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"Unsere Sitzungen sind es wert"

Seit einem Jahr leitet Kai Gehring den Bundestagsausschuss für Bildung und Forschung. Im Interview spricht er über die Wirkmächtigkeit des Parlaments, Ministerin Stark-Watzinger, angeschobene und aufgeschobene Ampel-Vorhaben  – und dicke Luft im Ausschuss.

Der Essener Kai Gehring, 44, hat Sozialwissenschaften an der Ruhr-Universität Bochum studiert und ist seit 2005 grüner Bundestagsabgeordneter. Foto: Mirko Raatz.

Herr Gehring, Mitte Dezember 2021 wurden Sie Vorsitzender des Bundestagsausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung. Damals haben versprochen, den Ausschuss agiler und schlagkräftiger machen. Ist Ihnen das Modernisierungsprogramm gelungen?

 

Die Bundestagsausschüsse sind die Maschinenräume unserer Demokratie. Ihre Arbeit besteht darin, die Meinungsbildung der Abgeordneten zu befördern und die Entscheidungen des Parlaments vorzubereiten. Ich finde, wir sind dynamischer geworden. Wir rufen schneller aktuelle Themen auf, laden die maßgeblichen Experten ein und haben die Frage-Antwort-Technik in den Anhörungen verändert. Zugleich wird die Arbeit unseres Ausschusses öffentlich stärker wahrgenommen als früher.

 

Bislang wurde die Arbeit von Fachausschüssen in der Öffentlichkeit, wenn überhaupt, so vor allem als schwerfällig wahrgenommen. Die Abläufe folgen strengen Regeln. Wenn Sachverständige eingeladen sind, spulen Abgeordnete nach Fraktionsreihenfolge ihre Fragen runter, die Sachverständigen antworten mit vorgefertigten Statements. Es entsteht kaum einmal ein echter, spontaner Gedankenaustausch.

 

Darum haben wir ja mit neuen Formaten experimentiert. Zum Beispiel erhält jetzt jeder Berichterstatter die Zeit, fünf Minuten lang die Sachverständigen zu befragen und unmittelbar Antworten zu erhalten. Dadurch werden die Sitzungen lebendiger und direkter. Wir werden das nochmal in Ruhe evaluieren, aber ich glaube, das ist die bessere Variante.

 

Ihr Ausschuss gehört zu den sogenannten Pionierausschüssen des Bundestages, die künftig komplett öffentlich tagen.

 

Das war mir sehr wichtig, denn unsere Sitzungen sind es wert. Wir diskutieren mit einer großen Bandbreite an Gästen über die großen Fragen unserer Zeit, die allesamt wichtige Bezüge zu Bildung und Forschung haben. Als der Angriffskrieg gegen die Ukraine begann, hatten wir in einer Sitzung das Bundesforschungsministerium und das Auswärtige Amt sowie DAAD und Alexander-von-Humboldt-Stiftung zu Gast. Mit Forschenden haben wir über die Energiesouveränität gesprochen. Wir haben über den Schutzschirm für das Wissenschaftssystem diskutiert und über die Soforthilfe für die Studierenden. Und dass wir Vertreter der Bundesschülerkonferenz zu Gast hatten, war in der Geschichte des Ausschusses eine Premiere. Wir haben durch unsere Themensetzung den Blick der Wissenschaftspolitik stärker nach außen gerichtet – auch europäischer und internationaler. All das gehört in die Öffentlichkeit, wir können als Ausschuss die Debatten mitprägen. Damit leisten wir auch einen wesentlichen Beitrag zu der so wichtigen Wissenschaftskommunikation.

 

"Ich will genauso Hüter der Umsetzung
des Ampel-Koalitionsvertrages sein,
wie ich Garant bin, dass die Opposition mit ihren Anliegen und Initiativen Raum findet." 

 

Am Anfang haben Sie gesagt, die Hauptaufgabe des Ausschusses sei die Vorbereitung parlamentarischer Entscheidungen. Braucht es dazu nicht auch Vertraulichkeit?

