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Karlsruhe sagt: So nicht

Das Bundesverfassungsgericht erklärt die gesetzliche Anschlusszusage für Postdocs an Berliner Hochschulen für nichtig. Ein später Sieg für Ex-HU-Präsidentin Sabine Kunst, eine Ohrfeige für die Berliner Wissenschaftspolitik – und der Auftakt für eine neue Debatte auf Bundesebene.
Bundesverfassungsgericht

Sitz des Bundesverfassungsgerichts in Karlsruhe. Foto: Martin Hahn, CCO.

DER BERLINER SENAT DANKE dem Bundesverfassungsgericht für seine rechtliche Klarstellung: So begann am Donnerstagnachmittag die Pressemitteilung, die das Haus von Wissenschaftssenatorin Ina Czyborra (SPD) herausgab.

Was man als skurril bezeichnen könnte vor dem Hintergrund, dass das höchste deutsche Gericht gerade eine Gesetzesregelung verworfen hatte, an deren Entstehung Czyborra vor knapp drei Jahren maßgeblich beteiligt gewesen war – damals noch in ihrer Rolle als wissenschaftspolitische Sprecherin ihrer Fraktion im Abgeordnetenhaus. Doch kommunizierte hier die Senatorin Czyborra, und die wollte gar nicht erst den Eindruck einer Schlappe aufkommen lassen. Entsprechend lautete ihre Botschaft: Haben wir doch längst in Ordnung gebracht.

Doch rüttelt der am Donnerstag bekannt gewordene Beschluss aus Karlsruhe die Hochschulpolitik in Berlin und bundesweit kräftig durch: Die Verfassungsrichter haben die Bestimmungen im Berliner Hochschulgesetz zur sogenannten Anschlusszusage für verfassungswidrig und nichtig erklärt. Kurz vor der Abgeordnetenhauswahl 2021 gegen den Willen der damaligen Senatsverwaltung von Abgeordneten der rot-rot-grünen Berliner Koalition in die Gesetzesnovelle gedrückt, verpflichtete sie die Hochschulen, allen auf befristeten Qualifikationsstellen beschäftigten Wissenschaftler:innen nach erfolgreicher Qualifikation automatisch eine unbefristete Stelle anzubieten.

Berlin ohne Gesetzgebungskompetenz

Die in Paragraf 110 Absatz 6 festgehaltene Bestimmung greife in die Wissenschaftsfreiheit nach Artikel 5 Absatz 3 ein, da Hochschulen ihre Personalentscheidungen nicht mehr eigenständig treffen könnten. Da dem Land Berlin die Gesetzgebungskompetenz fehle, verstoße die Regelung bereits formell gegen das Grundgesetz. Der Bund habe mit dem Wissenschaftszeitvertragsgesetz (WissZeitVG) bereits abschließend geregelt, unter welchen Bedingungen befristete wissenschaftliche Beschäftigung zulässig ist. 

Daher wägen die Richter gar nicht mehr inhaltlich ab , ob der Eingriff in die Wissenschaftsfreiheit der Hochschulen unabhängig von der fehlenden Gesetzgebungskompetenz Berlins an sich verfassungswidrig ist. Doch sie führen aus: In der Praxis verkürze die für die Hochschulen verpflichtende Anschlusszusage unmittelbar die Freiheit der Hochschulen zur Auswahl des wissenschaftlichen Personals – "mit nachteiligen Folgen etwa für die Förderung des akademischen Nachwuchses, welche die Möglichkeit zur generellen Befristung der Beschäftigungsverhältnisse des wissenschaftlichen Personals auf Qualifikationsstellen erfordert." Mehr Entfristungen gleich weniger Bestenauswahl und weniger Chancen für künftige junge Wissenschaftler – so eine Argumentationskette des Gerichts.

