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Die Prioritäten klarziehen

Die Rückkehr zum Regelbetrieb in Kitas und Schulen vielerorts hatte bislang keine Auswirkung auf die bundesweite Infektionslage. Auch unabhängig davon gehört das Recht von Kindern auf Bildung und Teilhabe zu den wichtigsten gesellschaftlichen Zielen. Umso mehr irritieren die schrägen Töne einiger Lehrerverbände.

Drive-in-Corona-Teststelle in Fürth. Superikonoskop: "Corona Teststelle.jpg", CC BY-SA 4.0.

IST IHNEN ETWAS AUFGEFALLEN? Mir auch nicht. Und das ist gut so. Fast überall in Deutschland haben die Kitas wieder für den (eingeschränkten) Regelbetrieb geöffnet, wobei der reale Betreuungsumfang stark variiert von Region zu Region und Einrichtung zu Einrichtung. Acht Bundesländer haben noch vor den Sommerferien den täglichen Präsenzunterricht mindestens in den Grundschulen aufgenommen. Doch von einer zweiten Corona-Welle bislang keine Spur. Obwohl, um überhaupt zum Vollbetrieb zurückkehren zu können, die Abstandsregeln in Kitas und Grundschulen aufgehoben werden mussten. 

 

Ja, es gibt Corona-Fälle bei Kindern, und sie nehmen zu. Deutschlandweit waren seit Beginn der Pandemie bis gestern 5109 Unter-Zehnjährige positiv auf das Virus getestet worden, hinzu kommen weitere bestätigte 9646 Covid-19-Fälle in der Gruppe der 10- bis 19-Jährigen. Das sind alles in allem 2450 erkrankte Kinder und Jugendliche mehr als vor einem Monat. Ihr Anteil an allen gemeldeten Corona-Kranken in Deutschland stieg von 6,6 auf 7,5 Prozent. Doch um diese Zahlen kurz in ein Verhältnis zu setzen: Insgesamt ist die Altersgruppe der Unter-20-Jährigen in Deutschland mehr als 15 Millionen Menschen stark, fast ein Fünftel der Bevölkerung. 

 

Lässt sich der Anstieg auf bestimmte bildungspolitische Maßnahmen zurückführen? Schwierig. Beispiel Schleswig-Holstein: Da sind seit dem 8. Juni die Kitas und Grundschulen wieder täglich für alle Kinder geöffnet. Am 26. Juni war der letzte Schultag vor den Ferien, so dass sich steigende Infektionsrisiken durch die tägliche Präsenz spätestens jetzt in den Zahlen wiederfinden müssten. Tun sie aber nicht. Die Zahl der nachweislich mit dem Coronavirus infizierten 0-9-Jährigen erhöhte sich im nördlichsten Bundesland seit dem 8. Juni nur um sieben auf jetzt 56 Kinder. 

 

In Nordrhein-Westfalen wiederum, wo die Grundschulen seit dem 15. Juni bis zu den Sommerferien wieder täglich für alle Kinder offen waren, machten die Corona-Zahlen insgesamt einen Sprung um fast 5700 auf jetzt 44.300. Aber aus bekannten Gründen, die rein gar nichts mit Kitas und Schulen zu tun hatten, sondern mit einem großen Fleischbetrieb im Kreis Gütersloh. Wo nach dem Ausbruch trotzdem als erstes Kitas und Schulen geschlossen wurden. Und wenn man sonst in Deutschland die Gründe für regionale Ausbrüche studiert, werden neben Fleischbetrieben in Berichten des Robert-Koch-Instituts überraschend oft Religionsgemeinschaften genannt. Was frappierenderweise jedoch bislang in keinem Fall dazu führte, dass auf Verdacht hin Kirchen dichtgemacht wurden, aber – was wohl – wieder mal Kitas und/oder Schulen. 

