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"Es geht nicht um Zahlen, es geht um Menschen!"

Antonia Weberling wollte im Sommer eigentlich nur auf die Situation europäischer Stipendiaten aufmerksam machen. Doch die Reaktion der Politik ärgerte sie so sehr, dass sie nicht lockerließ – und eine europaweite Protestinitiative entstand: "Rescue Horizon Europe". Ein Interview.

Antonia Weberling. Foto: privat.

Frau Weberling, Sie sind Biochemikerin, promovieren in Cambridge und haben im Sommer einen Brandbrief an Kommissionschefin Ursula von der Leyen geschrieben. Tausende aus EU-Mitteln geförderte Stipendiaten stünden vor dem Abbruch ihrer Dissertation, so lautete Ihre Warnung – weil sie wegen der Corona-Pandemie ihre Arbeit nicht pünktlich abschließen könnten und die EU ihre Stipendien nicht verlängere. Haben Sie Gehör gefunden?

 

Bei den Betroffenen schon. Sehr viele Doktoranden und Postdocs, die wie ich über die Marie Skłodowska-Curie Actions gefördert werden, haben sich in den sozialen Netzwerken zu Wort gemeldet. Von Seiten der Kommission allerdings habe ich nur einen Formbrief erhalten, der wortgleich an viele andere Stipendiaten ging – mit dem Tenor, dass es keine Verlängerung unserer Stipendien geben werde, dass man sich aber um individuelle Lösungen bemühe. Von denen genau drei aufgelistet wurden. Erstens: Die Forschungseinrichtungen, an denen wir arbeiten, könnten uns ja selbst weiterfinanzieren. Zweitens: Wir könnten unsere Projekte beenden, ohne unsere Forschung abzuschließen. Und drittens: Wir könnten gern ohne Bezahlung weiterarbeiten, beziehungsweise hätten unbezahlten Urlaub nehmen dürfen.

 

Was haben Sie da gedacht?

 

Ich habe gedacht: Das gibt es doch nicht. Die erste Alternative bedeutet, dass wir als europäische Stipendiaten, die extrem anspruchsvolle Auswahlverfahren überstanden haben, in der Krise von Europa fallengelassen werden und dass die Einzelstaaten uns weiterfinanzieren sollen – obwohl diese schon genügend für die Verlängerung ihrer eigenen Stipendienprogramme aufwenden. Die zweite Alternative, der Abbruch, liefe daraus hinaus, dass all unsere Arbeit verloren wäre. Nicht nur für uns, sondern für die Forschung. Ich meine, wir machen das doch nicht nur, um fertigzuwerden, sondern wir wollen mit unserer Grundlagenforschung einen Beitrag leisten zum medizinischen Fortschritt etwa. Und der dritte Vorschlag, dass wir uns doch bitte selbst finanzieren sollen – da kann ich nur fragen: Wo lebt die Kommission eigentlich? Wir sind Doktoranden und Postdocs, wir haben keine Ersparnisse, wovon sollen wir Essen kaufen und unsere Miete zahlen, während wir unsere Forschungsarbeit fortsetzen? Ich finde es entgeisternd, dass die Kommission versucht, sich in solch einer Weise aus der Verantwortung zu ziehen.

 

Und haben Sie getan?

  

Weiter gemacht. Weiter Briefe geschrieben, die Unterstützung von mehreren EU-Parlamentariern gefunden. Irgendwann erhielt ich dann einen Anruf von einem Kommissionsmitarbeiter, der mich fragte, ob ich es nicht gut sein lassen und erklären könnte, dass es mir gut gehe. Denn die Kommission vertrete die Ansicht, dass sämtliche 9000 Marie-Curie-Stipendiatinnen und -stipendiaten mit ihrer Situation zufrieden seien – abgesehen von vier Leuten, zu denen ich gehörte. Das fand ich nun wirklich schockierend. Ich habe dem Anrufer die Gegenfrage gestellt, warum sie nicht einfach alle Stipendien um drei bis sechs Monate verlängern, die Antwort: Dann müssten wir ja alle Fälle einzeln prüfen. An der Stelle hat es mir die Sprache verschlagen. Ich meine, wir stehen im Labor, wir lehren und forschen, wir müssen immer funktionieren, 50, 60 Stunden die Woche, wir hangeln uns von Zeitvertrag zu Zeitvertrag, von Stipendium zu Stipendium, und dann müssen wir uns von Leuten auf sicheren Posten, die acht Stunden am Tag, fünf Tage die Woche arbeiten, sagen lassen: Einzelfallprüfungen sind zu zeitaufwändig, also machen wir nichts? Und das war schon die zweite Ausflucht, nachdem sich eine andere Aussage der Kommission zuvor als unrichtig herausgestellt hatte.


