wochen des gefühlten Ausnahmezustandes etwas, an dem sie festhalten können. Die Vorfreude auf die gemeinsamen Sommerferien ist für viele genau dieses Stück Licht am Ende des Tunnels, auch wenn niemand im Augenblick weiß, wo sie stattfinden können. Zusätzliche Angebote vielleicht am Ende der Ferien, für diejenigen, die das wollen und brauchen: auf freiwilliger Basis ja. Aber wenn man jetzt die Sommerferien um die Hälfte kappt, würde man ein Stück Vertrauen in die Verlässlichkeit der Schule nehmen, dass man im neuen Schuljahr noch dringend brauchen wird. 

 

Auch wenn Kinder dadurch einen unwiederbringlichen Lernrückstand erleiden?

 

Wir müssen genau hinschauen, welche Auswirkungen der Ausfall an Präsenzunterricht auf welche Kinder hat. Es gilt sicherzustellen, dass alle Kinder mitkommen. Deshalb richtet die Politik ein besonderes Augenmerk auf Kinder mit besonderem Unterstützungsbedarf. Bildung am Laufen zu halten, ist genauso wichtig, wie die Wirtschaft in Gang zu setzen. Dabei sollte man keine Ängste aufbauen. Angst ist nie ein guter Ratgeber. 

 

Wenn sich Millionen Schüler und Lehrkräfte, wie Sie sagen, mindestens für das ganze Schuljahr 2020/21 auf einen Wechsel zwischen Präsenz und digitalem Fernunterricht einstellen müssen, steht das Ergebnis dieses Unterfangens angesichts der kläglichen technischen Ausstattung vieler Schulen nicht schon fest?

 

Es tut sich eine Menge. Und als Bundesregierung haben wir seit Beginn der Krise gleich eine ganze Reihe von Paketen auf den Weg gebracht, um den Schulen bei der Entwicklung digitaler Angebote zu helfen. 

 

"Ihre Bewertung, dass der Digitalpakt
notorisch langsam sei, teile ich nicht."

 

Zum Beispiel sollen jetzt 100 Millionen Euro aus dem 5,5 Milliarden Euro schweren und notorisch langsamen Digitalpakt schneller fließen. Wo genau soll die Beschleunigung eigentlich herkommen?

 

Zunächst: Ihre Bewertung, dass der Digitalpakt "notorisch langsam" sei, teile ich nicht. Aber das ist ein anderes Thema. Mit den 100 Millionen Euro können die Länder den schnellen Aufbau der Infrastruktur und die Ausweitung des digitalen Unterrichts in Zeiten bundesweit geschlossener Schulen umsetzen. Denn wir haben ja gesehen, dass die Schulschließungen sprunghaft zu neuen Anforderungen für digitales Lernen geführt haben. Dabei gibt es auch länderübergreifende Ansätze, was ich sehr begrüße. Denn so entstehen neben kurzfristig nutzbaren Strukturen auch langfristig wirkende Innovationen. Neu ist auch, dass aus diesem Topf zeitlich befristet auch digitale Lernangebote angeschafft werden können. 

 

In einem Interview haben Sie neulich eine länderübergreifende Online-Plattform namens Sodix genannt, auf der die Bundesländer gemeinsam frei zugängliche Bildungsmedien zur Verfügung stellen werden. Sodix wird aber sicher keine 100 Millionen Euro kosten.

 

Sodix ist ein Beispiel dafür, was ich eben meinte. Diesen Antrag haben die Länder gemeinsam geschrieben und als länderübergreifendes Projekt im Digitalpakt rasch auf den Weg gebracht. Das ist ein gutes Signal.

 

Parallel haben Sie 15 Millionen Euro für die Verbreitung der HPI-Schul-Cloud in weitere Bundesländer bereitgestellt, kommen die auch aus dem 100-Millionen-Topf?

 

Nein, das ist extra Geld.

 

Dass Sie in der Coronakrise den Ausbau einer einzigen Schul-Cloud so massiv fördern, wird von vielen empört als Marktverzerrung kritisiert. Was antworten Sie Ihren Kritikern?