Die Verfassungsbeschwerde hatte die Humboldt-Universität zu Berlin eingereicht – noch unter Präsidentin Sabine Kunst. Die damalige HU-Leiterin hatte ihren Rücktritt im Oktober 2021 ausdrücklich mit dem Berliner Hochschulgesetz begründet. Der politische Rahmen, den der rot-rot-grüne Senat den Hochschulen gesetzt habe, sei mit ihren Überzeugungen von wissenschaftsgeleiteter Hochschulpolitik nicht vereinbar, erklärte Kunst damals. Kurz vor ihrem Abschied initiierte sie die Verfassungsbeschwerde – es war eine der letzten Amtshandlungen ihrer Amtszeit.

"Klarheit – und zwar jetzt"

Insofern dürfte es für Kunst ein bittersüßer Sieg sein – gaben die Richter ihr doch Recht, doch die Humboldt-Universität führt längst jemand anders: Julia von Blumenthal.

Sie freue sich, dass das Bundesverfassungsgericht Klarheit geschaffen habe – "und zwar jetzt", sagte Kunst am Donnerstag auf Anfrage. Die Richter hätten ausdrücklich betont, "dass die Wissenschaftsfreiheit auch die Auswahl und die Festlegung der Beschäftigungsbedingungen für wissenschaftliche Mitarbeiter und akademischen Nachwuchs umfasst". Das gelte über das Land Berlin hinaus, da der Bund mit dem WissZeitVG abschließend regele, fügt Kunst mit Verweis auf das Urteil hinzu: "Das ist wichtig für die nötige Profilierung der einzelnen Hochschulen."

Tatsächlich zieht das Bundesverfassungsgericht mit seinem Beschluss einen so grundsätzlichen wie erwartbaren Rahmen für das Verhältnis zwischen Landesrecht und Bundesrecht in der Hochschulpolitik. Und mit recht großer Sicherheit lässt sich sagen, dass Senatorin Czyborra, wäre die heute entschiedene Klage nie eingereicht worden, nicht die Rolle rückwärts gemacht hätte, auf die sie in ihrer Stellungnahme nach der Entscheidung des Verfassungsgerichts verwies.

Der aktuelle Berliner Senat habe die in der Vergangenheit geäußerten Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Anschluss-Bestimmung im Berliner Hochschulgesetz "sehr ernst genommen und die Umsetzung dieser Regelung zunächst ausgesetzt", sagt die Senatorin laut Pressemitteilung. "Zugleich hat der Berliner Senat eine Weiterentwicklung der gesetzlichen Regelung im Berliner Hochschulgesetz frühzeitig vorgenommen und dabei bundesweite Diskussionen und neue Ansätze zur Ausgestaltung attraktiver Karrierewege in der Wissenschaft aufgegriffen."

Senatorin sah ein "Fanal für bessere Beschäftigungsbedingungen"

Nachdem ihr Staatssekretär Henry Marx die Regelung im Herbst 2024 fast beiläufig abgeräumt hatte, sagte sie im Interview hier im Wiarda-Blog, irgendwann habe man die Rechtsunsicherheit "einfach beenden" müssen. "Der Paragraf war als Fanal für bessere Beschäftigungsbedingungen gedacht, und als solches ist er bundesweit aufgenommen worden. Eine Universitätspräsidentin ist seinetwegen zurückgetreten, weil sie gesagt hat: Vielleicht ist das der richtige Weg, aber nicht mehr mit mir."

Wobei Kunst auch in ihrer Stellungnahme am Donnerstag nicht so klang, als hätte sie der Regelung je irgendetwas abgewinnen können. Die Entscheidung der Richter schaffe "die Sicherheit, dass die Ausgestaltung von wissenschaftlichen Arbeitsverhältnissen von der Wissenschaftsfreiheit geschützt ist. Der Bund könnte nur eingreifen, wenn ein anderes, überragendes, verfassungsrechtlich geschütztes Rechtsgut betroffen wäre."

