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Normalfall Magdeburg

Wegen eines regionalen Covid-19-Ausbruchs mussten in Sachsen-Anhalts Hauptstadt zuletzt mehrere Schulen geschlossen werden. Das ist kein Drama, im Gegenteil: Es ist die neue Corona-Normalität.

ES IST FRÜHER SAMSTAGMORGEN, und "Frau L ist müde" muss ihrem Ärger Luft machen. Die "Mutter von zwei Mädels", wie es in ihrem Twitter-Profil heißt, tippt in ihr Handy: "In unserer Stadt werden ab Montag 7 (!) Schulen aufgrund neuer Corona-Infektionen geschlossen. Wer hätte das ahnen können"?

 

Sie sagt nicht, welche Stadt sie meint, aber die andere Twitter-User sind sich schnell einig: "Frau L ist müde" kommt aus Magdeburg. Dort mussten wegen einer Häufung von Covid-19-Erkrankungen in Familien sieben Schulen und Jugendeinrichtungen den Unterricht und die Kinderbetreuung vorübergehend einstellen. Das Gesundheitsamt begründete den Schritt damit, dass die Infektionsketten derzeit nicht vollständig nachvollzogen werden könnten. Sieben Familien seien inzwischen von Erkranken betroffen, hieß es am Wochenende: 17 positiv getestet Personen, davon sieben Kinder. 

 

Und in noch etwas sind sich viele Twitter-Kommentatoren unter dem hundertfach geteilten Tweet einig: Das kommt davon, wenn man die Kitas und Schulen immer weiter öffne. 

 

Seit 8. Juni, spätestens aber von diesem Montag an, kehren auch die Grundschulen in Sachsen-Anhalt zum täglichen Unterricht für alle Schüler zurück, die Abstandsregel gilt dann nicht mehr, dafür feste Gruppen und weitere Hygieneregeln.

 

Angesichts der zeitlichen Verzögerung zwischen Infektion und Fallerfassung können die aktuellen Fälle allerdings noch nicht mit der Abschaffung der Abstandsregel zusammenhängen. Hinzu kommt, dass in Magdeburg mehr Erwachsene als Kinder erkrankt sind, womit nicht klar ist, ob die Ansteckungen der Kinder überhaupt etwas mit ihrem Aufenthalt in der Schule zu tun haben – oder ob sie außerhalb der Schulen und Betreuungseinrichtungen von den Erwachsenen infiziert worden sind. 

 

Auch Kinder werden sich
weiter anstecken

 

Wie auch immer es sich verhält: Ausgerechnet der Magdeburger Fall, über den sich aktuell viele Menschen aufregen, ist ein Beispiel für den Corona-Alltag, wie er für unbestimmte Zeit herrschen wird. Auch wenn Kinder den offiziellen Fallzahlen des Robert-Koch-Instituts (RKI) zufolge deutlich seltener positiv getestet werden, werden auch Unter-Zehn-Jährige sich immer wieder anstecken – und zwar, wie sich vermuten lässt, in den meisten Fällen bei ihren Eltern, und nicht etwa umgekehrt. Weshalb Kitas und Schulen überall in der Bundesrepublik immer wieder für eine Zeitlang schließen werden. Oder, wo die Gruppentrennung klappt, nicht automatisch die gesamte Einrichtung, sondern nur die betroffenen Gruppen. 

 

Die Alternative, Kitas und Schulen bis zum Ende der Pandemie dauerhaft geschlossen zu halten, kann angesichts des insgesamt geringen Infektionsgeschehens in Kitas und Schulen, abgewogen mit dem Recht von Kindern auf Bildung und Teilhabe, keine sein. 

 

Und auch was immer die immer mal wieder diskutierte Rückkehr zu landes- oder bundesweiten Kita- und Schulschließungen im Falle einer zweiten Corona-Welle angeht, bietet das RKI interessante Zahlen, die deren begrenzte Wirkung, zumindest für kleinere Kinder, offenlegen. Zusammen mit dem Deutschen Jugendinstitut (DJI) haben die Forscher vergangene Woche den ersten Monatsbericht der "Corona-KiTa-Studie" veröffentlicht, die bis Ende kommenden Jahres laufen und unter anderem klären soll, welche Rolle (KiTa-)Kinder bei der weiteren Ausbreitung des Coronavirus spielen.