 

Die Kinder endlich aus
dem Generalverdacht entlassen

 

Der Streit, ob Kinder die Pandemie treiben, ist fast so alt wie die Pandemie selbst. Da sind Kinder- und Jugendmediziner, Virologen und Epidemiologen, die sagen: Kinder werden nicht nur seltener krank, sie geben das Virus auch seltener weiter. Sie verweisen auf Studien, die dies zu belegen scheinen. Und da sind andere Kinder- und Jugendmediziner, Virologen und Epidemiologen, die warnen: Vorsicht! Kinder können genauso ansteckend sein wie Erwachsene. Und selbst, wenn sie es weniger sein sollten, machen sie das durch die Vielzahl ihrer sozialen Kontakte wett. Auch diese Position gründet sich auf wissenschaftlichen Untersuchungen. Und während in Dänemark seit Wiedereröffnung der Schulen die Infektionszahlen niedrig blieben, steigen sie in Israel gerade sprunghaft an. Auch wegen der Schulen, wie es heißt. In den USA wiederum sind die meisten Schulen noch immer geschlossen, doch das Virus grassiert trotzdem wie nie. 

 

Kurzum: Wir wissen nicht genau, welchen Einfluss Kinder auf die Pandemie haben. Doch die Empirie hierzulande gibt Anlass zu Optimismus. Denn wir wissen: Die verspätete, dann aber umso raschere Öffnung von Kitas und Schulen hatte auf die bundesweite Infektionslage bislang wenig bis keinen Einfluss. 

 

Wäre es dann nicht an der Zeit, bis zum Beweis des Gegenteils die Kinder und Jugendlichen endlich aus dem Generalverdacht zu entlassen? Zu Recht müssen Kitas und Schulen teilweise oder ganz dichtgemacht werden, wenn dort Infektionsfälle auftreten. Wenn pro Woche ein paar hundert Schulkinder erkranken, bedeutet das, dass ständig ein niedriger einstelliger Prozentwert der über 30.000 deutschen Schulen betroffen sein wird (was übrigens den Nachrichtenwert einzelner Schließungsmeldungen stark herabsetzt). Aber nur der seit Monaten bestehende Generalverdacht erklärt, dass Kinder und Jugendliche auch dann als erste zu Hause bleiben müssen, wenn gar nicht sie selbst erkranken, sondern man die Pandemie-Entwicklung insgesamt in den Griff bekommen will. 

 

Und wäre es nicht zweitens, und zwar unabhängig vom Generalverdacht, an der Zeit, als Gesellschaft insgesamt die Prioritäten klarzuziehen? Also auch dann, wenn die Infektionszahlen deutschlandweit wieder steigen sollten? Das Recht von Kindern und Jugendlichen auf Bildung und Teilhabe ist in seinen Dimensionen unbestritten, der Beitrag zum gesellschaftlichen Gesundheitsrisiko durch die vollständige Öffnung von Kitas und Schulen dagegen offenbar – Stand heute – gering. Gering, das zeigen die vergangenen Wochen, bleibt offenbar auch das persönliche Risiko für die ErzieherInnen, Lehrkräfte und Betreuer: Laut RKI stieg die Zahl der erkrankten Mitarbeiter von Kitas, Kinderhorten, Heimen, Schulen usw. in den vergangenen vier Wochen nur um 248 auf 2774. Insgesamt sind sieben Mitarbeiter seit Beginn der Pandemie deutschlandweit am Virus gestorben. Hier die richtige Bezugsgröße zu finden, um die Zahl in ein Verhältnis zu setzen, ist schwierig, vielleicht hilft ja diese: Es gibt mehr als 85.000 Schulen und Kitas in Deutschland. 

 

Im Vergleich zum Recht auf Bildung
ist das höhere Risiko vertretbar

 

Also auch wenn die Infektionszahlen insgesamt wieder steigen sollten, muss die Priorität lauten: So viel Bildung und Teilhabe wie möglich. Das heißt: Regelbetrieb. Und es geht in Ordnung, diesem Ziel folgend neue Hygiene-Pläne zu erarbeiten. Ebenso geht in Ordnung, dass diese Pläne, wenn alle Kinder wieder Kitas und Schulen besuchen und wenn deshalb die Abstandsregel nicht einzuhalten ist, unbestreitbar ein höhere Risiko für alle Beteiligten bedeuten. Denn, siehe die eben erwähnten Statistiken, im Vergleich zu der Bedeutung des Bildungsziels bleibt dieses Risiko vertretbar. Das haben übrigens, noch bevor die neuen Zahlen vorlagen, auch Gerichte schon so entschieden. 