Ein Brief und fast 2000 Unterschriften: Das Schreiben an Kommissionspräsidentin von der Leyen mit den Kernforderungen von "Rescue Horizon Europe" (Screenshot der Kampagnen-Website).



Welche meinen Sie?

 

Auf Nachfrage einer Reihe von EU-Parlamentariern im Sommer hatte die Kommission behauptet, es gebe gar keinen Rechtsrahmen für die geforderten Verlängerungen. Doch dann hat sie wenig später die Verträge von Doktoranden, die aus Sicht der Kommission Wichtiges zur Corona-Forschung beizutragen haben, doch verlängert. Es ging also. Übrigens ist es hochgradig rechtswidrig, zumindest in Deutschland, wenn man Förderrichtlinien im Nachhinein anpasst. Die betroffenen Doktoranden hatten sich ja vor Corona auf ihr Stipendium beworben – nach genau denselben Kriterien wie wir. Wenn jetzt nur sie verlängert werden mit Berufung auf die Pandemie, dann ist das ein Verstoß gegen alles Mögliche, auf jeden Fall auch gegen den Gleichheitsgrundsatz. Hier warten wir noch auf eine Rückmeldung der Kommission, die lässt sich Zeit. 

 

Wie geht es jetzt weiter?

 

Wir haben, nachdem der Kommissionsmitarbeiter mir gegenüber am Telefon behauptete, es gebe nur vier Stipendiaten, die unzufrieden seien, eine Website geschaltet, auf der Betroffene nur ihren Namen und ihre Einrichtung einzutragen brauchen und angeben müssen, wie viel Zeit sie verloren haben. Ich hoffe, das werden viele von ihnen tun – auch wenn ich weiß, dass es einige gibt, die sich nicht trauen oder die meinen, dass Proteste ohnehin nichts bringen. Wir müssen jetzt aber zeigen, dass wir viele sind!

 

Parallel haben Sie eine weitere Aktion gestartet, die noch weitaus mehr Leuten bekannt sein dürfte: "Rescue Horizon Europe". Erzählen Sie bitte davon.

 

Im Sommer habe ich Natalie Conrad kennengelernt, eine Postdoktorandin an der Universität in Leuven. Wir haben festgestellt, dass wir beide im Grunde dieselbe Kampagne gestartet hatten: ich für die Doktoranden, sie für die Postdocs. Woraufhin wir entschieden haben, uns zusammenzutun, um mehr Schlagkraft zu erreichen. Es geht ja nicht nur um uns, es geht um die Wissenschaft insgesamt, die durch die geplanten Kürzungen im EU-Forschungsbudget bedroht ist. Natürlich gab es gegen die geplanten Einsparungen beim nächsten Rahmenprogramm "Horizon Europe" schon viele Protestnoten, doch die stammten fast immer von den Chefs großer Forschungseinrichtungen. Wir haben gesagt: Wir müssen zeigen, dass die 40 Milliarden Euro, die die Mitgliedstaaten weniger als vom EU-Parlament gefordert in die Grundlagenforschung investieren wollen, nicht nur eine Zahl sind. Sondern dass hinter dieser Zahl Menschen stehen. Tausende von hochqualifizierten Forscherinnen und Forschern, die dann die Wissenschaft oder Europa verlassen müssen.

 

"Wir dachten: Fangen wir mal
mit drei Wissenschaftlern an."

 

Was haben Sie konkret getan?

 

Wir beschlossen, ein paar Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler anzuschreiben und sie um Statements zu bitten, was die Kürzungen für ihre eigene Forschung und ihre Karrieren bedeuten. Wir dachten: Fangen wir mal mit drei an. Als wir die drei hatten, dachten wir: Okay, machen wir zehn. Und dann haben wir gesagt: Wir brauchen Nobelpreisträger, die uns unterstützen, sonst bekommen wir nie die nötige breite Aufmerksamkeit. Irgendwann hatten wir knapp 60 Statements, inklusive denen von sieben Nobelpreisträgern, sehr berührende und persönliche Berichte. Auszüge von ihnen stehen online. Außerdem haben wir die Berichte an Kommissionspräsidentin von der Leyen geschickt, an alle EU-Parlamentarier und an die Brüsseler Botschafter aller EU-Mitgliedstaaten mit der Bitte um Weiterleitung an ihre Regierungschefs. Den Brief an Frau von der Leyen haben wir zusammen mit 50 EU-Parlamentariern unterzeichnet, die uns zu dem Zeitpunkt bereits unterstützt hatten.

 

Mit welchem Erfolg?

