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Inzidenzunabhängig offen

Warum die Landesregierungen die alten Grenzwerte für den Wechselunterricht abschaffen.

RECHTZEITIG VOR DEM ENDE DER SOMMERFERIEN hat auch Hessen noch die Kurve bekommen. 

 

Vor einem Monat erst hatte die Landesregierung ihr neues "Präventions- und Eskalationskonzept SARS-CoV-2" beschlossen, darin enthalten: Die Regel, dass Schulen ab einer regionalen 7-Tages-Inzidenz von 100 in den Wechselunterricht hätten gehen müssen. So, wie es die Bundesnotbremse im Frühjahr bundesweit vorgeschrieben hatte. Nur dass sich die Situation seitdem deutlich verändert hat.

 

Einerseits rollt inzwischen die vierte Welle: Delta und die Urlaubszeit haben die Infektionszahlen seit Anfang Juli kräftig hochgetrieben, die Inzidenzen dürften in vielen Bundesländern bald deutlich über 100 liegen. Andererseits sind Bund und Länder dabei, ihre Corona-Politik neu auszurichten: Wegen der steigenden Impfquote wollen sie im Herbst und Winter deutlich höhere Infektionszahlen zulassen – solange sie nicht mit zu vielen schweren Erkrankungen einhergehen. 

 

Die Wiederbelebung des alten Grenzwertes in Hessen wirkte insofern ziemlich aus der Zeit gefallen. Vermutlich wäre sie darauf hinausgelaufen, dass Hessens Schüler direkt mit dem Schulanfang oder bald danach nur jeden zweiten Tag zur Schule hätten gehen können – und zwar absehbar bis zum nächsten Frühling. 

 

Im Kultusministerium von Alexander Lorz (CDU) waren sie mit der 100 denn auch merklich unglücklich. Kurz nach dem Kabinettsbeschluss im Juli sagte sein Sprecher: "Ob die Regel im Lichte der aktuellen Debatte zur Aussagekraft von Inzidenzwerten am Ende auch so kommen wird, ist etwas anderes." Tatsächlich hatte Ministerpräsident Volker Bouffier (CDU) da bereits eingeräumt, dass der Inzidenzwert nicht mehr die Aussagekraft besitze wie im zurückliegenden Winter. Er strebe aber eine bundesweite Klärung an, bevor über den Wechselunterricht-Grenzwert final entschieden werde. 

 

Hessens Kultusminister: Keine
Schulschließungen mehr vorgesehen

 

Bouffiers Kollegen in den anderen Bundesländern taten das nicht – sie hatten die 100 lange vor der Corona-Krisenkonferenz von Bund und Ländern am 10. August abgeschafft, auslaufen lassen oder zumindest nicht neu bekräftigt. Und am 10. August war dann auch Bouffier klar: Die bundesweite Klärung würde er nicht bekommen, denn der Beschluss von Bundeskanzlerin und Ministerpräsidenten zur künftigen Bedeutung von Inzidenzen fiel wachsweich aus. 

 

Also schritt Hessens Landesregierung doch selbst zur Tat – und kippte am Dienstag die 100 offiziell. Kurz zuvor hatte Baden-Württemberg sogar eine Komplett-Abkehr von der Inzidenz vollzogen. So weit ging Hessen zwar nicht. Doch Kultusminister Lorz kündigte mit der Rückendeckung des neuen Kabinettsbeschlusses an, dass es keine erneuten Schulschließungen mehr geben werde im Land, keinen Wechsel- und erst recht keinen Distanzunterricht – auch wenn die Inzidenzen weiter steigen sollten. "Aus der heutigen Perspektive sehen wir diese Möglichkeit nicht mehr vor", sagte Lorz.

 

Womit er endlich auch für sein Land festhalten konnte, was er mit seinen Ministerkollegen in der Kultusministerkonferenz (KMK) bereits vor knapp zwei Wochen als Botschaft an ihre Regierungschefs beschlossen hatte: Kontinuierlicher Präsenzunterricht sei das "Gebot der Stunde" und müsse "höchste Priorität" haben. 

 

Rückendeckung hatten die Kultusminister bei ihrer Forderung offenbar von sechs hochrangigen Wissenschaftlern bekommen, die ihre Position zuvor im KMK-Präsidium vorgetragen hatten, "einvernehmlich", die KMK-Sprecher Torsten Heil später auf Anfrage mitteilte. Die Einzelheiten des Gesprächs seien indes vertraulich gewesen – was etwas seltsam anmutet.

 

"Weder rechtlich noch
ethisch vertretbar"

 

Entsprechend fallen jedenfalls die Rückmeldungen aus den Bundesländern aus, die bereits ins neue Schuljahr gestartet sind. Schleswig-Holsteins Bildungsministerin Karin Prien (CDU) sagte bereits vergangene Woche, für Kinder stelle Covid-19 kein vergleichbares Gesundheitsrisiko dar wie für Erwachsene. "Das bestätigen uns alle Wissenschaftler. Daher ist auch ein Auftreten von Infektionen mit leichten Verläufen bei Kindern und Jugendlichen kein Grund, um reflexartig oder automatisch bei bestimmten Inzidenzen den Präsenzunterricht einzuschränken." Es sei weder rechtlich noch ethisch vertretbar, betonte Prien, "wenn Schülerinnen und Schüler auf Präsenzunterricht verzichten müssten, weil Erwachsene sich nicht impfen lassen wollen."

