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Das wird nicht lange reichen

Die Regierungschefs von Bund und Ländern hätten einen wirkungsvollen und gerechten Plan für den zweiten Corona-Herbst vorlegen können. Die Chance haben sie überwiegend verstolpert. Eine erste Einschätzung.

ERSTAUNLICH SCHNELL waren Kanzlerin und Ministerpräsidenten heute durch mit ihrer vorgezogenen Krisenkonferenz. Um 12.30 Uhr gestartet, saßen Merkel sowie Bayerns Ministerpräsident Söder und Berlins Regierender Bürgermeister Müller schon um kurz vor 17 Uhr vor der Presse. Obwohl sie zudem noch Beschlüsse zur Bewältigung der Hochwasserkatastrophe gefasst hatten. In der Vergangenheit hatten die Corona-Runden schon mal zehn Stunden und länger gedauert. Spricht ihre Schnelligkeit dafür, dass die Regierungschefs heute besonders entschlossen und ihre Gesprächsergebnisse deshalb umso schlüssiger waren? Der erste Überblick zeigt: eher nicht.

 

Was gut ist an den Beschlüssen:

Das Impfen bleibt eine individuelle Entscheidung. Doch das daraus resultierende höhere Risiko einer Corona-Infektion und einer schweren Covid-19-Erkrankung hat auch Folgen für die Allgemeinheit: weil Ungeimpfte das Virus stärker verbreiten und damit die Pandemie anheizen und weil sie die Kapazitäten des Gesundheitssystems ausreizen.

 

Insofern ist es richtig, dass die Regierungschefs von Bund und Ländern den vollständigen Impfschutz zweifach belohnen werden: indem Geimpfte und Genesene einerseits von den gegenwärtigen und künftigen Testauflagen ausgenommen werden. Die wiederum schon ab 23. August für alle nicht vollständig Geimpften und Genesenen verschärft werden sollen. Und indem die kostenlosen Bürgertests vom 11. Oktober an beendet werden.

 

Richtig ist auch, dass es Ausnahmen von der Testpflicht gibt für alle Kinder und Jugendlichen, die entweder jünger als sechs sind oder noch zur Schule gehen – mit dem Hinweis auf die in den Schulen geltenden Testpflichten. Das ist zwar keine formelle Gleichstellung von ungeimpften Kindern mit geimpften Erwachsenen, was angesichts ihres deutlich niedrigeren Risikos, schwer zu erkranken, angemessen gewesen wäre – aber immerhin etwas. Bedeutet die Regelung doch, dass Kinder und Jugendlichen faktisch die gleichen Teilhaberechte erhalten wie geimpfte Erwachsene. Allerdings nur solange in den Schulen weiter getestet wird – was viele Eltern zu Recht ärgert, wenn ungeimpften Erwachsenen am Arbeitsplatz doch eine Testpflicht nie zugemutet wurde und auch künftig nicht zugemutet wird.

 

Konkret sollen die verschärften Testpflichten für Ungeimpfte ab einer bestimmten Infektionsdynamik kommen, dazu gleich mehr. Und sie sollen für fast sämtliche Bereiche des öffentlichen Lebens inklusive Restaurant-Innenräumen, Kultur und Sport, Hotels oder den Zugang zu Krankenhäusern und Pflegeheimen gelten. 

 

Was nicht gut ist an den Beschlüssen:

Der Beschluss der Regierungschefs eiert sichtlich beim Thema Inzidenz. Bleibt sie nun der entscheidende Faktor oder nicht? Die Antwort: Irgendwie schon. Aber zugleich auch nicht. Interpretation 1: Man ist sich nicht einig geworden. Interpretation 2: Man will Zeit gewinnen, um weiter zu beobachten, wie sich die Impfquote und die Zahl der schwer Erkrankten entwickeln. So heißt es wörtlich im Beschluss: "Bund und Länder werden alle Indikatoren, insbesondere die Inzidenz, die Impfquote und die Zahl der schweren Krankheitsverläufe sowie die resultierende Belastung des Gesundheitswesens berücksichtigen, um das weitere Infektionsgeschehen zu kontrollieren." Die Belastung des Gesundheitswesens soll über die seit kurzem tagesaktuell erhobene Hospitalisierung von Covid-19-Patienten erfolgen.