 

Zumindest gab es, natürlich nicht nur wegen unserer Aktionen, die Entscheidung, dass Horizon Europe statt 80,9 nun 84,9 Miliarden Euro bekommen soll. Das reicht aber natürlich nicht. Das ist gerade mal eine Stagnation gegenüber dem alten Rahmenprogramm Horizon 2020 – bestenfalls, denn noch ist gar nicht klar, ob die zusätzlichen vier Milliarden ausschließlich in die Grundlagenforschung gehen. Als der Brief an von der Leyen raus war, meldete sich plötzlich die erste Wissenschaftsorganisation und wollte wissen, ob sie uns nicht unterstützen könne. Stand heute haben wir eine Liste von Unterstützern, die immer länger wird und die Sie ebenfalls auf der "Rescue Horizon Europe"-Website finden: fast 2000 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus ganz Europa, inlusive neun Nobelpreisträgern, außerdem bekannte Universitäten wie die ETH Zürich, die Sorbonne, die Universitäten Leiden, Wien und Leuven, die TU München, das Karolinska Institut – sowie wissenschaftlichen Dachverbände, die für insgesamt über 800 Universitäten in Europa sprechen. Darunter die European University Association und in Deutschland die TU 9 und die German U15. Und 100 EU-Parlamentarier. 

 

Und die EU-Kommission und Ursula von der Leyen?

 

Die ziehen es vor zu schweigen. Wir haben bislang kein einziges Gesprächsangebot erhalten. Wir haben übrigens in den vergangenen Wochen auch nochmal an einzelne europäische Regierungschefs geschrieben, an Kanzlerin Merkel, an Österreichs Kanzler Kurz und an Frankreichs Präsident Macron. 

 

Und haben Sie von denen eine Antwort erhalten?

 

Nein. Angela Merkel hat auch nicht auf den Brief geantwortet, den Anfang November 50 EU-Parlamentarier an die Bundesregierung gerichtet haben.  

 

Die Verhandlungen um den künftigen EU-Haushalt laufen auf den Showdown zu. Noch diese Woche soll klar sein, ob Polen und Ungarn ihr Veto fallen lassen und wie sich die der Finanzrahmen entwickelt – auch und gerade für die Wissenschaft. Haben Sie Hoffnung?

 

Wir haben konkrete Forderungen an die Politik formuliert. Erstens: Die vier Milliarden extra gehen komplett in die Grundlagenforschung. Zweitens: Fünf Prozent der 750 Milliarden aus dem Corona-Fonds müssen für Forschung aufgewendet werden – nicht direkt in Horizon Europe, aber in nationale Forschungsprojekte der Mitgliedstaaten, zum Beispiel in die Klimaforschung, die komplett außen vor gelassen wurde im Corona-Fonds, oder in die Krebsforschung. Drittens: Wir brauchen eine wirklich bindende Selbstverpflichtung, dass die EU ihr altes Ziel, mindestens drei Prozent der Wirtschaftsleistung für Forschung und Entwicklung auszugeben, wieder aufnimmt. Nicht von jetzt auf gleich, aber mit einem klaren Stufenplan innerhalb der nächsten 14 Jahre. 

 

"Die EU wird keinen Green Deal erreichen, indem sie ihre Forscherinnen und Forscher aus Europa vertreibt." 

 

Jetzt haben Sie Ihre Forderungen beschrieben, aber nichts zu Ihrer Hoffnung gesagt.  

 

Wir wissen, dass unsere Forderungen bei den Trilog-Verhandlungen zwischen Parlament, Kommission und Mitgliedstaaten auf dem Tisch liegen. Wir erwarten, dass sie auch ernsthaft wahrgenommen werden. Und wir hoffen, dass die verantwortlichen Politiker einsehen, wie grundsätzlich bedeutend Grundlagenforschung ist. Europa ist in seiner Innovationskraft gegenüber anderen Regionen bereits zurückgefallen, soll das wirklich so weitergehen? Vielleicht kann man mit der Finanzierung von Grundlagenforschung keine Wahlen gewinnen. Aber all das, was Politiker ihren Wählern versprechen, können sie nicht einlösen, ohne dass die Grundlagenforschung die Voraussetzungen dafür schafft. Die EU wird auch keinen Green Deal erreichen, indem sie ihre Forscherinnen und Forscher aus Europa vertreibt. 

 

Schaffen Sie eigentlich neben Ihrem politischen Engagement noch ihre Forschungsarbeit, Frau Weberling?

 

Ich habe in den vergangenen Monaten unheimlich viel Zeit in die Proteste investiert, das stimmt. Ich bin aber auch sehr gut im Zeitmanagement. Gerade ist keine intensive Laborphase, ich analysiere sehr viel und schreibe. In dem Lockdown, in dem England sich gerade befindet, darf man gar nicht viel Anderes machen als spazieren oder zur Arbeit zu gehen. Wir dürfen niemanden treffen, insofern gibt es auch wenig Ablenkung. Mehr Zeit für "Rescue Horizon Europe". 



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