 

Wir haben die HPI-Schul-Cloud als Forschungs- und Innovationsprojekt aufgesetzt, bei dem uns unter anderem wichtig war, dass die in Deutschland geltenden Datenschutz-Standards konsequent eingehalten werden. Dahinter steht kein Unternehmen, sondern eine Forschungseinrichtung, die eine Open-Source-Lösung zur Verfügung stellt. 

 

Die HPI-Konkurrenten halten Sie also nicht für datenschutzkonform?

 

Das sage ich nicht. Ich sage nur, dass wir beim HPI-Projekt hier eine Sicherheit haben.

 

"Für mich ist wichtig, dass jedes Kind am Ende
Zugang zu der nötigen Technik hat." 

 

Die Sonderfinanzierung der HPI-Schul-Cloud läuft Ende des Jahres aus. Und was sollen die Schulen, die Ihr Angebot genutzt haben, dann machen?

 

Mit der Sonderfinanzierung haben wir auf die aktuelle Ausnahmesituation reagiert. Für den Regelbetrieb einer Schul-Cloud sind aber die Länder zuständig. Hier gibt es unterschiedliche Ansätze. Der Digitalpakt bietet die Möglichkeit, den Aufbau und die Weiterentwicklung auch von Cloudangeboten zu fördern. 

 

Das dritte Digitalpaket soll finanzschwache Schüler dabei unterstützen, die nötige digitale Ausstattung für den Fernunterricht zu bekommen. 500 Millionen Euro für Endgeräte klingt viel, 150 Euro pro bedürftigem Schüler dagegen völlig unrealistisch, wenn davon mindestens ein Tablet und ein Drucker gekauft werden müssen.

 

Für mich ist wichtig, dass jedes Kind am Ende Zugang zu der nötigen Technik hat. Wir reden gerade mit den Ländern über ein entsprechendes Modell. Es könnte darauf hinauslaufen, dass die Geräte über die Schulen und Schulträger leihweise ausgegeben werden. 

 

Wie weit sind denn die Verhandlungen mit den Ländern zu dieser Frage?

 

Wir sind in konstruktiven Gesprächen und ich gehe davon aus, dass wir sehr bald etwas verkünden können.  

 

So erfreulich das mit dem 500 Millionen-Einmalpaket ist: Das Recht auf digitale Bildungsteilhabe geht ja nach Corona nicht wieder weg. Müsste es nicht also auch ein Dauerprogramm zu diesem Zweck geben?

 

Die Ausstattung mit Lehrmitteln ist grundsätzlich Ländersache. Dass wir hier kurzfristig helfen, ist eine Ausnahme. Es gibt eine Aufgabenverteilung zwischen Bund und Ländern im Grundgesetz. Wir haben außerdem das Bildungs- und Teilhabepaket. 

 

Trotzdem ist immer wieder zu hören, dass Jobcenter sich weigern, bedürftigen Schülern die nötige Ausstattung zu finanzieren.

 

Deshalb arbeiten wir ja gerade an einer Lösung, die kurzfristig greifen soll. 

 

"Am Ende wird es nicht um Homeschooling versus Präsenz
gehen, sondern um ein neues Verständnis von Unterricht."

 

Womöglich führen die Massenbestellungen aber nicht dazu, dass die Geräte günstiger werden, sondern dazu, dass es gar keine Geräte mehr auf dem Markt gibt. Was macht Sie eigentlich zuversichtlich, dass die Digitalisierung der Bildung nicht zu einem Strohfeuer wird?

 

Das digitale Lernen wird nach der Krise einen höheren Stellenwert haben als vor der Pandemie. Der Kern der Schule wird aber Präsenzunterricht bleiben. Viele werden jetzt aber den Wert der Schule als Raum des Miteinanders neu erkennen. Lernen ist eine soziale Interaktion. Es ist etwas ganz Anderes, allein vor einem Rechner zu sitzen oder gemeinsam mit seinen Mitschülern an einer Aufgabe zu knobeln. Wie sich der Präsenz- und Digitalunterricht am besten verknüpfen lassen, werden die Schulen und die Bildungsforschung in der nächsten Zeit immer besser herausfinden. Am Ende wird es gar nicht so sehr um die Frage Homeschooling versus Präsenz gehen, sondern um ein neues Verständnis von Präsenzunterricht verknüpft mit digitalen Bildungsangeboten.

