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OECD-Bildungsbericht: Drei Lehren für die Schulpolitik

Was gute Bildung mit Geld und zufriedenen Lehrkräften zu tun hat – und mit der richtigen Prioritätensetzung auch in der Coronakrise.

Foto: Pixabay/BarbarALane.

JEDES JAHR IM SEPTEMBER dasselbe. Der OECD-Bericht "Bildung auf einem Blick" erscheint, diesmal fast 600 Seiten stark, und jeder und jede, die in der bundesdeutschen Bildung etwas zu sagen hat, sagt auch was. Per Pressemitteilung. Per Radio- und/oder Fernsehstatement. Per Tweet oder Facebook-Video. Bundesbildungsministerin, KMK-Präsidentin, die Bildungspolitiker der Bundestagsfraktionen, die Lehrerverbände und Gewerkschaften. Und weil der Bericht so umfangreich ist, der Vergleich der Bildungssysteme von 37 OECD-Mitgliedstaaten und neun Partnerstaaten so vieldimensional, pickt sich jeder und jede etwas raus, was gut zu dem passt, was er oder sie schon immer dachte – oder was die eigene Position im Bildungssystem stützt.

 

Genau diese Diversität und teilweise Widersprüchlichkeit öffentlicher Wortmeldungen macht das Führen einer echten bildungspolitischen Debatte auf der Grundlage der OECD-Studie jedes Jahr so schwierig. Das soll keine Kritik sein an dem Bericht und seiner Tiefe. Sehr wohl aber an seiner Rezeption im bildungsföderalen Deutschland.

 

Anstatt die Frage zu beantworten, ob Deutschland dieses Jahr "insgesamt" besonders gut oder schlecht, enttäuschend oder ermutigend abgeschnitten hat, will ich es deshalb heute bei drei Schlussfolgerungen für die Schulpolitik belassen. Und dann am Donnerstag mit einem Kommentar zum Verhältnis von beruflicher und akademischer Bildung fortzusetzen.

 

1. Das deutsche Bildungssystem ist unterfinanziert, und innerhalb des Bildungssystems gilt das besonders für die elementarsten Bildungsbereiche.

 

Klar, man kann an dieser Stelle betonen, dass Deutschland pro Vollzeit-Bildungsteilnehmer vom Grundschüler bis zur Studentin 2017 13.529 US-Dollar ausgab – und damit rund 2300 Dollar mehr als der Schnitt aller OECD-Länder, Tendenz steigend. Oder man weist darauf hin, dass eine solche Angabe gleich aus mehreren Gründen irreführend ist.

 

Erstens: Im Verhältnis zu seiner Wirtschaftskraft ist Deutschland überaus knauserig. Bund und Länder investieren 9,1 Prozent des Bruttoinlandsprodukts in Forschung, Bildung und Entwicklung – im Vergleich zu 10,8 Prozent OECD-weit, und innerhalb dieser 9,1 Prozent sind auch noch die Ausgaben für die Forschung im OECD-Vergleich mit am höchsten. Zwar stiegen die Bildungsausgaben über die Jahre an, doch die Wirtschaftsleistung wuchs noch stärker – so dass der bei Ausrufung der "Bildungsrepublik Deutschland" 2008 angestrebte 10-Prozent-Ziel niemals auch nur in Ansätzen erreicht wurde. 

 

Zweitens: Nicht nur finanziert Deutschland innerhalb seines schon unterdurchschnittlichen Gesamtbudgets die Bildung gegenüber der Forschung nochmal unterdurchschnittlich. Auch innerhalb des Bildungsbereichs geht das Rosinenpicken weiter. Pro Grundschulkind gibt Deutschland nämlich nur 9472 Dollar aus, für die Sekundarstufe I aber bereits 10.144 – und für Schüler in der gymnasialen Oberstufe sogar 13.101 Euro. Mit anderen Worten: In Sachen Bildungsgerechtigkeit steht die Bildungsfinanzierung in Deutschland auf dem Kopf.

 

Drittens: Auch der Bereich der frühkindlichen Bildung ist nicht einmal in Ansätzen ausfinanzierten. Es fehlen laut Bildungsbericht hunderttausende Erzieherinnenstellen. Womit auch eine häufig verwendete Ausrede hinfällig wäre: Nein, es ist nicht eine logische Folge der deutschen Demografie (weniger Kinder, mehr Alte), dass Deutschland im Verhältnis zu seiner Wirtschaftsleistung weniger für Bildung ausgibt. Es ist die Folge einer unguten politischen Prioritätensetzung, die Kultusminister und Bundesbildungsministerin trotz aller Appelle nie haben ändern können. 

 

 

2. Die Schulen müssen in der Corona-Krise unbedingt offen bleiben

 

Laut OECD waren in Deutschland die Schulen im Frühjahr länger geschlossen als in vielen anderen Ländern: 17 Wochen, drei Wochen mehr als im Schnitt der untersuchten Länder. Macht 323 ausgefallene Präsenzstunden für Grundschüler, 408 für Schüler der Klassen 5 bis 10. 