 

Bedeutet das "insbesondere" vor der Inzidenz, dass sie quasi die Leitwährung bleibt? Laut Protokollnotiz Niedersachsens: nein. Das Land hat auf der letzten Seite des Beschlusses vermerkt: "Niedersachsen hält einen neuen Maßtab zur Einschätzung  des Pandemiegeschehens anstelle der alleinigen Inzidenzbetrachtung für die Zukunft geboten." Und im Beschluss selbst steht zur Geltung der verschärften Testvorschriften für Ungeimpfte ab 23. August: "Die Länder können Regelungen vorsehen, dass die 3G-Regel ganz oder teilweise ausgesetzt wird, solange die 7-Tages-Inzidenz in einem Landkreis stabil unter 35 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohnern liegt oder das Indikatorensyetem eines Landes (das weitere Faktoren einbezieht, wie zum Beispiel Hospitalisierung) ein vergleichbar niedriges Infektionsgeschehen widerspiegelt..."

 

Was man so interpretieren kann, dass die Inzidenz in der jetzigen Form doch ausgedient hat – zumindest in den Bundesländern, die dies so beschließen (Berlins Regierender Bürgermeister Müller wies denn auch auf die Corona-Ampeln der einzelnen Bundesländer hin). Was einerseits zu begrüßen ist, andererseits aber durch die Schwammigkeit der diesbezüglichen Formulierungen vor allem Verwirrung auslösen dürfte: Wo gilt denn zum Beispiel nun die 35 und wo nicht? Denn es gibt keine bundeseinheitlichen Regelungen mehr. Noch keinen neuen Indikator. Und auch noch keine einheitlichen, gut kommunizierbaren (neuen) Grenzwerte. Ministerpräsident Söder räumte in der Pressekonferenz denn auch ein: "Also wenn wir ganz ehrlich sind, hier ist noch keine Glücksformel gefunden. Da muss man noch dran arbeiten."

 

Ärgerlich ist zudem, dass die Regierungschefs es mal wieder nicht lassen konnten mit ihrer Bevorzugung des Sports und der Erwachsenen. So sollen künftig Sportgroßveranstaltungen bis zu einer Obergrenze von 25.000 Zuschauern erlaubt sein, solange dies maximal 50 Prozent der jeweiligen Höchstkapazität (von Stadien) entspricht. Und zwar inzidenzunabhängig. Und geimpfte Erwachsene müssen nicht mehr in Quarantäne nach dem Aufenthalt in einem Hochrisikogebiet. Und auch nicht als symptomlose Kontaktpersonen von Infizierten. Symptomlose Kinder, die unter 12 gar nicht geimpft werden können, schon. Warum? Um ungeimpfte Erwachsene zu schützen. Das ist ein Unding.

 

Wo die Leerstellen sind:

Schon besagtes Fehlen eines neuen bundesweiten Indikators für das Infektionsgeschehen ist eine solche. Auffällig ist darüber hinaus, dass die Regierungschefs von Bund und Ländern in ihrem Beschluss kein einziges Wort zu den Teilhaberechten von Kindern und, grundsätzlicher, zur Rolle der Bildungseinrichtungen verlieren (bis auf den Hinweis zu den in Schulen geltenden Testkonzepten). Vermutlich wollten die Länder-Regierungschefs das mal wieder nicht, um sich vom Bund nicht reinreden zu lassen und sich maximale Bewegungsfreiheit zu erhalten.

 

Dabei wäre ein klares Bekenntnis zur Bedeutung offener Kitas, Schulen und Hochschulen, und zwar täglich für alle Kitas, Schulen und Hochschulen, so wichtig gewesen nach den wiederholten und monate- bzw. semesterlangen Schließungen der vergangenen anderthalb Jahre. Verbunden mit dem Versprechen, alles dafür Nötige zu tun und bereitzustellen. Ergänzt um die Ansage, dass Kitas und Schulen, sollte es doch nochmal zu Lockdown-Maßnahmen kommen, als letztes komplett offenbleiben. Und dann am besten noch mit dem Verweis darauf, dass fremdnützige Schließungen sich angesichts des umfassenden Impfangebots für Erwachsene erledigt haben. Dass ein hohes Infektionsgeschehen unter Kindern und Jugendlichen selbst auch keine flächendeckenden Schließungen rechtfertigt – solange ihre Hospitalisierungsraten unter denen geimpfter Erwachsener liegen und diese auch nicht in den Lockdown müssen (den Söder für Geimpfte heute Abend "definitiv" ausgeschlossen hat, was auch immer das am Ende wert sein mag).

