"Wer sich abschottet, hängt sich selbst ab – wer nicht reformiert, fällt zurück"
Amerika kappt die wissenschaftlichen Verbindungen zur Welt – und Deutschland verliert sich im föderalen Klein-Klein. Unikliniken-Chef Jens Scholz warnt vor einem doppelten Kontrollverlust: Die neue Bundesregierung muss handeln, sonst droht im Krisenfall die Überlastung – und der medizinischen Forschung der weitere Abstieg.

Jens Scholz ist Anästhesiologe, Hochschullehrer und Vorstandsvorsitzender des Universitätsklinikums Schleswig-Holstein sowie des Verbandes der Universitätsklinika Deutschlands (VUD). Foto: VUD.
Herr Scholz, die US-Regierung will Harvard die Aufnahme ausländischer Studierender untersagen, die Universität setzt sich juristisch zur Wehr. Was bedeutet es für die Universitätsmedizin in Deutschland, wenn ihre amerikanischen Partner immer stärker unter Druck geraten?
Es ist paradox: Einerseits öffnet sich für uns eine Chance, weil viele hochqualifizierte Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler vielleicht nach Europa zurückkehren. Andererseits verlieren wir durch eine Abschottung der USA auch wertvolle Austauschbeziehungen, die für die internationale wissenschaftliche Zusammenarbeit zentral sind. Gerade die Universitätsmedizin in Deutschland hat jahrzehntelang davon profitiert, dass deutsche Ärztinnen, Ärzte und Forschende in die USA gegangen sind – zum Lernen, Forschen, Aufbau von Netzwerken. Wenn die nun wegbrechen, trifft uns das hart – als forschende Institutionen, als Innovationsmotoren im Gesundheitssystem und als international vernetzte Universitätsmedizin. Wir brauchen aber diesen wissenschaftlichen Dialog – für die Patientenversorgung, die Ausbildung und den medizinischen Fortschritt.
"Wir brauchen dringend eine
europäische Strategie – ein Notfallprogramm,
um Daten selbst zu sichern, zu speichern, zu nutzen."
Sie sprechen über wissenschaftlichen Austausch, aber die Gefahr geht weiter: Was ist, wenn zentrale US-Datenbanken wie PubMed plötzlich abgeschaltet werden?
Unsere Forschung lebt von freien Datenflüssen. Vieles, was heute mit KI oder Studienerkenntnissen gemacht wird, basiert auf US-Daten. Wenn die verschwinden, verliert gerade auch die Universitätsmedizin eine zentrale Grundlage. Wir brauchen dringend eine europäische Strategie – ein Notfallprogramm, um Daten selbst zu sichern, zu speichern, zu nutzen. Es gibt da bereits Ansätze, aber es fehlt an einer koordinierten und auf lange Sicht angelegten Strategie. Es ist höchste Zeit zu handeln. Am größten wäre der Schaden allerdings für die USA selbst. Wer sich von der internationalen Vernetzung verabschiedet, hängt sich selbst ab. Das hat man nach der Perestroika in Russland gesehen – dort sind die Universitäten faktisch abgewickelt worden. China hat es im eigenen Interesse ganz anders gemacht. Forschung ist Zukunft, digital, wirtschaftlich und geopolitisch.
Apropos geopolitisch: Zum ersten Mal seit Jahrzehnten erscheint das Szenario, dass Deutschland in einen Krieg hineingezogen werden könnte, nicht mehr abwegig. Wie stünde es in einem solchen Fall um unsere medizinische Infrastruktur?
Ehrliche Antwort: Bislang nicht gut. Die Bundeswehr rechnet in einem theoretischen Szenario im Kriegsfall mit bis zu 1000 Verletzten pro Tag, die Deutschland zu koordinieren hätte. Als Verband der Universitätsklinika Deutschlands unterstützen wir den Vorschlag der Bundeswehr, gemeinsam mit den BG-Kliniken und den kommunalen Großhäusern ein Konzept zu entwickeln. Aber die Vorstellung, täglich 1000 Verletzte ließen sich allein mit den fünf Bundeswehrkrankenhäusern, den neun BG-Kliniken der gesetzlichen Unfallversicherung, Großkrankenhäusern und unseren 36 Unikliniken bewältigen, ist unrealistisch. Deshalb sagen wir: Die sogenannten KRITIS-Häuser – laut Verordnung Kliniken mit mehr als 30.000 Fällen pro Jahr – müssen in ein gemeinsames Konzept besonders einbezogen werden. Darüber hinaus braucht es eine gute und verlässliche Koordination mit klaren Kommunikationsstrukturen und verlässlichen Ressourcen. Aber das muss organisiert, trainiert und logistisch abgesichert werden.
Was käme speziell auf die Universitätskliniken zu?