Kunsts Nachfolgerin von Blumenthal sagte, die HU sei in ihrer Rechtsauffassung "klar bestätigt" worden. "Es ist und bleibt eine wichtige Aufgabe der Hochschulen in ihrer Autonomie, für die Wissenschaft geeignete Personalstrukturen und gute Karrierewege zu entwickeln. Der Bundesgesetzgeber gibt dafür einen verbindlichen Rahmen vor. Mit der Berliner Landesregierung haben wir im letzten Jahr bereits ein Konzept entwickelt, um diesen Rahmen auszufüllen. Wir begrüßen, dass der Entwurf einer Änderung des Berliner Hochschulgesetzes vorliegt, mit der neue unbefristete Stellenkategorien für den akademischen Mittelbau eingeführt werden sollen."

Die angesprochene Gesetzesnovelle, die gerade durch die Anhörung ging, soll als nächstes in die Senatsabstimmung. Der Entwurf erntete bei den Hochschulleitungen viel Zustimmung, auf der Mitarbeiterebene gab es aber auch Kritik. "Um den Grundgedanken der gegenwärtigen Regelung – mehr Sicherheit und Planbarkeit im akademischen Mittelbau – beizubehalten, haben wir uns dazu entschieden, mit dem Researcher und Lecturer innovative neue Dauerstellenkategorien zu etablieren", sagt Ina Czyborra. "Damit transparente und planbare Karrierewege auf Dauerstellen neben der Professur ermöglicht werden können, verbinden wir die neuen Stellenkategorien mit einer Art Tenure-Track, um jungen Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen die Möglichkeit zur Erreichung unbefristeter Beschäftigung zu ermöglichen."

Bundesweite Debatte neu entfacht

Was den von Kunst angesprochenen Zeitpunkt und die Ausstrahlung der Entscheidung über Berlin hinaus angeht: Die schwarz-rote Bundesregierung hat in ihrem Koalitionsvertrag bis Mitte 2026 einen neuen Anlauf für eine WissZeitVG-Reform angekündigt, an der die Ampel gescheitert war.

Die neue Bundesforschungsministerin Dorothee Bär (CSU) sagte kürzlich im Interview: "Wir müssen die Karrierewege in der Wissenschaft in Deutschland insgesamt so gestalten, dass sie realistisch, attraktiv und planbar sind. Und die Kettenbefristungen sind dabei ein echtes Problem. Dafür machen wir einen neuen Anlauf für eine Neufassung des Wissenschaftszeitvertragsgesetzes."

Senatorin Czyborra zeigte sich schon im Herbst 2024 überzeugt, dass schon durch die Ankündigung der am Ende nie in Kraft getretenen Regelung "sehr viel in Bewegung" entstanden sei. "Die Debatte, wie wir mit der Early-Career-Phase umgehen wollen, wurde befördert. Klar hätten wir uns gewünscht, dass all das stärker auf die Bundesgesetzgebung ausgestrahlt hätte, in Form einer Länderöffnungsklausel zum Beispiel. Aber wir müssen uns den Realitäten stellen."

Das GEW-Vorstandsmitglied Andreas Keller forderte Bundestag und Bundesregierung auf, rasch Konsequenzen aus der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zu ziehen. "Der Ball liegt jetzt beim Bund. Dieser hat es in der Hand, auf Basis einer wasserdichten bundesgesetzlichen Regelung die Weichen für Dauerstellen für Daueraufgaben in Hochschule und Forschung zu stellen." Es sei bedauerlich, dass Karlsruheden Ländern enge Grenzen setze, was die überfällige Reform der Karrierewege und Verbesserung der Beschäftigungsbedingungen in der Wissenschaft angehe. „Der Entscheidung liegt ein fragwürdiges Verständnis der Wissenschaftsfreiheit zu Grunde. Nicht nur die Hochschulen als Arbeitgeber tragen zur Wissenschaftsfreiheit bei, sondern auch und vor allem die Forschenden und Lehrenden selbst, die unter Zeitverträgen leiden." 

