"Unsere Sicherheit liegt in der Offenheit"
Wie Kürzungen in den USA eine zentrale medizinische Datenbank bedrohen: Die Bibliothekswissenschaftlerin Miriam Albers über die Bequemlichkeit Europas und die Initiative, jetzt ein europäisches PubMed aufzubauen.

Miriam Albers (rechts) leitet den Programmbereich Bibliothek von ZB MED, dem Infrastruktur- und Forschungszentrum für lebenswissenschaftliche Daten und Informationen. Foto: ZB MED.
Frau Albers, haben sich Forscher in Europa, gerade auch in den Lebenswissenschaften, zu sehr auf amerikanische Datenbanken verlassen?
Ich würde nicht allein von amerikanischen Datenbanken und Dateninfrastrukturen und Bibliotheken sprechen. Die Situation, die wir gerade mit den USA erleben, ist nur ein – allerdings sehr sichtbares – Beispiel, dass alte Gewissheiten in der internationalen Forschungscommunity verloren gegangen sind. Auch im Bibliothekswesen haben wir die Globalisierung als arbeitsteiliges Prinzip verstanden. Einer kümmert sich um diese Datenbank, der andere stellt jene Infrastruktur bereit. Wir haben darauf vertraut, dass wir in einer auf internationaler Verständigung ausgerichteten westlichen Welt leben. Das war offenbar zu kurz gedacht. Denn was jetzt passiert – politische Instabilitäten, Kürzungen in den Niederlanden, Unsicherheiten durch Trump oder der Aufstieg des Rechtspopulismus in Deutschland – zeigt: Wir brauchen offene, resiliente Strukturen, die überall nutzbar sind, unabhängig von politischen Verwerfungen. Nicht mehr: „Amerika macht das, Deutschland das“, sondern: "Wir machen gemeinsam etwas, das offen und zugänglich für alle ist."
"Forschung ist mehr als
Labore und kluge Köpfe."
Das mit der internationalen Arbeitsteilung klingt so freundlich. Waren wir Europäer in Wahrheit nicht oft bequeme Trittbrettfahrer des herausragenden amerikanischen Wissenschaftssystems, zu dem auch hervorragende Services zum Sammeln und Vorhalten von Forschungsdaten und Studien gehörten? Die wir kostenlos mitgenutzt haben?
Was stimmt: Die USA waren stolz auf ihre Forschungsinfrastruktur – und Europa hat sich drangehängt. Das war keine direkte Einladung, eher ein: "Schaut, was wir Tolles haben – nutzt es ruhig mit." Und ja, wir haben das gern getan. Aber das eigentliche Problem liegt tiefer: In Deutschland fehlt bis heute der ernsthafte, konstruktive Diskurs über Datenbanken und Infrastrukturen. Forschung wird oft reduziert auf Labore und kluge Köpfe – als wäre das schon alles. Die Infrastruktur dahinter? Ein blinder Fleck. Und genau deshalb haben wir uns nicht nur auf Amerika verlassen, sondern vor allem auf eine falsche Vorstellung davon, wie Wissenschaft funktioniert.
In den Lebenswissenschaften und in der Medizin hat PubMed eine überragende Bedeutung. Bitte erklären Sie kurz, was PubMed so besonders macht.
PubMed ist eine zentrale Literaturdatenbank für medizinische und lebenswissenschaftliche Artikel. Aber eigentlich ist sie viel mehr als das. Sie erschließt medizinische und lebenswissenschaftliche Literatur auf Einzelartikelbasis – und vor allem: intelligent. Denn dank des hierarchisch aufgebauten Schlagwortsystems "MeSH", den Medical Subject Headings, finde ich nicht nur Artikel, in denen exakt mein Suchbegriff steht. Ich finde auch verwandte, thematisch passende Studien – selbst wenn der Begriff gar nicht genannt wird. Für systematische Recherchen in der evidenzbasierten Medizin ist das unverzichtbar. Wer etwa alle Studien zu einem bestimmten Subtyp von Brustkrebs sucht, bekommt mit wenigen Klicks präzise, vollständige Ergebnisse. Diese Tiefe macht PubMed so einzigartig – und so grundlegend für Forschung, Praxis und Versorgung.
Und PubMed wird vollständig von den National Institutes of Health (NIH) in den USA finanziert.