 

Man sollte den Impact, den ein öffentlich tagender Ausschuss auf die Bildungs- und Wissenschaftspolitik entfalten kann, nicht geringschätzen. Die öffentliche Aufmerksamkeit trägt mit dazu bei, dass Bildung und Forschung im Regierungshandeln stärker berücksichtigt werden. Als Vorsitzender sehe ich den Ausschuss – gerade auch mit unserem Büro für Technikfolgenabschätzung – als Seismograf künftiger Entwicklungen und mich selbst als Moderator des Fortschritts. Das bedeutet, ich will genauso Hüter der Umsetzung des Ampel-Koalitionsvertrages sein, wie ich Garant bin, dass die Opposition mit ihren Anliegen und Initiativen Raum findet.

 

Wie passt das zu dem Ärger, den es im Herbst im Ausschuss gab? Union und Linke sahen ihre Interessen in der Sitzungsplanung des Ausschusses nicht ausreichend berücksichtigt, am Ende beschloss die Ampel-Mehrheit das Programm der nächsten Monate gegen die Stimmen der Opposition. Ein historisch ziemlich einmaliger Vorgang in Ihrem Ausschuss. 

 

Alle Fraktionen mussten erstmal den Rollenwechsel hinbekommen. Nicht nur Regierungsfähigkeit muss erarbeitet werden, auch Oppositionsfähigkeit. Ich hätte mir als Ausschussvorsitzender eine gemeinsame Lösung gewünscht. Aber wenn man wochenlang diskutiert, muss irgendwann auch eine Entscheidung fallen, weil sonst die Ausschussarbeit lahmgelegt wird. Es ging in dem Konflikt übrigens mehr um das Timing der einzelnen Sitzungen als um die großen Linien.

 

Da hatte ich einen anderen Eindruck. Vor allem die Union kritisierte, dass die Ampelmehrheit versuche, durch die Sitzungsplanung im Ausschuss die Kontrolle der Regierung zu erschweren. Anstatt inmitten der Krise die großen Krisenthemen zu diskutieren, würden "Kaffeekränzchen" veranstaltet. 

 

Als Ausschussvorsitzender prüfe ich jede Kritik auf ihren Kern. Ich kann aber nicht erkennen, dass wir auf neu auftauchende Themen, Krisen- und Problemlagen nicht zügig in der Sitzungsplanung reagiert hätten. Beispiele dafür habe ich genannt. Manchmal kam es mir so vor, als wollte die CDU/CSU mit ihrer Verfahrenskritik davon ablenken, dass ihr die substanziellen inhaltlichen Alternativen fehlen. 

 

Jetzt klingen Sie gar nicht wie der Moderator, der Sie sein wollen. 

 

Ich bin und bleibe zugleich Grünen-Politiker, das ist klar. Es ist auch kein Geheimnis, dass ich den Ampel-Koalitionsvertrag mit ausgehandelt habe.

 

Apropos: Woran machen Sie Ihre Aussage fest, dass der Ausschuss die Regierung zum Tempo oder gar zu neuen Initiativen angetrieben hätte?

 

Wir haben als Ampel-Mehrheit nicht nur eine BAföG-Reform mit einer Rekorderhöhung der Freibeträge um 20,75 Prozent hinbekommen, sondern auch einen Notfall-Mechanismus, von dem Studierende in künftigen Krisen auch dann profitieren, wenn sie normalerweise kein BAföG beziehen. Schon jetzt steht fest, dass die Ampelkoalition eine BAföG-Modernisierungskoalition ist. 

 

"Wir haben unter anderem den Bau der Polarstern II ermöglicht, den das BMBF nicht im Haushalt stehen hatte, und die Grace-Satelliten-Mission konnten wir etatisieren. Das Parlament ist sehr wirkmächtig."

 

Bundesbildungsministerin Bettina Stark-Watzinger reklamiert die BAföG-Reform als Erfolg ihres Ministeriums, nicht des Bildungsausschusses.