Reinhard Flogaus, Mitglied im Akademischen Senat der Humboldt-Universität, sagt, er gehöre "nicht zu denen, die sich anmaßen, das Gericht für sein Urteil zu kritisieren. Es gab unterschiedliche juristische Meinungen, und es gab auch Verfassungsjuristen, die durchaus der Meinung waren, dass die Berliner Regelung mit dem Grundgesetz und dem Bundesrecht, insbesondere dem WissZeitVG vereinbar sei. Nun haben die Verfassungsrichter anders entschieden, und wir sollten diese Entscheidung respektieren." Bemerkenswert sei jedoch die Tatsache, "dass die Richter in ihrem Urteil zugleich erklärt haben, dass der Landesgesetzgeber durchaus rechtskonforme Regelungen für attraktive Beschäftigungspositionen an den Universitäten schaffen könne." Die in der Novelle des Berliner Hochschulgesetzes vorgesehene "Lecturer“-Position stelle allerdings keine Verbesserung gegenüber den bisher schon existierenden unbefristeten WiMi-Dauerstellen dar.

Die Mitinitiatorin von "#IchbinHanna", Amrei Bahr, reagierte auf den Verfassungsgericht-Beschluss mit einem langen Post auf "BlueSky". Unter der Überschrift "Klarstellung" unterstreicht Bahr, für die Feststellung der Verfassungswidrigkeit habe den Richtern schon die Feststellung gebrochenen Bundesrechts gereicht. Daher hätten sie gar nicht mehr geprüft, inwiefern die Anschlusszusage-Regelung tatsächlich die Wissenschaftsfreiheit der Hochschulen verletze. Insofern gelte: "Aus dem Urteil geht NICHT hervor, dass Anschlusszusage-Regelungen die Wissenschaftsfreiheit verletzen! Entsprechende Schlüsse lassen sich also auch mit Blick aufs #WissZeitVG & dessen Reform mitnichten aus diesem Urteil ziehen." 

Nur sagt der Beschluss eben auch nicht das Gegenteil, also dass keine Verletzung der Wissenschaftsfreiheit vorliegt. Und die Richter verwenden auffällig viel Energie darauf, die Wissenschaftsfreiheit auch als Grundrecht der Institution Hochschule als Arbeitgeber anzuwenden – in das die Berliner Regelung eingreife. Die Botschaft: Es müsste schon ein, wie Kunst es ausdrückt, "ein anderes, überragendes, verfassungsrechtlich geschütztes Rechtsgut" sein, das in der (im Entscheid nicht vorgenommenen) Abwägung den besagten Eingriff, der allein durch den Bund möglich wäre, rechtfertigte. Genau über dieses mögliche Rechtsgut aber äußern sich die Richter im Gegenteil zu ihren ausführlichen Erläuterungen zur Wissenschaftsfreiheit der Hochschulen nicht.

Es wird also spannend, wie die politische Diskussion weitergeht. Der Bund könne auch nach dem Urteil "entsprechende Regelungen" treffen, bekräftigte Kristin Eichhorn, eine weitere Initiatorin von "#IchbinHanna", ebenfalls auf "BlueSky". "Ihn da aus der Verantwortung zu entlassen, kann nicht der Weg sein – schon gar nicht unter Berufung auf etwas, was gar nicht eigens Bestandteil des heutigen Urteils war."

Politisch jedoch dürfte auch für Bund den die ohnehin hohe wissenschaftspolitische Schwelle, sich an eine gesetzlich verpflichtende Entfristungsregelung für Postdocs heranzutrauen, durch die Entscheidung weiter gestiegen sein. Was ihn von einer klugen Reform des Wissenschaftszeitvertragsgesetzes nicht entbindet. Die Länder entbindet der Karlsruher Beschluss ebenfalls in keiner Weise davon, die Arbeitsbedingungen des wissenschaftlichen Nachwuchses zu verbessern – etwa durch die explizite Finanzierung von mehr Dauerstellen oder durch transparente, qualitätsgesicherte Tenure-Modelle. Jetzt ist Fantasie und Mut gefragt.