 

Was ist eigentlich mit den Hochschulen? Benötigen die in der Coronakrise nicht auch dringend ihren eigenen Digitalpakt? Der Koalitionsvertrag sieht ja wenigstens einen Digitalisierungswettbewerb vor.  

 

Mit meinen Kolleginnen und Kollegen aus den Ländern habe ich vergangenes Jahr die Vereinbarung "Innovation in der Hochschullehre" beschlossen, die dem Qualitätspakt Lehre nachfolgen wird. Da wird die Digitalisierung der Hochschullehre einen Schwerpunkt bilden. Mein Eindruck aus vielen Gesprächen in den vergangenen Wochen ist aber, dass an den Hochschulen sehr vieles schon sehr gut läuft. Die Wissenschaftsminister haben sich lobenswerterweise sehr früh darauf geeinigt, das Sommersemester im Kern online durchzuführen. Natürlich ist das auch ein Stückweit einfacher möglich, weil sie an Hochschulen mit Erwachsenen arbeiten. Doch auch an den Hochschulen wird man in den kommenden Wochen viel lernen, vor allem an den Stellen, wo nicht alles von Anfang an rundläuft. 

 

Und was ist mit dem im Koalitionsvertrag versprochenen Wettbewerb?

 

Wir haben die Vereinbarung "Innovation in der Hochschullehre". Wenn die gut umgesetzt wird, werden wir schon einen guten Schritt weiterkommen. 

 

Womit ein möglicher Wettbewerb frühestens im nächsten Jahr startet. Apropos nächstes Jahr: Sie haben gestern den Berufsbildungsbericht vorgestellt. Drohen die Auszubildenden wegen Corona gegen eine Wand zu laufen?

 

Ich bin da nicht so pessimistisch. Vor einem Vierteljahr haben wir noch in jeder Podiumsdiskussion über den Fachkräftemangel in all seinen Ausprägungen debattiert. Es gab einen Überschuss an Stellen für Fachkräfte und Auszubildende. Ich glaube nicht, dass sich das jetzt so schnell so komplett umdreht. Die meisten Betriebe planen langfristiger. Fürs neue Ausbildungsjahr haben wir natürlich noch keine Zahlen. Die Wirtschaft weiß, dass in den nächsten Jahren die geburtenstarken Jahrgänge in Rente gehen und dass sie dann junge Leute brauchen. Wir haben heute zum Glück eine ganz andere Situation als etwa Anfang der 2000er Jahre. In der Allianz für Aus- und Weiterbildung werden wir aber die Situation genau beobachten. Für Schlussfolgerungen ist es jetzt noch zu früh. 

 

"Die Gesellschaft beobachtet gerade in Echtzeit,
wie Erkenntnisgewinn in der Wissenschaft läuft."

 

Gerade gab es noch Rekord-Vertrauenswerte für die Wissenschaft, jetzt nimmt die Kritik an den Virologen zu. Droht eine neue Phase der Wissenschaftsskepsis, je länger die Coronakrise dauert? Manche Regierungschefs, darunter der aus Ihrem Heimatbundesland, vermissen eindeutige Botschaften. Haben Sie eine eindeutige Botschaft für Herrn Laschet?

 

Die Gesellschaft beobachtet gerade in Echtzeit, wie Erkenntnisgewinn in der Wissenschaft läuft. Es wurde deutlich, wie Wissenschaft ständig dazulernt und Erkenntnisse auch immer wieder korrigiert werden müssen. Das Sammeln dieser Erkenntnisse über ein bis vor kurzem noch völlig unbekanntes Virus dauert seine Zeit, und ja, das ist ein anstrengender Prozess für alle Beteiligten. Das lernen gerade alle, auch die Politik.

 

Erwartet die Gesellschaft, erwartet die Politik nicht gerade viel zu viel und viel zu schnell von der Wissenschaft?