 

So aber bleibt das Zittern der Familien, dass die Politik im Herbst bei weiter stark steigenden Zahlen wieder zu diesem Mittel greift– auch wenn sie (freilich nur außerhalb des Beschlusses) beschwört, die Rechte von Kindern und Jugendlichen künftig in den Mittelpunkt zu stellen. Dafür bekennt sich die Politik im Beschluss, siehe oben, zum Recht auf den Besuch von Fußballstadien. 

 

Ein kleines Trostpflaster liefert die Protokollnotiz, die Thüringen beigesteuert hat. "Die Erteilung von Unterricht in Präsenz und das Offenhalten von Schulen haben höchste Priorität", lautet sie. Und: Es werde auf den entsprechenden Beschluss der Kultusministerkonferenz verwiesen. Außerdem müsse der Bund die Mittel für Luftfilteranlagen in Kitas und Schulen unbürokratisch zur Verfügung stellen. 

 

Es ist niederschmetternd, dass die Mehrheit der Ministerpräsidenten den Satz mit der höchsten Priorität offener Schulen nicht im Papier haben wollte. 

 

Und jetzt?

Absehbar wird das, was die Regierungschefs heute beschlossen haben, nicht lange reichen. Die Corona-Meldezahlen steigen rasant weiter, und bald wird die Frage nach neuen Grenzwerten virulent werden. Die alten Grenzwerte einer 7-Tages-Inzidenz von 50, 100 und 166 werden in den Debatten immer häufiger zur Sprache kommen – und die Regierungschefs, die sich heute nicht auf einen klar kommunizierbaren neuen Indikator festlegen wollten oder konnten, schlecht aussehen lassen. Bis sie schließlich doch einen neuen samt Grenzwerten beschließen. Dann aber wieder zu spät und zu reaktiv. 

 

Und auch wenn Bund und Länder Kinder und Jugendliche in der Teilhabe am öffentlichen Leben ein klein wenig Geimpften und Genesenen gleichstellen, tun sie es größtenteils doch nur mit dem Hinweis auf die Schultests – und nicht, weil sie endlich anerkennen, dass für die allermeisten Kinder eine Corona-Infektion ungefährlicher ist als für geimpfte Erwachsene. Und dass sie einzuschränken immer weniger zu rechtfertigen ist, wenn damit doch vor allem freiwillig umgeimpfte Erwachsene geschützt werden.

 

Die demonstrative Ignoranz der Forderungen der Kultusminister im Beschluss ist heftig. So bleibt der Eindruck: Kinder spielen in der Wahrnehmung von Kanzlerin und Ministerpräsidenten eine randständige Rolle. 

 

Nachtrag am 10. August, 21 Uhr:

Von einer Leserin wurde ich gerade auf eine weitere Inkonsistenz der Beschlüsse hingewiesen, die mir vorhin zwar aufgefallen, die ich dann aber aus irgendeinem Grund nicht mehr thematisiert hatte: Es gibt eine Lücke in der Regelung für Kinder und Jugendliche, die besagt, dass Unter-6-Jährige und alle Schüler von der Testpflicht für das öffentliche Leben ab 23. August ausgenommen sind. Denn dies bedeutet, dass Kinder, die bereits sechs sind, aber noch nicht zur Schule gehen, nicht von der Ausnahme profitieren und wie erwachsene Ungeimpfte für jegliche Teilhabe einen Test vorweisen müssten. Diese Lücke ist unsinnig und unfair – war den Regierungschefs aber vermutlich gar nicht bewusst. Deshalb sollten sie sie auch schleunigst schließen. 

 

Nachtrag am 11. August, 10 Uhr:

Noch eine zweite Lücke tut sich auf, die potenziell noch folgenschwerer ist: Was ist eigentlich in den Ferien, wenn an den Schulen nicht getestet wird?  Werden Kinder und Jugendliche dann doch wie umgeimpfte Erwachsene behandelt? Hier zeigt sich deutlich, warum die beschlossene Regelung weit davon entfernt ist, eine Gleichstellung mit geimpften Erwachsenen zu sein obwohl diese aus den gestern von mir beschriebenen Gründen mehr als gerechtfertigt und eine Frage der Gerechtigkeit gewesen wäre. 




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Kommentare: 1
  • #1

    Gerald Mortag (Donnerstag, 12 August 2021 14:20)

    Es gibt jetzt diese Irritation über die tatsächliche Impf-Quote in D'land. Gibt es darüber genauere Informationen?
    In jedem Falle haben wir hier wieder das schon oft im Blog
    beschworene und unsägliche Problem der miserablen Datenlage in diesem Land. Allerdings wird es nun in der
    Tat wirklich politisch brisant, nicht nur im Wahlkampf.