Dieser Artikel wurde am 10. Juli 2025 um 19.30 Uhr in den letzten Absätzen um weitere Ausführungen ergänzt.

Kommentare

#1 -

Martin Dust | Do., 10.07.2025 - 18:58

Da irrt Frau Amrei Bahr. Auch der Bundesgesetzgeber kann nicht aus politischen Gründen die Wissenschaftsfreiheit durch Gesetz einschränken.

Das GG sieht keinen ausdrücklichen Schrankenvorbehalt für die Wissenschaftsfreiheit vor. Gleichwohl gilt Art. 5 Abs. 3 S. 1 zwar nicht schrankenlos. Schranken ergeben sich aus anderen verfassungsrechtlich geschützten Rechtsgütern. Kollisionen mit diesen Rechtsgütern müssen nach Maßgabe der grundgesetzlichen Wertordnung und unter Berücksichtigung der Einheit dieses Wertsystems durch Verfassungsauslegung gelöst werden. Erforderlich ist eine Abwägung am Maßstab des Verhältnismäßigkeitsprinzips, um im Sinne praktischer Konkordanz beide Freiheitsrechte mit dem Ziel der Optimierung zu einem angemessenen Ausgleich zu bringen. Wegen des Verfassungsrangs der Wissenschaftsfreiheit verbietet es sich, im Rahmen dieser Abwägung politische Überlegungen anzustellen oder nicht ausdrücklich durch die Verfassung geschützte Rechte heranzuziehen. [1]


 


[1] Auszugsweise zitiert nach Kempen/Rossa, BeckOK Grundgesetz, Epping/Hillgruber Rn. 199 zu Art. 5 GG

#2 -

Martin Dust | Do., 10.07.2025 - 18:58

Da irrt Frau Amrei Bahr. Auch der Bundesgesetzgeber kann nicht aus politischen Gründen die Wissenschaftsfreiheit durch Gesetz einschränken.

Das GG sieht keinen ausdrücklichen Schrankenvorbehalt für die Wissenschaftsfreiheit vor. Gleichwohl gilt Art. 5 Abs. 3 S. 1 zwar nicht schrankenlos. Schranken ergeben sich aus anderen verfassungsrechtlich geschützten Rechtsgütern. Kollisionen mit diesen Rechtsgütern müssen nach Maßgabe der grundgesetzlichen Wertordnung und unter Berücksichtigung der Einheit dieses Wertsystems durch Verfassungsauslegung gelöst werden. Erforderlich ist eine Abwägung am Maßstab des Verhältnismäßigkeitsprinzips, um im Sinne praktischer Konkordanz beide Freiheitsrechte mit dem Ziel der Optimierung zu einem angemessenen Ausgleich zu bringen. Wegen des Verfassungsrangs der Wissenschaftsfreiheit verbietet es sich, im Rahmen dieser Abwägung politische Überlegungen anzustellen oder nicht ausdrücklich durch die Verfassung geschützte Rechte heranzuziehen. [1]


 


[1] Auszugsweise zitiert nach Kempen/Rossa, BeckOK Grundgesetz, Epping/Hillgruber Rn. 199 zu Art. 5 GG

