Die fast vollständigen Ergebnisse der ersten deutschen Massenstudie über die Rolle von Kita- und Grundschulkindern im Infektionsgeschehen liegen jetzt vor.
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ES SIND FRAGEN von enormer politischer Brisanz: Welche Rolle spielen Kinder bei der Weiterverbreitung des Coronavirus? Sind sie Treiber der Pandemie? Oder bedeutet die Tatsache, dass sie seltener erkranken, auch, dass sie weniger häufig die Infektion weitergeben? Und was folgt daraus für die Kitas und Schulen? Die bisherige Studienlage ist widersprüchlich.
Die vier baden-württembergischen Universitätsklinika haben sich im Auftrag der Landesregierung auf die Suche nach Antworten gemacht und Ende April in Rekordzeit eine großangelegte Untersuchung designt. 2521 Kinder unter zehn Jahren aus dem gesamten Bundesland haben sie auf eine Corona-Infektion getestet, auf eine aktuelle genauso wie auf eine überstandene. Dazu 2521 Elternteile. Wegen der großen Resonanz insgesamt rund tausend Personen mehr als geplant. Heute haben zwei der beteiligten Forscher in Anwesenheit von Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) und Kultusministerin Susanne Eisenmann (CDU) die Ergebnisse präsentiert.
Zwei zentrale Botschaften stechen heraus. Erstens: Ingesamt hatten nur 64 Personen unbemerkt eine Infektion durchgemacht, ein Kind-Eltern-Paar war aktuell infiziert – womit man weit von einer Herdenimmunität entfernt sei, wie die Studienautoren betonten. Zweitens und noch wichtiger: Die untersuchten Kinder waren in der Vergangenheit weitaus seltener SARS-CoV2-positiv als die Erwachsenen. So fanden sich bei 45 Elternteilen Antikörper, aber nur bei 19 Kindern. Bei 13 Eltern-Kind-Paaren waren beide infiziert, das heißt im Umkehrschluss: Die Mehrheit der Eltern steckten sich nicht bei ihren Kindern an. So wie überhaupt die Infektion eines Elternteils oder eines Kindes nicht bedeutete, dass sich automatisch der Rest der Familie ansteckte.
Klaus-Michael Debatin, Ärztlicher Direktor der Klinik für Kinder- und Jugendmedizin am Universitätsklinikum Ulm, sagte: "Insgesamt scheinen Kinder nicht nur seltener an COVID-19 zu erkranken, was schon länger bekannt ist, sondern auch seltener durch das SARS-CoV-2-Virus infiziert zu werden." Und Debatin fügte hinzu: Kinder seien "sicher nicht als Treiber dieser Infektion anzusehen" – was den weitläufigen Erfahrungen bei anderen Virusinfektionen, etwa der Influenza, widerspreche.
Die baden-württembergische Studie reiht sich ein in eine Vielzahl internationaler Untersuchungen, die bereits vorher zu ähnlichen Ergebnissen gekommen waren. Von Island über Italien und Norwegen bis nach Südkorea: Überall fiel bei Bevölkerungsscreenings auf, dass nur sehr wenige Kinder unter zehn Jahren positiv auf das Virus getestet wurden. In den Niederlanden und Österreich führten Analysen von Infektionswegen und -clustern zu dem Ergebnis, dass Kinder und Bildungseinrichtungen selten bis nie am Anfang der Kette standen. Umgekehrt kam eine Charité-Studie unter Leitung des Chefvirologen Christian Drosten zu dem Ergebnis, dass die Viruslast in den Atemwegen von jungen Covid-19-Patienten ähnlich hoch war wie bei Erwachsenen. Und eine Veröffentlichung von chinesischen, italienischen und US-Wissenschaftlern in "Science" zeigte zwar, dass Kinder und Jugendliche bis 15 Jahre sich nur ein Drittel so häufig ansteckten wie Erwachsene. Doch, fügten die Autoren hinzu, hätten Schulkinder unter "normalen Bedingungen" bis zu zehnmal so viele enge soziale Kontakte wie Erwachsene – also viel mehr Gelegenheiten, andere anzustecken.