 

Natürlich, es ist ja auch ein gemeinsamer Erfolg. Wir haben dem BMBF aber nicht nur beim BAföG Tempo gemacht, sondern auch dafür gesorgt, dass das gesamte Thema der Entlastungen für Studierende und die Wissenschaft in der Energiekrise früh auf die Agenda kam. Dadurch haben wir mehr herausholen können. Sehen Sie sich auch das Ergebnis der Bereinigungssitzungen im Haushaltsausschuss an, die unser Fachausschuss mitvorbereitet. Wir haben unter anderem den Bau der Polarstern II ermöglicht, den das BMBF unter der Vorgängerin nicht im Haushalt stehen hatte, und die Grace-Satelliten-Mission konnten wir etatisieren. Das Parlament ist sehr wirkmächtig.

 

Auch Ihr Ausschuss hat nichts daran geändert, dass beim 500-Millionen-Härtefallfonds für die Wissenschaft die Hochschulen außen vor bleiben, obwohl diese Ihnen laut eigener Aussage schon immer besonders wichtig waren.

 

Ich möchte darauf hinweisen, dass wir als Ausschuss eine wichtige Rolle bei der Aufstockung des Zukunftsvertrages gespielt haben, darauf bin ich stolz. Als Oppositionspolitiker habe ich viele Jahre alle damit genervt, dass wir die jährliche Dynamisierung hinbekommen müssen. Drei Prozent Aufwuchs erhalten die Hochschulen künftig für Studium und Lehre, jedes Jahr. Das ergibt einen hohen dreistelligen Millionenbetrag zusätzlich von Bund und Ländern - und das in Krisenzeiten. Auch die Exzellenzstrategie haben wir aufgestockt, indem wir die Zahl der Exzellenzcluster erhöht und damit einen Webfehler der früheren Bundesforschungsministerin Anja Karliczek beseitigt haben.

 

Das rechtfertigt, dass fast ausschließlich die außeruniversitären Forschungseinrichtungen vom Härtefallfonds profitieren? Die übrigens schon seit anderthalb Jahrzehnten jedes Jahr drei Prozent mehr erhalten, und zwar auf ihr gesamtes Budget. 

 

Was ich sage: Wir haben die Hochschulen im Blick und wir werden genau schauen, wie sich die Situation entwickelt.

 

Was genau wollen Sie da noch schauen? Hochschulen wie die Ruhr-Universität Bochum (RUB) haben bereits temporäre Stellenstopps beschlossen, um ihre Energierechnungen noch bezahlen zu können. 

 

Die Hochschulen profitieren von der Dezember-Soforthilfe, von der Gas- und Strompreisbremse und von den Hilfspaketen, die die Bundesländer als Hauptzuständige für die Hochschulen auflegen. Die Landesregierung von Nordrhein-Westfalen hat ganz aktuell ein Sondervermögen beschlossen, das faktisch die Schuldenbremse außer Kraft setzt. Ich gehe daher davon aus, dass die RUB diese Entscheidung vor dem Hintergrund aller politischen Unterstützungsmaßnahmen aus Bund und jetzt auch vom Land nochmal überdenkt. Die Zukunftsaufgabe sehe ich jetzt aber darin, über die akuten Energieeinsparpläne im Wissenschaftsbetrieb hinaus an der klimaneutralen und energieeffizienten Modernisierung der Hochschulen und Forschungseinrichtungen zu arbeiten. Wohl wissend, dass für den Hochschulbau weiter in erster Linie die Länder zuständig sind.

 

"Wenn das BMBF die Umsetzung des
Digitalprogramms für die Hochschulen verschieben möchte, gibt uns das immerhin die Möglichkeit, nochmal über dessen Format nachzudenken." 

 

Das wird den Hochschulen nicht über die aktuelle Krise helfen. Was sie stattdessen wahrnehmen: Zwar wurde der Zukunftsvertrag aufgestockt, dafür aber ist das im Koalitionsvertrag versprochene Digitalprogramm laut BMBF "auf absehbare Zeit" nicht finanzierbar.