#3 -

Dr. Simon Pschorr | Do., 10.07.2025 - 21:56

Sehr geehrter Herr Dust,

zwar trifft es zu, dass Art. 5 Abs. 3 S. 1 GG ein schrankenlos gewährleistetes Grundrecht garantiert und also nur aufgrund kollidierenden Verfassungsrechts beschränkt werden kann. Eine Einschränkung aus "politischen" Gründen ist allerdings bei keinem Grundrecht möglich und deshalb keine Besonderheit der hiesigen Gewährleistung. In jedem Fall ist ein legitimes (Regelungs-)Ziel erforderlich, im Falle schrankenlos gewährleisteter Grundrechte eben ein verfassungsrechtlich geschütztes Ziel. Nun sollte man nicht vorschnell Eingriffe in die Wissenschaftsfreiheit für unmöglich erklären, besonders nicht, wenn es um Beschäftigungsbedingungen von Wissenschaftler*innen geht. Diese sind nämlich selbst Grundrechtsträger*innen. Ihre Rechtsposition steht mithin den Rechten der Universität als Ganzes gegenüber, wobei die Wissenschaftsfreiheit der Universität richtigerweise ein aggregierter Status der Rechte der Mitglieder darstellt. Wie bereits an anderer Stelle dargelegt (https://www.juwiss.de/19-2023/) können Normen zur Abwägung zwischen Wissenschaftsfreiheit der Universität und den Beschäftigteninteressen erlassen werden. Das ist gerade die Funktion von Arbeitsrecht: Ausgleich zwischen zwei Grundrechtspositionen. Deshalb ist der Bundesgesetzgeber zur Regelung aufgerufen - und sollte tunlichst vermeiden, neuerlich die Lasten so einseitig zu verteilen wie jetzt.

Mit freundlichen Grüßen

Dr. Simon Pschorr

#4 -

Reinhard Flogaus | Fr., 11.07.2025 - 11:14

Zur Aussage von Frau Bahr, 

“Aus dem Urteil geht NICHT hervor, dass Anschlusszusage-Regelungen die Wissenschaftsfreiheit verletzen! Entsprechende Schlüsse lassen sich also auch mit Blick aufs #WissZeitVG & dessen Reform mitnichten aus diesem Urteil ziehen”,

ist festzuhalten, dass das BVerfG in RN 22f des Urteils ausdrücklich die Berliner Regelung als Verletzung der Wissenschaftsfreiheit einstuft. Dort heißt es: 

“Ausgehend hiervon greift die gesetzliche Pflicht, allen zur Qualifizierung befristet eingestellten promovierten wissenschaftlichen Mitarbeitern eine auf eine Dauerbeschäftigung gerichtete Anschlusszusage zu erteilen, in die Wissenschaftsfreiheit ein. Sie nimmt den Hochschulen die Möglichkeit, eigenverantwortlich zu entscheiden, ob und welche promovierten wissenschaftlichen Mitarbeiter sie nach erfolgreichem Abschluss der Qualifikationsphase weiter beschäftigen. Sie müssen vielmehr alle wissenschaftlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter dauerhaft übernehmen, die dies möchten. Dies verkürzt unmittelbar die Freiheit der Hochschulen zur Auswahl des wissenschaftlichen Personals mit nachteiligen Folgen etwa für die Förderung des akademischen Nachwuchses, welche die Möglichkeit zur generellen Befristung der Beschäftigungsverhältnisse des wissenschaftlichen Personals auf Qualifikationsstellen erfordert (vgl. BVerfGE 94, 268 <286>).

Der Eingriff in das Grundrecht der Beschwerdeführerin auf Wissenschaftsfreiheit ist verfassungsrechtlich nicht gerechtfertigt.”

Zugleich  wird aber in RN 36 ausdrücklich darauf hingewiesen, dass der Landesgesetzgeber auch Regelungen für eine neue Personalkategorie im Mittelbau schaffen könnte, bei denen in einem qualitätsgesicherten und bedarfsorientierten  Tenure-Track-Verfahren das Personal ausgewählt wird, da ein solches Verfahren nicht dem Arbeitsrecht, sondern dem Hochschulrecht zuzuordnen sei. 

Diesen Weg sollten die Hochschulen jetzt gehen!

#5 -

Henner Siedel | So., 13.07.2025 - 11:44

Die Entscheidung war vorhersehbar, ist rechtlich gut vertretbar und hat sicherlich auch etwas mit dem Hintergrund der Beschäftigten am BVerfG zu tun. Was mich interessiert wäre die Frage, ob jemals geprüft wurde, ob das spezielle Befristungsregime des WissZeitVG das jenseits des übrigen Arbeitsrechtes gilt selbst mit Artikel 3 in Einklang steht. Es gibt dazu eine Entscheidung aus Karlsruhe von der Einführung des Gesetzes. Aber die Frage stellt sich weiterhin nach der Vergleichbarkeit. Warum unterscheidet sich die Beschäftigung in der Wissenschaft bis zur Berufung so wesentlich vom Rest der Verwaltung, dass man hier so ein starkes Sonderrecht schaffen muss? Die Bestenauslese? Das Funktionieren der Wissenschaft? Es gibt dazu schon Erkenntnisse aus anderen Ländern bzw. des WD im BT. 