Dass PubMed durch die National Library of Medicine der NIH finanziert wird und die NIH nun ihr Budget um 40 Prozent kürzen müssen, ist ein Alarmsignal. Ich weiß, was 20 Prozent Kürzung bedeuten, mit denen sind wir gerade konfrontiert. Aber 40 Prozent – das ist dramatisch. Die Medizin ist der publikationsstärkste Wissenschaftsbereich weltweit – rund 60 Prozent aller wissenschaftlichen Veröffentlichungen stammen aus diesem Feld. Und sie ist extrem dynamisch. Wenn Ihre Mutter an Krebs erkrankt ist, wollen Sie nicht, dass Ihr Arzt mit drei Wochen alten Daten arbeitet – wenn es vielleicht letzte Woche bahnbrechende neue Ergebnisse gab. Deshalb ist eine verlässliche, aktuelle Infrastruktur in der Medizin nicht optional, sondern lebenswichtig. Und PubMed ist dabei das Rückgrat. Nicht nur für Forschende, sondern auch für Ärztinnen und Ärzte im klinischen Alltag. Und weit über die direkte Nutzung hinaus: PubMed-Daten werden in zahllosen anderen Diensten weiterverwendet – etwa bei der Zulassung von Medikamenten, in spezialisierten Datenbanken, bei klinischen Entscheidungshilfen. Unsere Gesundheits- und Versorgungsstrukturen basieren mit auf diesem System.
Stellen Sie schon konkrete Einschränkungen fest?
Noch nicht. Aber es gibt Signale. Die Direktorin der Library of Congress wurde entlassen mit der Begründung, sie habe Kinderbücher zum Thema Diversität zugänglich gemacht hat. Man muss sich das vorstellen: eine Nationalbibliothek! In unserer Deutschen Nationalbibliothek gibt es riesige Archive, da ist kein Ort für Kinder, das ist keine öffentliche Kinderbuchabteilung. Es ist völlig absurd, wie das dort politisiert wird. Auch die Verantwortliche für das Urheberrecht wurde rausgeschmissen, weil sie Elon Musk untersagt haben soll, urheberrechtlich geschütztes Material zum Training seiner KI zu verwenden. Und auf einem großen bibliothekarischen Kongress in den USA neulich war kein einziger Vertreter der National Library of Medicine vor Ort. Das ist beunruhigend. Normalerweise haben die einen großen Stand und sind überall präsent.
"Wenn man das einmal miterlebt hat,
verliert man jede Illusion."
Gibt es denn noch informellen Austausch zu den PubMed-Mitarbeitern?
Es gibt informellen Austausch – aber der findet quasi im Verborgenen statt. Fast wie geheime Treffen, ohne Aufzeichnung, damit amerikanische Kolleginnen überhaupt teilnehmen können. Sie kommen unter großen persönlichen Risiken, oft mit existenziellen Ängsten. Manche brechen in Tränen aus, haben nur eine Green Card und fürchten um ihre Zukunft – und die ihrer Familien. Was sie uns sagen, ist eindringlich: "Seid nicht naiv. Tut etwas – auch für uns." Diese Begegnungen gehen einem nahe. Wenn man das einmal miterlebt hat, verliert man jede Illusion. Dann weiß man: Wir dürfen nicht warten, bis es zu spät ist.
Und was tun Sie?
Wir wollen handeln – und zwar jetzt. Wir beantragen ein DFG-Projekt, um ein europäisches PubMed aufzubauen. Nicht perfekt, aber funktional. Nicht in fünf Jahren, sondern mit ersten nutzbaren Testversionen schon in wenigen Monaten. Die vollständige Basis soll in 18 Monaten stehen. Wir speichern PubMed bereits täglich, haben Vereinbarungen mit vier großen Verlagen und sind im Gespräch mit weiteren. Natürlich ist das politisch heikel – viele hängen am US-Markt. Aber wir gehen voran: offen, dokumentiert, transparent. Der gesamte Code wird öffentlich sein, ebenso der Projektantrag. Wir führen Gespräche mit Partnern in Schweden, Großbritannien und anderen Ländern – ein großes Arbeitspaket widmet sich dem Community-Aufbau. Es geht nicht darum, PubMed eins zu eins zu kopieren. Es geht darum, eine resiliente, europäisch getragene Infrastruktur zu schaffen, die im Zweifel übernehmen kann. Corona hat gezeigt: Bürokratie darf nicht im Weg stehen, wenn gehandelt werden muss.