Wir brauchen Übungsszenarien, Training für die Versorgung schwerstverletzter Patienten, wie sie bisher in Deutschland kaum real geübt werden, weil sie eben kaum vorkommen. Wir brauchen logistische Konzepte zur Verteilung der Patienten über das gesamte Bundesgebiet, wie das Kleeblattsystem, das bereits in der Corona-Pandemie vielfach geholfen hat und im Bündnisfall aktiviert werden würde. Und wir müssen uns auf Cyberattacken, Stromausfälle und Wasserknappheit vorbereiten. In Israel etwa haben wir unterirdische Stationen gesehen, die im Notfall in 30 Minuten 1000 Menschen aufnehmen können. In Deutschland existiert so etwas nicht. Und wenn es Bombenalarm gibt, wie schützen wir dann medizinisches Personal und Patienten und Patientinnen? Auch auf Cyberangriffe müssen wir uns viel besser vorbereiten. Wir müssen diese Erfahrungen systematisch in eine Strategie für die medizinische Resilienz überführen – Universitätskliniken können dabei als Knotenpunkte in einem Versorgungsnetzwerk dienen. Diese strategische Funktion muss politisch anerkannt, aber auch finanziell gestärkt werden.
"Der Bund muss endlich Verantwortung übernehmen.
Das Sondervermögen darf nicht nur Panzer und Drohnen
finanzieren, sondern muss auch die Gesundheitsinfrastruktur umfassen."
Was hindert uns daran, solche Strukturen zu schaffen?
Der Föderalismus. Der Bund muss hier endlich Verantwortung übernehmen. Das Sondervermögen darf nicht nur Panzer und Drohnen finanzieren, sondern muss auch die Gesundheitsinfrastruktur umfassen. Das ist im Krisenfall überlebenswichtig. Statt der herrschenden Kleinteiligkeit brauchen wir zentrale Entscheidungsstrukturen. Wir kennen das ja bereits aus der Krankenhausversorgung. Die Länder beanspruchen die Investitionshoheit über die Krankenhäuser, rufen aber nach dem Bund, wenn es um "kriegssichere" Bauten geht. So lässt sich jedoch keine strategiefähige und resiliente Gesundheitsversorgung aufbauen. Auf Bundeslandebene können wir kein kriegstaugliches Gesundheitssystem bauen. Da braucht es einen nationalen Rahmen mit gemeinsamer Verantwortung – und mit Standards für Schutz, Struktur und Kapazität.
Der Koalitionsvertrag der Ampel spricht von einer "angemessenen Berücksichtigung" der Universitätsmedizin im Transformationsfonds. Klingt gut. Ist es das auch?
Im Koalitionsvertrag steht eine Absichtserklärung. Die Passage zur Hochschulmedizin stärkt die besondere Rolle der Universitätsmedizin – und das ist auch richtig so. Allerdings bleibt sie vage, sie liest sich eher wie eine Wunschliste: mehr Profilbildung, mehr Verbundforschung, bessere Translation. Alles richtig. Was fehlt, sind konkrete Maßnahmen, gezielte Zusagen und ein verbindlicher Fahrplan. Die Universitätsmedizin ist tragend für unser Gesundheits- und Wissenschaftssystem – und nicht zu vergessen für die Wirtschaft. Zur Strukturveränderung mit der Krankenhausreform wollen wir mit unserer besonderen medizinischen Kompetenz und unserem Sachverständnis in der Organisation stationärer Versorgung maßgeblich beitragen. Der eingeschränkte Zugang zum Transformationsfonds ist deshalb kontraproduktiv. Universitätsklinika müssen weitgehend förderfähig sein – das muss jetzt schnell gesetzlich umgesetzt werden.
"Deutschland hat in der klinischen Forschung
den Anschluss verloren. Wir waren einmal Nummer
zwei weltweit, jetzt liegen wir hinter Spanien und den
Niederlanden. Das ist alarmierend."
Was müsste konkret passieren?
Man müsste sich trauen, alte Zöpfe abzuschneiden. Ursprünglich wurden die Deutschen Zentren für Gesundheitsforschung im Rahmen der Helmholtz-Gemeinschaft aufgebaut, um unter den damals gegebenen rechtlichen Rahmenbedingungen eine effektive Beteiligung des Bundes an der Gesundheitsforschung in den Ländern zu ermöglichen. Mittlerweile hat sich das weiterentwickelt, sodass neue Wege der Zusammenarbeit denkbar sind. Wenn im Koalitionsvertrag von einer "Spitzeninitiative der Hochschulmedizin" die Rede ist, dann verstehe ich darunter: Die Förderung könnte künftig direkter und nachhaltiger adressiert werden. Wir bräuchten ein klares Förderinstrument – schlank, einheitlich, effizient. Die Genommedizin oder ATMPs, Arzneimittel für neuartige Therapien, bieten ein enormes Potenzial. Doch Deutschland hat in der klinischen Forschung den Anschluss verloren. Wir waren einmal Nummer zwei weltweit, jetzt liegen wir hinter Spanien und den Niederlanden. Das ist alarmierend – und nicht tragbar für einen Wirtschaftsstandort mit unserem Anspruch an medizinischen Fortschritt.