#5.1 -

Kaktus | Di., 05.08.2025 - 13:12

Antwort auf von Henner Siedel (nicht überprüft)

Ich spekuliere:  Professoren brauchen günstige Arbeitskräfte. Jeder Wissenschaftler unterschreibt im Vertrag ein Tätigkeitsprofil. Das lässt sich nicht so einfach ändern. Will ein Professor seine Forschungsrichtung spontan ändern, muss er vermeintlich neue Leute haben, die ggf schon Erfahrung auf dem Gebiet haben. Die kurzen Zeitverträge erlauben keine Neuorientierung, das kostet zu viel Zeit. Also lieber schnell Mitarbeiter austauschen. Wer freut sich nicht, wenn er für weniger Geld gut ausgebildete Leute findet? 
Wer erreicht schon ohne Festanstellung Stufe 6 in einer Entgeldkategorie, wenn man jeden Postdoc mit 13.1 anfangen lassen kann? 

Postdocs sollten in Zukunft nein zu Professoren sagen, die sie ausnutzen wollen. Man kann den Inhalt der Stelle vorher verhandeln. Wenn ein Professor dies ablehnt, weiß man direkt woran man ist. 

Aktuell sieht man ebenfalls:  Je schlechter die Perspektive auf einer Stelle/bei einem Prof/in einer Organisation, desto mehr Ausländer aus bestimmten Ländern sind in der Gruppe. Leider wissen Ausländer zu wenig über die Herausforderungen im deutschen Wissenschaftssystem.

#5.2 -

Kaktus | Di., 05.08.2025 - 13:21

Antwort auf von Henner Siedel (nicht überprüft)

Ich würde ebenfalls gerne wissen, welche rechtliche Begründung es gibt für:
1. Warum sind Professoren sind nicht befristet beschäftigt? Jeder Wissenschaftler sollte doch die Möglichkeit habe, einmal als Professor zu arbeiten. Das Verstopfungsargument stoppt seltsamerweise genau hier. 
2. Wie Henner Siedel schon angemerkt hat, warum gibt es diese Ungleichbehandlung zwischen Verwaltungsmitarbeitern und Wissenschaftlern? Wissenschaftler ist ein Beruf wie jeder andere, auch in der Industrie. 

Die Wissenschaftsfreiheit in ihrer jetzigen Form fördert Machtmissbrauch. Es ist offensichtlich, dass einige Professoren ihre einseitigen Vorteile nicht aufgeben wollen.
Am Ende wird die deutsche Wissenschaft drunter leiden. Auch in der Industrie kann man forschen und bekommt mehr Geld. 

#6 -

Bert A. Nisch  | So., 13.07.2025 - 13:41

Ich bin unsicher, ob die neue Bundesregierung wirklich etwas relevantes an den bestehenden Regelungen ändern möchte. Zumindest im Bereich der Postdocs müsste es voran gehen, vielleicht wird das der kleinste Nenner, auf den sich die Koalition einigen kann. Diskutiert wurde schon sehr viel und besonders hervorzuheben sind zwei Stellungnahmen der wissenschaftlichen Dienste des Bundestags, die sich mit einer Befristungsquote befasst haben, aber auch mit der Begründung des WissZeitVG schlechthin, die seit 30 Jahren nicht mehr hinterfragt wurde. Sehr zu empfehlen! 
https://www.bundestag.de/resource/blob/911754/c37e79b4ab0b84337740862b5cf95573/WD-8-061-22-pdf-data.pdf

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