 

Ich nehme diese Aussage aus dem Ministerium zur Kenntnis. Und gehe weiter davon aus, dass der Koalitionsvertrag auch hierzu gilt, meines Wissens tut dies das BMBF ebenfalls. Wenn es die Umsetzung des Digitalprogramms für die Hochschulen verschieben möchte, gibt uns das immerhin die Möglichkeit, nochmal über dessen Format nachzudenken. Mir erscheint, anders als im Koalitionsvertrag formuliert, eine Digitalisierungspauschale, die sich nach der Anzahl der Studierenden bemisst, immer noch als sinnvolles Instrument. In der letzten Bereinigungssitzung haben wir als Fachausschuss zusammen mit dem Haushaltsausschuss gezeigt, dass das Parlament in der Lage ist, den BMBF-Haushalt noch weiter zum Besseren zu drehen. Sicher nicht jedes Jahr im Umfang von dreistelligen Millionenbeträgen, aber es muss weiter jeder Spielraum auch für Zukunftsinvestitionen genutzt werden.

 

Zwei andere zentrale Ampel-Vorhaben, die in die Zuständigkeit des BMBF fallen, gehen nur im Schneckentempo voran. Für die Deutsche Agentur für Transfer und Innovation (DATI) liegt immer noch kein Konzept vor, dass das Finanzministerium dazu bewegen würde, die Sperre der DATI-Mittel komplett aufzuheben. Und das Startchancen-Programm soll voraussichtlich erst zum Schuljahr 2024/25 starten

 

Mich sorgen die Ergebnisse des IQB-Bildungstrends von diesem Jahr außerordentlich. Wenn die Basiskompetenzen bei Grundschulkindern nicht da sind, ist das fatal für die persönlichen Lebenschancen und auch vor dem Hintergrund des Fachkräftemangels, den ich für die wichtigste innenpolitische Frage der nächsten Jahre halte. Ganz offensichtlich müssen wir gesamtstaatlich viel mehr Wert legen auf die frühkindliche Bildung und auf eine bessere Ausstattung der Grundschulen. Lieber früh investieren als später reparieren.

 

Sagen Sie, während eine grüne Familienministerin das Sprachkita-Programm gestrichen hat – und damit den Koalitionsvertrag bricht.

 

Sie hat zugesagt, dass es um ein halbes Jahr verlängert wird. Nach uns als Bundestag hat der Bundesrat jetzt das KiTa-Qualitätsgesetz beschlossen, mit dem in den kommenden zwei Jahren vier Milliarden Euro für die frühkindliche Bildung zur Verfügung stehen: für die Schwerpunkte Qualitätsentwicklung und Sprachförderung.

 

Sie sagen es: Das Sprachkita-Programm wurde im Nachhinein nur bis Mitte 2023 verlängert. Der Koalitionsvertrag kündigte aber die Verstetigung an.

 

Da stand aber nicht drin, dass der Bund die Sprachkitas zu 100 Prozent für immer finanziert. Das Sprachkita-Programm war ein endliches. Offensichtlich müssen Bund und Länder noch mal deutlicher über ihre gemeinsamen Ziele sprechen. Es kann nicht sein, dass der Bund immer alles, was die Länder wichtig finden, zu 90 oder 100 Prozent auf Dauer finanzieren soll. Das ist gerade auch nach der Reform des Bund-Länder-Finanzausgleichs nicht mein Verständnis von Bildungsföderalismus.

 

"Wir haben jahrelang eingefordert, dass Schulen in benachteiligten Quartieren besser unterstützt werden. Ich würde mir wünschen, dass es schneller vorangeht mit dem Startchancen-Programm." 

 

Zurück zur Ausgangsfrage. Das Startchancen-Programm soll tausende von Schulen in sozialen Brennpunkten speziell fördern. Das wäre doch genau das, was es braucht, um jetzt für mehr Bildungschancen und Bildungsgerechtigkeit zu sorgen. 

 

Wir haben jahrelang eingefordert, dass Schulen in benachteiligten Quartieren besser unterstützt werden. Ich würde mir wünschen, dass es schneller vorangeht, das Programm gemeinschaftlich zu entwickeln und vor Ort aufzugleisen. Zumal so ein Riesenprogramm nicht von jetzt auf gleich volles Tempo und volle Höhe erreicht, sondern allmählich anläuft. Es kann nicht sein, dass uns über Finanzierungsfragen zwischen Bund und Ländern nicht gelingt, die tickende Zeitbombe der Bildungskrise jetzt entschärft zu bekommen. 

 

Und was ist mit der DATI?