Große Fortschritte hat es dank Gesundheitsdatennutzungsgesetz und Medizinforschungsgesetz beim Zugang zu medizinischen Forschungsdaten gegeben. Reichen die?
Viel ist passiert, das stimmt. Aber wir sind noch nicht zufrieden. Wir haben weiterhin keine zentrale Strategie, keine einheitlichen Standards oder verbindlichen Regeln für die Zusammenarbeit – insbesondere auch mit der Industrie. Und was uns besonders stört: Deutschland ist oft "über-europäisch". Die DSGVO ist EU-Recht – und trotzdem legen wir in Deutschland nochmal drauf. Warum eigentlich? In Dänemark gilt dasselbe Recht – aber mit mehr Pragmatismus, sodass der Umgang mit Gesundheitsdaten im Sinne der Forschung und Versorgung gelingt. Wir sollten europäisch sein, nicht päpstlicher als der Papst. Was wir aber geschafft haben, ist der Broad Consent.
Patienten können jetzt mit einer einzigen Zustimmung grundsätzlich erlauben, dass ihre Gesundheitsdaten und Bioproben für eine Vielzahl von Forschungsprojekten genutzt werden – bis sie dem widersprechen.
Das schafft eine verlässliche Grundlage für die Nutzung von Gesundheitsdaten für die medizinische Forschung und muss nun bundesweit implementiert werden. Dank Broad Consent und dem engen Netzwerk unserer 36 Unikliniken zum Beispiel im NUM, dem Netzwerk Universitätsmedizin, haben wir in Deutschland jetzt mehr und bessere Gesundheitsdaten als Harvard. Besonders ist dabei die hohe Repräsentativität, also mit wenig Bias, da die Daten einen Querschnitt der Bevölkerung abbilden. Das ist ein Riesenvorteil, den müssen wir nutzen.
"Ja, da weiß man gar nicht,
ob man lachen oder weinen soll."
Ein weiteres Dauerprojekt der Hochschulmedizin ist der Masterplan Medizinstudium 2020. Seit bald einem Jahrzehnt wird über die neue Approbationsordnung gestritten. Kommt sie noch?
Ja, da weiß man gar nicht, ob man lachen oder weinen soll. Zwischen Matthias Frosch, dem Präsidenten des Medizinischen Fakultätentages (MFT), und mir ist das seit Jahren ein wiederkehrender Dialog: Ich frage ihn, ob die Approbationsordnung jetzt kommt, und er antwortet mit ungebrochenem Optimismus: "Dieses Jahr bestimmt." Aber im Ernst: Die Verzögerungen sind nicht allein finanzieller Natur. Es gibt eine Vielzahl föderaler Zuständigkeiten, Schnittstellen zwischen Bund und Ländern, zwischen den Ressorts Wissenschaft und Gesundheit. Zum Glück engagieren sich viele Fakultäten auch so längst für die Modernisierung des Medizinstudiums: Skills Labs, mit innovativer Technologie wie Virtual Reality in der Ausbildung und moderne Lehrgebäude. Die Studierenden honorieren das. Aber das reicht nicht, das ist Flickenteppich und ersetzt keine flächendeckende Reform. Die neue Approbationsordnung ist überfällig – wie viele andere Reformen auch.
Welche meinen Sie?
Was mich im Moment stark umtreibt: Was wird jetzt eigentlich aus den zentralen Reformprojekten im Gesundheitswesen – insbesondere mit dem Krankenhausversorgungsverbesserungsgesetz (KHVVG)? Was wird aus der Notfallreform, aus der Pflegereform? Das KHVVG wurde vor der Wahl gerade noch verabschiedet, aber verabschiedet ist nicht umgesetzt: Dafür brauchen wir drei Verordnungen, von denen bislang nur eine vorliegt, während zwei noch gänzlich fehlen. Und die Leistungsgruppenanpassung soll auch noch um ein Jahr auf 2027 verschoben werden. Die Bundesgesundheitsministerin betont, nichts werde verwässert, sondern verbessert. Das "verbessert" darf am Ende nicht bedeuten, dass die Länder mehr Freiheiten bekommen, weiter wie bisher – und der Bund sich zurückzieht. Die Reaktion der Länder auf die Defizite der Kliniken bleibt leider oft reflexhaft: Mehr Geld muss her. So wichtig finanzielle Stabilität ist, wissen wir doch seit Jahren: Sobald Mittel fließen, schwindet der Druck und hört der Reformwille auf. Dabei sind die gesetzlichen Grundlagen für echte strukturelle Veränderungen jetzt da. Gerade Universitätskliniken sollen eine koordinierende Rolle übernehmen. Diese Verantwortung wollen wir aktiv und gestaltend mit Leben füllen.
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