 

Die Gefahr sehe ich auch. Darum müssen wir für die Wissenschaft auch werben und sie gegen manche ungerechtfertigte Kritik verteidigen. Wir müssen Wissenschaftler aber auch davon abhalten, sich aus dem Frust, nicht immer richtig verstanden zu werden, von der Öffentlichkeit abzuwenden. Als Entscheidungsträger orientieren wir uns an den wissenschaftlichen Erkenntnissen, bewerten sie aber natürlich letztlich eigenständig. Schon wegen dieses Umstands hat natürlich dann auch die Öffentlichkeit ein Anrecht zu erfahren, wie es zum Beispiel mit der Erforschung des Virus weitergeht. Das haben viele Wissenschaftler auch erkannt. 

 

Die Bundesregierung fördert die Corona-Forschung massiv. Wieviel Freiheit bleibt da noch der Wissenschaft?

 

Wir investieren 150 Millionen Euro in ein Forschungsnetzwerk von Universitätsklinika zu Corona. Das heißt aber nicht, dass wir die Wissenschaftsfreiheit der beteiligten Forscher dabei nicht achten. Im Gegenteil: Wir sorgen in erster Linie vielmehr dafür, dass die wissenschaftlichen Erkenntnisse, die an einer Stelle des Netzwerkes entstehen, allen anderen Stellen zur Verfügung stehen. Indem wir alle Universitätsklinika in Deutschland zusammenbringen, entsteht nun ein großer Datenschatz. 

 

Seit Wochen haben die Regierungschefs über alle möglichen Lockerungen der Corona-Beschränkungen diskutiert. Kitas und Schulen, so scheint es, standen dabei lange weit hinten. Was sagt das über die Priorität von Bildung in unserer Gesellschaft aus?

 

Für uns Bildungspolitiker waren die Belange der Bildung seit Beginn der Krise ein ganz zentraler Punkt. So habe ich mich zum Beispiel an die Leopoldina gewandt und sie gebeten, Leitlinien zu entwickeln, wie die Bildungseinrichtungen in dieser Zeit arbeiten könnten und wie eine schrittweise Wiedereröffnung erfolgen könnte. Das haben die Forscher getan, und inzwischen kann man sagen, dass die Bildung zum Glück wieder stärker in den Blick geraten ist. 

 

"Inzwischen ist Bildung zum Glück
wieder stärker in den Blick geraten."

 

Da, wo sie angeblich doch immer als Top-Priorität ist?

 

Bildung hat in unserem Land einen ganz hohen Stellenwert. Insofern ist die Bildungsrepublik Deutschland Realität geworden ist. In Umfragen nennen die Menschen das Ziel hochwertiger Bildung und fairer Bildungschancen meist als allererstes. Jetzt in der Krise mag in der Wahrnehmung die Bildung erst an zweiter, dritter oder manchmal erst an fünfter Stelle stehen. Aber die Menschen wissen genau, wie wichtig Bildung ist. 

 

Das müssen Sie jetzt nur noch den Regierungschefs klarmachen!

 

Alle politisch Verantwortlichen haben die herausragende Bedeutung guter Bildung erkannt. Und der Föderalismus hat auch in der Krise seine Stärke bewiesen, auf unterschiedliche Problemlagen mit adäquaten Lösungen reagieren zu können. Aber richtig ist auch: Nichts ist so gut, dass es nicht noch besser werden kann. 



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Kommentare: 2
  • #1

    EmCe² (Donnerstag, 07 Mai 2020 13:38)

    Zum Thema "zinslos" kann man hier nur den heutigen Artikel der Kollegen von SpiegelOnline empfehlen: https://www.spiegel.de/panorama/bildung/darlehen-fuer-studierende-in-not-im-ansatz-voellig-verfehlt-a-c514de36-2c90-4f36-9485-af7ba52a5ab6
    ...und die betroffenden Studierenden werden deshalb sagen: Danke, für nichts.

  • #2

    Jan-Martin Wiarda (Donnerstag, 07 Mai 2020 14:51)

    @EmCe²: Vielen Dank für den Hinweis. Schauen Sie gern auch hier:
    https://www.jmwiarda.de/2020/05/06/überbrückungshilfe-als-lockvogelangebot/