 

Der Haushaltsausschuss hat eine teilweise Entsperrung der Mittel veranlasst.

 

Eines kleinen Teils der Mittel.

 

Das ist ein Schritt und die Gelegenheit, das Konzept weiter zu schärfen, damit es am Ende nicht nur uns im Fach- und Haushaltsausschuss überzeugt, sondern vor allem die Akteure vor Ort – die Hochschulen, die Pioniere in den regionalen Innovationssystemen. Denn von denen haben einzelne noch Vorbehalte. Durch den Stakeholder-Dialog wird das Konzept weiter konturiert. Ich sehe ein großes Potenzial für Reallabore und neue Experimentierräume, um schneller zu technischen, digitalen, ökologischen und sozialen Innovationen zu kommen. Wir entwickeln das Konzept weiter, sollten aber nicht zulassen, dass die Idee der Innovationsagentur zerredet wird.

 

Sie fordern auch hier mehr Tempo? 

 

Am Ende ist es immer ein Abwägen zwischen Gründlichkeit und Schnelligkeit – genauso wie bei der zweiten Innovationsagentur, der Bundesagentur für Sprunginnovationen (SPRIND), die wir mit freiheitlicheren Regelungen entfesseln und so kreativer machen wollen.

 

Mit einem sogenannten Freiheitsgesetz, das  – fast vier Jahre nach der SPRIND-Gründung – weiter auf sich warten lässt. Obwohl seine wesentlichen Inhalte von Innovationsexperten von Anfang an gefordert wurden. Bei der SPRIND fehlte es der Politik offenbar an Gründlichkeit UND Schnelligkeit. 

 

Als Ausschussvorsitzender kommentiere ich Tagespolitik nicht mehr so intensiv, aber ich bin davon überzeugt, dass es sehr gute internationale Vorbilder für erfolgreiche Innovationsagenturen gibt. Da sollten wir nochmal genauer hinschauen.

 

"Es kann nicht sein, dass wir mit einigen Ländern
nur noch in den MINT-Fächern kooperieren,
weil Partner Erkenntnisse der Sozial- und Geisteswissenschaften verdrängen wollen."

 

Bislang haben wir nicht über Außenpolitik gesprochen, dabei ist Wissenschaft per definitionem international. Welche Rolle kommt da einem Bundestagsausschuss zu?

 

Eine wichtige! In dieser Wahlperiode sind wir als erster Bundestagsausschuss überhaupt nach Brüssel gefahren und haben uns mit drei EU-Kommissaren getroffen. Wir haben Reisen nach Namibia und Südafrika unternommen, um Bildungs-, Wissenschafts- und Forschungskooperationen zu vertiefen. Mit Namibia ist die Zusammenarbeit beim grünen Wasserstoff, eine Riesenchance und Zukunftsvision. Außerdem halte ich es für wichtig, dass wir uns als Ausschuss positionieren, wenn das iranische Regime auf die junge Generation einprügelt und sie verhaftet. Wir müssen immer wieder betonen, dass Schulen und Universitäten die Orte sind, an denen der kritische Geist zu Hause ist und zu Hause sein muss. Es kann deshalb auch nicht sein, dass wir mit einigen Ländern nur noch in den MINT-Fächern kooperieren, weil Partner Erkenntnisse der Sozial- und Geisteswissenschaften verdrängen wollen.

 

Was wollen Sie denn als Ausschuss dagegen tun?

 

Klare Akzente setzen. Als Vorsitzender bringe ich mich aktiv in die Ausarbeitung der neuen China-Strategie des Auswärtigen Amtes ein. Wir müssen unsere eigenen Werte und Ziele selbstbewusst definieren. Also maximale Wissenschaftsfreiheit einerseits, das Scharfstellen der eigenen Schutzinteressen andererseits. Das wird auch für die Neujustierung der Internationalisierungsstrategie wichtig.

 

Mit welchen Konsequenzen?