 

Umso mehr irritiert, dass einige Lehrer-Repräsentanten in den vergangenen Wochen nicht den richtigen Ton getroffen haben. So sagte der Präsident des Deutschen Lehrerverbandes, Heinz-Peter Meidinger, dem Focus: "Sollten die Kultusminister tatsächlich den Regelbetrieb in den Schulen wieder einführen und dafür die allgemein geltenden Abstands- und Sicherheitsregeln abschaffen, kann ich mir gut vorstellen, dass Lehrer an Covid-19 erkranken und den Staat verklagen." Und Volker Busch von der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) sah laut dem Nachrichtenmagazin in dem Vorhaben der Länder einen "Rechtsbruch": "Ich rechne auf jeden Fall mit Erkrankungen und sich anschließenden Klagen nach den Sommerferien." Der Staat verletze seine Fürsorgepflicht.

 

Nichts gegen den Gesundheitsschutz von Lehrern. Doch solche Äußerungen irritieren, weil sie eine in der Pandemie nicht akzeptable Barriere einziehen. Ja, Angehörige von Risikogruppen müssen und werden auch im neuen Schuljahr per Attest vom Präsenzunterricht befreit werden. Doch auch dann gilt: Es werden weiter Lehrer am Coronavirus erkranken, wie bislang schon, und einige von ihnen werden sich bei ihren Schülern anstecken. Deutlich mehr wahrscheinlich bei ihren Lehrerkollegen. Und nein, eine Null-Risiko-Politik wäre ein Vergehen an den Rechten der Kinder. Ich vermute übrigens, dass die meisten Pädagogen unabhängig von manchen ihrer Gewerkschaftsvertretern das genauso sehen. 

 

Ärzte und Pflegekräfte haben, als die Pandemie begann, ja auch nicht ihre Dienstherren aufgefordert, die Hälfte der Patienten immer schön zu Hause zu lassen. Übrigens sind bislang fast 14.000 MitarbeiterInnen von medizinischen Einrichtungen positiv getestet worden, 20 sind gestorben.

 

Anstatt sich in eine Fundamentalopposition zu begeben, sollten diese Lehrerverbände und Gewerkschaften deshalb überall in Deutschland gemeinsam mit den Ministerien, mit der Schulaufsicht und den Schulträgern daran arbeiten, dass die Schulen jetzt wieder für alle Kinder offenstehen. Und gleichzeitig, unter dieser Prämisse, so sicher wie möglich für alle sind. Wozu neben neuen schulischen Routinen und Hygieneplänen zum Beispiel auch regelmäßige Corona-Tests für alle Lehrkräfte gehören, die dies wünschen. Da bleibt bis zum Ende der Sommerferien viel zu tun. 

 

Falls die zweite Welle kommt, wird es schwierig genug. Dann werden Schulen alle ihre Kraft einsetzen müssen, um trotz allem ein Mindestmaß an Präsenzbetrieb, verbunden mit einem klar definierten Digitalunterricht, aufrechterhalten zu können. Hoffentlich haben bis dahin alle, auch in der Politik, begriffen, dass einfach alle Schulen zuzusperren, keine Lösung sein kann. Und doch werden es in jedem Fall erneut zehrende Zeiten für Schüler, Lehrer und Eltern.

 

Umso mehr brauchen die Kinder und Jugendlichen jetzt den Corona-Regelbetrieb. Ihn zu ermöglichen, ist eine gesellschaftliche Verpflichtung von uns allen. Und eine berufliche von Pädagogen und Lehrkräften.


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Kommentare: 1
  • #1

    Jan-Martin Wiarda (Freitag, 10 Juli 2020 14:27)

    @Lehrerkind: Ich bitte Sie um eine kurze Nachricht per E-Mail, bevor ich Ihren Kommentar veröffentlichen kann. Vielen Dank!