Die baden-württembergische Studie soll dieser Einschränkung in zweifacher Weise begegnen: indem sie sämtliche Infektionen erfasste, also auch jene vor den Kita- und Schulschließungen – alle seit Beginn der Pandemie. Und indem sie auch Kinder in der Notbetreuung einschloss. Hans-Georg Kräusslich, Sprecher des Zentrums für Infektiologie am Universitätsklinikum Heidelberg, betonte allerdings, die Daten seien nicht unmittelbar repräsentativ für die Gesamtbevölkerung, weil die Studienteilnehmer sich freiwillig auf den Aufruf gemeldet hätten.
Kinder in Notbetreuung steckten sich nicht
häufiger an – eher war es sogar andersherum
Die Ergebnisse ließen auch keine Aussage darüber zu, wer bei den infizierten Eltern-Kind-Paaren wen angesteckt habe und welche Rolle die jeweilige Wohnsituation spiele, sagten die Forscher zudem. Weil insgesamt nur so wenige Kinder überhaupt eine Infektion hinter sich hatten, konnten sie keinen statistisch bedeutsamen Unterschied finden zwischen Kindern in Notbetreuung und anderen, die während der Kita- und Schulschließungen zu Hause blieben.
Interessant ist allerdings, dass der Anteil überstandener Corona-Infektionen bei Kindern, die in der Notbetreuung waren, etwas niedriger lag als bei Gleichaltrigen, die bei ihren Eltern zu Hause blieben. Aber die absoluten Zahlen sind eben zu klein, um statistisch signifikant zu sein. Konkret: Von 583 Kindern in Notbetreuung waren drei positiv, von den 1843 Kindern, die zu Hause blieben, 16.
Ministerpräsident Kretschmann sprach von "belastbaren Daten zum unerkannten Infektionsgeschehen von Eltern und Kindern" in Baden-Württemberg. "Auf dieser Grundlage können wir weitere Öffnungsschritte von Kindertagesstätten und Grundschulen verantworten." Er betonte die "hervorragende und hochaktuelle Expertise" der Wissenschaftler. Landeswissenschaftsministerin Theresia Bauer (Grüne), die bei der Präsentation heute nicht dabei war, nannte die Studie einen "wertvollen Baustein für die weltweite Forschung und den weiteren Erkenntnisgewinn".
Teilnehmen an der Studie konnten jeweils ein Elternteil mit einem Kind zwischen einem und zehn Jahren, die im selben Haushalt leben und zuvor nicht wissentlich an COVID-19 erkrankt oder positiv auf das Coronavirus getestet worden waren. Neben einem Nasen-/Rachenabstrich, um eine aktuelle Erkrankung festzustellen, wurde auch jeweils eine Blutprobe entnommen, um etwaige Antikörper als Nachweis einer überstandenen Infektion zu ermitteln – um der Genauigkeit willen mit mindestens zwei unterschiedlichen Testverfahren. Noch sind deshalb nicht die Ergebnisse aller Studienteilnehmer eingeflossen, die vorläufige Statistik enthält aber die gesicherten Daten von 2466 Eltern-Kind-Paare, also fast 98 Prozent des Gesamt-Samples. Kräusslich sagte deshalb, an den grundsätzlichen Ergebnissen werde sich nichts mehr wesentlich ändern.
Baden-Württemberg öffnet Ende Juni Kitas
und Schulen wieder vollständig
Eine Veröffentlichung der vollständigen Studienergebnisse sei in Vorbereitung und werde voraussichtlich im kommenden Monat eingereicht, teilten die beteiligten Unikliniken aus Heidelberg, Ulm, Tübingen und Freiburg mit. Eine zusammenfassende Beschreibung der Methoden und vorläufigen Ergebnisse haben die Wissenschaftler jedoch heute vorgelegt. Die Frage der Öffnung der Kitas, Kindergärten und Schulen sei "von so hoher Relevanz, dass wir es über angemessen halten, die vorläufigen Ergebnisse öffentlich vorzustellen, obwohl der übliche Prozess der wissenschaftlichen Prüfung bis zur Publikation noch nicht abgeschlossen ist", sagte Kräusslich.