 

Wenn wir den Wert der Wissenschaft hochhalten, müssen wir auch die Menschenrechte hochhalten. Die Zuversicht, dass sich durch wirtschaftliche Annäherung politischer Wandel erreichen lässt, hat erhebliche Rückschläge erlitten. Nicht nur im Austausch mit Russland, genauso mit China, Ägypten und anderen Ländern. Wenn Kooperation in Wirklichkeit auf Rivalität und Ausspionieren hinausläuft, wenn sie unsere digitale und technologische Souveränität gefährdet, ist das keine Kooperation. Je ruppiger es im Verhältnis mit China wird, desto stärker müssen wir andere Partnerschaften, die stärker auf gemeinsamen Werten basieren, in den Vordergrund stellen. Mit ASEAN-Mitgliedsstaaten wie Indonesien zum Beispiel, der drittgrößten Demokratie der Welt, oder Indien als größter. Das sind Kooperationen, die für Wissenschaft und Forschung vielfältige Möglichkeiten bieten.

 

"Wenn jemand behauptet, es gebe nur zwei Geschlechter, obwohl wissenschaftlich erwiesen ist, dass das nicht stimmt, muss diese Person damit leben, wenn deutliche Kritik linker Studierender losbricht." 

 

Was ist denn mit der Wissenschaftsfreiheit in Deutschland? Es gibt kritische Stimmen, die eine Verengung des wissenschaftlichen Diskurses und eine um sich greifende "Cancel Culture" beklagen.

 

Deutschland liegt im Academic Freedom Index seit Jahren auf Platz eins, wir sind Weltmeister in Sachen Wissenschaftsfreiheit. Zugleich zeigt das neue Wissenschaftsbarometer, dass weiter über 60 Prozent der Menschen in Deutschland der Wissenschaft vertrauen. Von wegen Vertrauenskrise nach der Corona-Pandemie! Es gibt keine Denkverbote an den Hochschulen und Forschungseinrichtungen. Bund und Länder ermöglichen mit ihrer Finanzierung, dass neugiergetriebene Forschung überall im Land stattfinden kann. Vor diesem Hintergrund erscheint mir das Gerede angeblicher Einschränkungen der Wissenschaftsfreiheit überzogen. Umgekehrt finde ich nicht, dass die Berufung auf die Meinungsfreiheit einem Freibrief für diskriminierende Sprache gleichkommt, um zum Beispiel Minderheiten mit abfälligen, aus der Zeit gefallenen Bezeichnungen zu versehen. Und wenn jemand behauptet, es gebe nur zwei Geschlechter, obwohl wissenschaftlich erwiesen ist, dass das nicht stimmt, muss diese Person damit leben, wenn deutliche Kritik linker Studierender losbricht. Das ist keine Einschränkung der Meinungsfreiheit. 

 

Ist es niemals und unter keinen Umständen eine Einschränkung der Meinungsfreiheit, wenn protestierende Studierende universitäre Veranstaltungen stören?

 

Ist das jetzt eine rhetorische Frage? Natürlich gibt es für alle Thesen in dieser Debatte zutreffende Beispiele, wo diese oder jene Vorgehensweise nicht gerechtfertigt war. Wir könnten jetzt 100 Einzelfälle durchgehen. Muss jeder Coronaschwurbler oder Gegner der Wissenschaftsfreiheit sein Forum bekommen? Entscheidend ist: Es gibt in Deutschland einen öffentlichen Diskurs über Abwägungen wie diese, er findet statt und ist konstitutiv für eine Demokratie. Lebendige Debatten und faire Streitkultur im besten Sinne tun uns gut.

 

Am Ende Hand aufs Herz: Wie würden Sie die Arbeit von Bundesministerin Stark-Watzinger nach einem Jahr bewerten?

 

Diese Koalition ist unter den schwierigsten Rahmenbedingungen seit Jahrzehnten an den Start gegangen. Kaum war sie vereidigt, begann der Angriffskrieg Putins auf die Ukraine. Dadurch wurde vieles in Frage gestellt, auch die Zeitpläne mancher Koalitionsvorhaben, denn plötzlich ging es hauptsächlich um Krisenmanagement. Vor dem Hintergrund finde ich es eine große Leistung, dass die Bundesministerin im Zusammenspiel mit den Regierungsfraktionen wesentliche Punkte des Koalitionsvertrags bereits in trockene Tücher gebracht hat. Und wenn ich sehe, was für die nächsten Jahre in der Pipeline ist, was im Tagesgeschäft noch nicht erkennbar ist – dann bin ich optimistisch, dass die Regierungsleistung am Ende der Legislaturperiode erkannt werden wird. Auch wenn mancher jetzt noch mit der Ampel hadert: Deutschland hat das Potenzial, gestärkt aus der Krise herauszukommen.