 

Dass dieser Verlust an Unterrichtszeit sozial- und bildungspolitische Lücken reißt, die Auswirkungen auf ganze Bildungskarrieren haben können, haben Bildungsforscher vielfach beschrieben.

 

Dass diese Lücken angesichts der mangelhaften Digitalisierung in Deutschland schwerer wiegen als anderswo, zeigen beispielhaft zwei Statistiken. So wies die OECD heute auf PISA-Daten von 2018 hin, denen zufolge nur 33 Prozent der Schüler eine Schule besuchten, deren Schulleitung folgender Aussage zustimmen wollte: dass in Deutschland eine effektive Onlineplattform zur Lernunterstützung zur Verfügung steht. Im OECD-Vergleich sagten das 54 Prozent, in Dänemark und Singapur jeweils über 90 Prozent. Und eine ebenfalls heute veröffentliche repräsentative Umfrage des US-Technologieunternehmens Citrix unter Eltern in Deutschland, Australien, Großbritannien, Italien, Kanada, Mexiko und Singapur ergab: Nur zehn Prozent der deutschen Schüler erlebten während der Corona-Schulschließungen einen reibungslosen Übergang zum Online-Unterricht. Der letzte Platz im Ländervergleich und beschämend niedrige Werte, die auch nicht besser dadurch werden, dass selbst bei Spitzenreiter Singapur nur 30 Prozent der Eltern einen problemfreien Wechsel vom Präsenz- zum digitalen Unterricht wahrnahmen.

 

Auch wenn Bund und Länder gerade versuchen, diese krassen (und trotz vieler Mahnungen über Jahre fortgesetzten) bildungspolitischen Versäumnissen in Rekordzeit aufzuarbeiten, werden die Schulen auch in den nächsten Monaten keinen auch nur in Ansätzen vergleichbaren digitalen Ersatz für Präsenzunterricht bieten können. Verbunden mit dem bereits hohen Verlust an Schulstunden kann das nur heißen: Die Schulen müssen auch dann, wenn die Corona-Pandemie im Herbst absehbar an Fahrt gewinnt, weiter offen bleiben – und dürfen nur als allerletzte Option nach sämtlichen anderen gesellschaftlichen Bereichen geschlossen werden. Alles Andere wäre eine krasse Missachtung der Bildungs- und Teilhaberechte der Kinder und Jugendlichen. 

 

 

3. Lehrer müssen auf Händen getragen werden

 

Sie waren in der Coronakrise oft die ersten, die kritisiert wurden angesichts von Schulschließungen und Digitalchaos. Zu Unrecht: Natürlich gibt es auch "Minderperformer" unter Lehrkräften wie in jedem Beruf, auch waren die Äußerungen einiger Lehrerverbände angesichts der Schul-Wiedereröffnungen allzu selbstbezogen. Doch die allermeisten Pädagogen haben sich auch in der Krise reingehängt – und das beste aus den miesen Rahmenbedingungen gemacht. Zu denen gehören neben der technologisch-didaktischen Rückständigkeit deutscher Bildungseinrichtungen ein Sanierungsstau in zweistelliger Milliardenhöhe, der durch Raumknappheit, blockierte Fenster oder marode Sanitäranlagen die ansteckungsarme Unterrichtsarbeit erschwert, und eine über Jahre vergeigte Lehrerbedarfsplanung, die zu einem massiven Lehrermangel in vielen Fächern und Regionen führte. 

 

Der Lehrermangel ist auch insofern frappierend, als deutsche Lehrer mit einem Durchschnittsgehalt von 74.407 (Primarbereich) bis 87.822 US-Dollar (Sekundarstufe II) im internationalen Vergleich zu den Spitzenverdienern unter den Pädagogen zählen. Sie erhalten erstaunliche 69 bis 77 Prozent mehr als der OECD-Schnitt. Zugleich unterrichten die Deutschen etwas weniger als der Durchschnitt, haben aber eine deutlich höhere Arbeitsbelastung insgesamt. 

 

Schlussfolgerung für die Kultusminister: Nehmt den Lehrern einen Teil ihrer Arbeit nebenher ab. Entlastet sie von Bürokratie. Gebt ihnen die Möglichkeiten, sich auf den Unterricht und ihre Schüler zu konzentrieren. Macht es auf keinen Fall noch schlimmer, indem Ihr sie im Rahmen der Digitalisierung nun auch noch zu IT-Administratoren zu machen versucht. Investiert endlich in die Schulen, so dass nicht nur die Gehälter eine Wertschätzung für den Lehrerberuf zeigen, sondern auch die Ausstattung ihres Arbeitsplatzes. Bezahlt Grundschullehrer überall besser. Und schafft endlich genügend Studien- und Referendariatsplätze. 

 

Keine dieser Forderungen wird Bildungspolitiker überraschen. Wann endlich schaffen wir als Gesellschaft eine Kultur, in der Selbstverständlichkeiten nicht mehr wie ein unrealistisches Wünsch-dir-was klingen?



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Kommentare: 1
  • #1

    René Krempkow (Mittwoch, 09 September 2020 11:24)

    Eine paar gut herausgegriffene Schlaglichter aus dem OECD-Bildungsbericht, Danke!