Was sagt die DFG zu Ihrem Antrag?
Der Antrag wird wie jeder andere begutachtet, da gibt es kein Durchwinken. Aber die Unterstützung aus der Community ist enorm – wir bekommen laufend Letters of Support. Trotzdem: Das ist ein Thema, das eigentlich in die Verantwortung der Bundesregierung gehört. Wir reden hier über ein Projekt, das zwei Millionen Euro kostet. Das ist politisch gesehen eine Nachkommastelle. Und Kosten entstehen ohnehin: Im Moment starten viele Lebenswissenschaftler:innen weltweit ihren Arbeitstag, indem sie in PubMed nach bestimmen Begriffen suchen – Transgender, Abtreibung und andere sensible Themen – nur um sicherzugehen: Sind die Studien dazu überhaupt noch auffindbar? Wenn tausende Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler jeden Tag zehn Minuten darauf verwenden, um so etwas zu überprüfen – dann kostet uns das jetzt schon mehr, als der Aufbau eines europäischen PubMed-Nachbaus kosten würde.
In anderen Disziplinen laufen teilweise ähnliche Initiativen. Das Alfred-Wegener-Institut und die Universität Bremen zum Beispiel sichern Daten der Nationalen Ozean- und Atmosphärenbehörde der USA – auf deren Hilferuf an die internationale Forschungscommunity hin. Was macht Ihr Projekt besonders?
Alle Anstrengungen, wo immer sie laufen, sind unglaublich wichtig. Wenn jemand bislang nicht verstanden hat, warum Open Science wichtig ist – jetzt ist der Moment. Unsere Sicherheit liegt in der Offenheit. Die Antwort kann nicht sein, dass jedes Land sein eigenes System baut. Wir brauchen eine gemeinsame, offene Infrastruktur, die von vielen getragen wird – und die weiterläuft, auch wenn einzelne Länder ausfallen. Genau das wollen wir mit unserem Projekt erreichen, denn so funktioniert Resilienz in der Wissenschaft. So funktioniert Zusammenarbeit. Und im besten Fall: auch Wissenschaftsfreiheit. Vielleicht bringt uns diese Krise, so bedrohlich sie ist, am Ende ein Stück weiter – hin zu mehr Kooperation, mehr Verantwortung und mehr Offenheit.
"Das Niveau von Unterstützungsbriefen sollten
wir längst hinter uns gelassen haben"
Gibt es denn Unterstützungssignale aus der Politik, etwa von Bundesforschungsministerin Dorothee Bär oder aus ihrem Ministerium? Im Koalitionsvertrag steht immerhin nicht nur das auf die Anwerbung von US-Forschern gemünzte "1000-Köpfe-Programm", sondern auch der Satz: "Wissenschaftlich relevante Datenbestände, deren Existenz bedroht sind, wollen wir weltweit sichern und zugänglich halten."
Vielleicht habe ich ja etwas übersehen, aber ehrlich gesagt: Ich sehe das Thema nicht ausreichend in der politischen Rhetorik, auch nicht bei Dorothee Bär. Ich habe versucht, Kontakte zu knüpfen, etwa ins Bundesgesundheitsministerium, wo ich eine starke inhaltliche Zuständigkeit sehe. Wir hatten auch ein Gespräch im BMFTR. Dort wurde immerhin erwogen, einen Letter of Support zu schreiben – aber das greift zu kurz. Auch der Gemeinsame Bundesausschuss hat uns einen solchen Brief geschickt. Aber das Niveau von Unterstützungsbriefen sollten wir längst hinter uns gelassen haben. Es geht hier um eine potenzielle Gefährdung der Gesundheitsversorgung. Dass das keine politische Priorität hat, kann ich nicht begreifen. Und dass wegen des Regierungswechsels erstmal alle auf Stopp geschaltet haben, noch weniger. Worauf warten wir eigentlich? Die Welt dreht sich weiter. Und das wäre doch auch eine Riesenchance für die deutsche Wissenschaftspolitik.
Inwiefern?
Mit einem so sichtbaren, positiven Thema wie einem europäischen PubMed-Nachbau könnte die Regierung politisch glänzen – national wie europaweit. Vielleicht sind Bibliotheken aber einfach nicht sexy genug. Vielleicht stellen sich viele in der Politik immer noch vor, dass Bibliothekar:innen Bücher in Regale sortieren.
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