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Kommentare: 4
  • #1

    Schweizer (Montag, 19 Dezember 2022 15:17)

    Die Erkenntnis, daß man sich bei SPRIND hätte an erfolgreichen internationalen Vorbildern orientieren sollen, ist richtig. Sie kommt vier Jahre nach der Gründung, also für deutsche Verhältnisse speditiv.

    SPRIND wurde viel zu provinziell aufgesetzt. Schon das Auswahlkomitee war rein deutsch, mit auffälliger Nähe zur damals das BMBF führenden Partei. Dann nahm man auch noch jemanden aus den eigenen Reihen als Gründungsgeschäftsführer. Ohne Erfahrung mit missionsgetriebener, aber zugleich grundlagenforschungsbasierter Innovation. Die Briten haben unterdessen gezeigt, wie man es besser macht: Die haben sich Leute mit DARPA-Erfahrung geholt.

    Fraglich ist, ob sich SPRIND überhaupt noch retten läßt. Denn der fehlbesetzte GF hat unterdessen dutzende von Mitarbeitern eingestellt und noch mehr Programme angeschoben, die häufig sehr niedrig hängende, zeitgeistige Früchte anpeilen. Ein kompletter Reset wäre nötig, aber auch mutig: Viele bei SPRIND 1.0 Federführende würden das Gesicht verlieren. Selbst Sattelberger hatte dafür weder die nötig Einsicht noch den nötigen Mut.

    Freiheit ohne Kompetenz ist eine Lizenz zum Geldverbrennen. Erst einmal müssten endlich die richtigen Leute geholt werden. Dann erst sollte das Freiheitsgesetz kommen.

  • #2

    Josef (Dienstag, 20 Dezember 2022 08:59)

    " dafür gesorgt, dass das gesamte Thema der Entlastungen für Studierende [...] in der Energiekrise früh auf die Agenda kam. Dadurch haben wir mehr herausholen können."
    - Das muss sich für Studierende, die immer noch auf die sowieso sehr überschaubaren 200 Euro-Energiepauschale warten, doch etwas höhnisch lesen...

  • #3

    naja (Mittwoch, 21 Dezember 2022 12:50)

    Gut geführtes Interview. Herr Gehring ist leider kein Gewinn für Wissenschaft und Bildung in D. Das wird immer deutlicher.

    Das ''Problem Gehring'' wird in voller Schärfe auch deutlich durch die Äußerung '' ... Und wenn jemand behauptet, es gebe nur zwei Geschlechter, obwohl wissenschaftlich erwiesen ist, dass das nicht stimmt, ...'' Die Medizin-Nobelpreisträgerin Christiane Nüsslein-Volhard hat in der EMMA Ende August genau zu diesem schon oft von Herrn Lehmann vorgetragenen Unsinn wörtlich gesagt ''Das ist unwissenschaftlich! Da hat Herr Lehmann vielleicht den Grundkurs in Biologie verpasst.'' Schlimm genug, dass man Nobelpreisträger benötigt, um solchem Unfug entgegenzutreten. Herr Lehmann ist halt völlig überfordert als Leiter des Ausschusses für Bildung und Forschung. Dazu benötigt man ein Minimalverständnis für Wissenschaft. Irrationale Phantasien sind eher abträglich.

  • #4

    oh je (Sonntag, 25 Dezember 2022 16:23)

    darf das wahr sein, dass die Äußerung "Wenn jemand behauptet, es gebe nur zwei Geschlechter, obwohl wissenschaftlich erwiesen ist, dass das nicht stimmt, ...'' unwidersprochen bleibt in diesem Interview? Was kommt als Nächstes'' Dass die Erde eine Scheibe ist? Freundliche Grüße aus der Wissenschaft.