Auf Nachfrage äußerte sich der Kindermediziner Debatin zurückhaltend zu der vieldiskutierten Charité-Studie von Christian Drosten, derzufolge Kinder ebenso ansteckend sein könnten wie Erwachsene. Drosten sei ein exzellenter Virologe, "das Problem ist, wie die Studie interpretiert wird". Später sagte Debatin: "Es gibt bislang keine Studie, die zeigt, dass Kinder tatsächlich die Treiber der Infektion sind". Die wahren Treiber seien womöglich eher die Partygänger zwischen 20 und 40.
Schon nachdem die vier Unikliniken der Landesregierung Ende Mai erste Tendenzen der Ergebnisse mitgeteilt hatten, hatte Kultusministerin Eisenmann verkündet, dass die Kitas und Grundschulen in Baden-Württemberg Ende Juni wieder "vollumfänglich" geöffnet werden sollen, die Abstandsregel wird dort aufgehoben. Die Gruppen sollen sich aber möglichst nicht vermischen, betonte Ministerpräsident Kretschmann heute. Es sei klar, dass es eine erweitere Teststrategie für Lehrkräfte und ErzieherInnen brauche, sagte Eisenmann, sie befinde sich dazu in Abstimmung mit dem Gesundheitsministerium. Die Strategie werde nächste Woche vorgestellt.
Weiterführende Schulen dagegen sollen weiter in einem Wechsel aus Präsenz- und Fernunterricht arbeiten, weil über die Ansteckungshäufigkeit bei Über-10-Jährigen offenbar allmählich ansteigt. Andere Bundesländer wollen an allen Schulen zum täglichen Vollbetrieb zurückkehren, Eisenmann bezeichnete dies in der Vergangenheit als "grenzwertig".
Bundesbildungsministerin Anja Karliczek (CDU) nannte die baden-württembergische Untersuchung heute auf Anfrage einen "sehr wichtigen Beitrag". Es gebe auch nach dieser Studie derzeit keinen Anlass, von Schulöffnungen abzusehen. "Das ist eine gute Nachricht. Dennoch muss an den Schulen weiter Umsicht herrschen. Wir leben weiter in der Pandemie." Besonders wichtig sei, Vorsorge zu treffen, dass sofort reagiert werden könne, sollten an Schulen Infektionen auftreten. "Die Infektionsgeschehen muss insgesamt unter Kontrolle gehalten werden."
Die stellvertretende Vorsitzende der FDP-Bundestagsfraktion, Katja Suding, sprach von einem "unüberhörbaren Signal" an Anja Karliczek und die Kultusminister der Länder. Es gebe keinen Grund mehr, dass Schulen und Kitas noch länger geschlossen blieben "und wir unseren Kindern ihre Lebenschancen verbauen". Die Kultusminister hätten jetzt eine einzige Aufgabe: "Sie müssen unverzüglich sicherstellen, dass Schulen und Kitas sofort wieder öffnen können."
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Working Mum (Dienstag, 16 Juni 2020 13:34)
Schade, dass nicht auch das Infektionsgeschehen bei Kindern und Jugendlichen über zehn Jahren mit untersucht wurde, aus meiner Sicht (und ich spreche hier nicht pro domo, für uns ist derzeit nur die Grundschule relevant) eine vergebene Chance. Dessen ungeachtet empfinde ich es als Ausweis einer problematischen Prioritätensetzung, wenn Pläne zur weitergehenden Öffnung weiterführender Schulen als "grenzwertig" bezeichnet werden, während gleichzeitig Fitnessstudios, Tanzschulen und Ähnliches für Erwachsene bereits geöffnet sind.
kaulbarsch (Dienstag, 16 Juni 2020 19:50)
Eine Studie zu KiTas, die gar nicht im regulären Betrieb waren, dazu mit freiwilligen Studienteilnehmern, sagt sehr wenig über das tatsächliche Gesehen während des Normalbetriebes. Es zeigt sich immer mehr, das „superspreading events“ wesentliche Treiber bei Covid-19 sind. Die statische Wahrscheinlichkeit ein solches zu beobachten, ist aber nochmals eine Erschwernis. Deswegen sind die Schlüsse, die aus der Studie gezogen werden mindestens als kühne zu bezeichnen.