 

Hamburgs Bildungssenator Ties Rabe sagte, es zeige sich deutlich, dass die Inzidenzwerte aus der ersten Jahreshälfte aufgrund der veränderten Lage nicht mehr trügen. "Deshalb bin ich froh, dass Hamburg keine festen Grenzinzidenzwerte für den Schulbetrieb definiert hat, denn die sich immer wieder durch Virusvarianten, Impffortschritte und wissenschaftliche Erkenntnisse ändernde Lage macht flexible Reaktionen erforderlich". Hamburg gehe "fest" von einem dauerhaften Präsenzbetrieb aus, betonte der SPD-Politiker. Distanz- oder Wechselunterricht könnten auch bei höheren Inzidenzen nur "ultima ratio" sein – "wenn wirklich alle anderen Maßnahmen lückenlos ausgeschöpft sind". Denn Distanzunterricht, sagte Rabe, hätte bislang vor allem die Übertragung des Virus aus der Schule auf die Eltern und Angehörigen der Schülerinnen und Schüler verhindern sollen. "Dieser Hauptgrund für Schulschließungen ist entfallen, seit es ausreichend Impfstoff gibt und sich die vulnerablen Gruppen durch Impfung schützen können."

 

KMK-Präsidentin Britta Ernst (SPD), die im Hauptjob Bildungsministerin von Brandenburg ist, äußerte sich ähnlich. "Wir gehen von einem Präsenzunterricht aus und wollen diesen auch beibehalten." Das neue Schuljahr werde anders als noch das vergangene verlaufen, weil die Erwachsenen jetzt geimpft seien oder es in Kürze sein würden. "Bevor man über Schulschließungen nachdenkt, müssen andere gesellschaftliche Bereiche heruntergefahren werden."

 

In Berlin teilte die Senatsverwaltung mit, dass im neuen Schuljahr der überarbeitete Stufenplan samt dazu gehörigen Musterhygieneplänen greife. "Demnach entscheiden Amtsärzte in Absprache mit der Schulaufsicht wöchentlich und in regelmäßigen Absprachen schulscharf, in welche Stufe eine Schule eingeordnet wird", saget Martin Klesmann, der Sprecherin von SPD-Senatorin Sandra Scheeres. Dabei spielten neben der Inzidenz "diverse weitere Faktoren" eine Rolle. Was aber auch heißt: Berlin sieht Regelunterricht, Wechsel- oder Distanzunterricht je nach der Lage an den einzelnen Schulen durchaus weiter vor.

 

Testen, Impfen, 

Maskenpflicht

 

Zu Ende sind die Ferien auch bereits in Mecklenburg-Vorpommern. Auch dort sind die Inzidenzen während der Urlaubszeit weitaus schneller als im Bundestrend gestiegen – der lange von Bundesländern wie Bayern oder Baden-Württemberg gebremst wurde, wo noch Schule war. Inzwischen sind letztere in die Ferien gestartet und haben mit die höchsten Corona-Wachstumsraten.  

 

In den fünf Bundesländern, in denen wieder Schule ist, gehen die Tests für Schüler und Schulpersonal derweil weiter: für geimpfte zumeist freiwillig, für ungeimpfte verpflichtend. In Berlin zum Beispiel wird in den ersten beiden Schulwochen sogar dreimal getestet, und in allen fünf Bundesländern galt zunächst eine Maskenpflicht für alle auch am Platz. Mecklenburg-Vorpommern hob sie inzwischen auf, Schleswig-Holsteins Bildungsministerin Prien hingegen kündigte gestern eine Verlängerung an. Zugleich beschloss auch die Kieler Landesregierung, künftig bei einem Corona-Fall grundsätzlich nur noch die Sitznachbarn oder enge Schulfreunde in Quarantäne zu schicken. 

 

Ein großes Thema bleibt für die Bildungspolitik das Impfen, nachdem die STIKO nun doch die Impfung von 12- bis 17-Jährigen grundsätzlich empfiehlt. 

 

In Schleswig-Holsteins Schulen starten heute die ersten mobilen Impfteams. "In den kommenden Wochen wird es an allen Schulen im Land ein Impfangebot geben", sagte Prien gestern. "Schülerinnen und Schüler, die sich bisher noch nicht angemeldet haben, das aber zum Beispiel wegen der geänderten Impfempfehlung der STIKO noch tun wollen, können sich jederzeit noch über ihre Schulen anmelden."

 

"Lassen Sie Ihre Kinder ab zwölf Jahren impfen", appellierte auch Hessens Kultusminister Alexander Lorz laut FAZ an die Eltern. Je mehr Schüler geimpft seien, umso leichter falle es, einen sicheren Schulbetrieb zu gewährleisten. Am besten sei es, wenn Kinder und Jugendliche noch in den verbleibenden zwei Wochen der Sommerferien geimpft würden. Es werde aber auch Angebote in den Schulen geben. "Wir können den Einschätzungen der Fachleute vertrauen", sagte Lorz mit Bezug auf die STIKO – was insofern kurios anmutet, weil weite Teile der Politik die STIKO eben noch kritisiert hatten – weil sie lange keine grundsätzliche Impf-Empfehlung für Kinder und Jugendliche hatte abgeben wollen. 

 

Übrigens will auch Hessen, wenn es losgeht, in den ersten zwei Schulwochen dreimal statt zweimal wöchentlich alle Schüler und Lehrer testen, inklusive Maskenpflicht am Platz. "Präventionswochen" nennt Lorz das. Gut möglich, dass diese dann auch in Hessen in die Verlängerung gehen müssen. 




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