 

Ein zentrales Element im ersten Monatsbericht ist eine Auswertung der wöchentlichen Corona-Meldefälle bei 0- bis 5-Jährigen. Diese sind  seit ihrem Peak zu Beginn des "Lockdowns" (so nennen die Autoren des Berichts die Maßnahmen ab 23. März) von knapp 300 auf etwa 125 Ende Mai zurückgegangen – ein Minus von knapp 60 Prozent. Im gleichen Zeitraum sind die pro Woche gemeldeten Corona-Fälle insgesamt allerdings um fast 90 Prozent gesunken – von 34.000 auf knapp 4000.

 

Besorgniserregend sind die Lockerungen
außerhalb von Kitas und Schulen

 

Wer das nächste Mal Kita- und Schulschließungen im großen Maßstab fordert, sollte sich durch solche Zahlen (sowohl die geringen Ausgangswerte vor den Schließungen als auch das kleinere Minus danach) zumindest zum Nachdenken bringen lassen. Umso wichtiger sind punktuelle Schließungen, wo immer Infektionen auftreten. Und umso normaler ist das, was im Augenblick in Magdeburg (und anderswo) geschieht. Normaler, aber – das ist auch wichtig zu erwähnen – im Verhältnis zur Gesamtzahl der Kitas und Schulen in Deutschland – selten. 

 

Besorgniserregend dagegen ist, wie außerhalb von Schulen und Kitas Erwachsene sich derzeit lockermachen. Der Öffnungswettbewerb, der jetzt sogar Massage- und Fitness-Studios erfasst, wird verbunden mit den neuen Laxheiten in vielen Restaurants und Geschäften und der anstehenden Urlaubssaison die Fallzahlen in Deutschland mit hoher Wahrscheinlichkeit wieder steigen lassen. Gerade Gottesdienste scheinen sich im Übrigen als häufige Mehrfach-Ansteckungsevents herauszustellen. 

 

Die sogenannte Reproduktionszahl R, die angibt, wie viele Menschen von einem Corona-Infizierten angesteckt werden, lag zuletzt sowohl in in ihrer kurzfristigeren als auch in ihrer geglätteten Variante bereits wiederholt und mehrere Tage in Folge um oder oberhalb der 1. 

 

Womit auch die Infektionszahlen in Kitas und Schulen wieder steigen. Aber von außen hereingetragen. Das ist ein entscheidender Unterschied. 



Update am 15. Juni 2020, 16.50:

Nach dem Sächsischen Oberverwaltungsgericht hat am Montag auch das Oberverwaltungsgericht des Landes Sachsen-Anhalt den Antrag einer weiteren Grundschul-Lehrkraft gegen die Aufweichung des Corona-Abstandsgebots zurückgewiesen. Nach Einschätzung der Richter verletzen die geltenden Regelungen nicht die staatliche Pflicht zum Schutz der Gesundheit der betroffenen Lehrerinnen und Lehrer sowie Schülerinnen und Schüler, berichtete die Nachrichtenagentur dpa. Die Infektionszahlen im Land seien auf einem vergleichsweise geringen Niveau.

 

Die Landesregierung sei berechtigt, den Katalog von Maßnahmen zur Eindämmung des Virus stetig anzupassen und nicht mehr für notwendig erachtete Schutzmaßnahmen zurückzunehmen. Zudem sei eine konkrete Gefährdung von Schülern und Lehrern bei Unterschreitung des Mindestabstands von 1,5 Metern bislang wissenschaftlich nicht eindeutig erwiesen. Ein Gesundheitsschutz für Lehrkräfte und Schüler, der die Infektionsgefahr vollständig ausschließe, sei nicht zu verlangen. Die Entscheidung des Gerichts ist unanfechtbar.

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